IGES-Gutachten zur KFO

Studienlage ungenügend

„Zweifel am Nutzen von kieferorthopädischen Behandlungen“ – so oder ähnlich lautete bei verschiedenen Medien der vorschnelle und falsche Tenor zur Studie des IGES Instituts über die Wirksamkeit der Kieferorthopädie (KFO). Dabei hält das Gutachten die KFO für nicht ausreichend erforscht, um Schlüsse ziehen zu können. Was wirklich drin steht.

Eingangs des Gutachtens vom November 2018 definiert das IGES Institut seinen vom Bundesrechnungshof angeregten und vom Bundesgesundheitsministerium vergebenen Auftrag. Demnach sei zu prüfen, „ob eine ausreichende wissenschaftliche Grundlage zum medizinischen Nutzen und der Wirtschaftlichkeit der kieferorthopädischen Versorgung besteht“. Daraus entwickeln die Autoren Anja Hoffmann, Simon Krupka, Cornelia Seidlitz, Stephanie Sussmann, Inga Sander und Dr. Holger Gothe drei Fragen:

  • Welche langfristigen Auswirkungen haben die wichtigsten kieferorthopädischen Behandlungen auf die Mundgesundheit?

  • Wie hoch sind die Finanzausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung und der Selbstzahler für KFO-Leistungen?

  • Wo muss wie lange weiter geforscht werden, um die Evidenz / den Nutzen von KFO-Behandlungen festzustellen?

Auswirkungen auf die Mundgesundheit

Mit Blick auf die kieferorthopädische Diagnostik wurden von IGES die fünf am häufigsten in Deutschland abgerechneten Interventionen untersucht, „die 80 Prozent aller kieferorthopädischen Leistungen bei GKV-Versicherten ausmachen“. Dies sind: 

  • Fotografie, Profil- oder En-face-Fotografie (BEMA-Position 116) 

  • Abformung, Bissnahme in habitueller Okklusion für das Erstellen von dreidimensional orientierten Modellen des Ober- und Unterkiefers (BEMA-Position 7a) 

  • Teilaufnahme des Schädels, Panorama-(schicht)aufnahme (BEMA-Position Ä 935) 

  • Kephalometrische Auswertung (BEMA-Position 118) 

  • Aufnahme des Schädels (auch Fernröntgenaufnahme) (BEMA-Position Ä 934).

Hierzu wurden laut Studie neun diagnostische kieferorthopädische Untersuchungen ausgewertet. Darunter waren etwa Arbeiten von Han et al. als älteste Studie (1991), Bjeklin et al. (2006) als zeitmittige Studie und Manosudprasit et al. (2017) als neueste Studie. Fazit: Die Studien waren sowohl bei den evaluierten Methoden als auch bei der Studiendurchführung „äußerst heterogen“. Daher könnten „keine Empfehlungen für oder gegen die Anwendung einzelner diagnostischer Maßnahmen ausgesprochen werden.“

Die Genese des Gutachtens

Es war der Bundesrechnungshof, der die Meta-Untersuchung anregte. Das Kontrollgremium hatte im April 2018 in seinem Jahresbericht 2017 die aus seiner Sicht zu hohen Kosten für kieferorthopädische Behandlungen moniert. Dabei hielten die Prüfer dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) vor, weder das BMG noch die Krankenkassen hätten „vertiefte Kenntnisse über die kieferorthopädische Versorgungslage und -notwendigkeit“. Damit seien Ziel und Erfolg von GKV-Ausgaben in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro pro Jahr „nicht bekannt“. 

Zur Erklärung: Insgesamt 1,103 Milliarden Euro betrugen die GKV-Ausgaben für kieferorthopädische Behandlungen im Jahr 2016, das war der höchste Wert seit 2003. Dieser „Missstand“, höhere Ausgaben bei (in den Augen der Prüfer) unzureichender Evidenz der Behandlungen, bestehe „seit Jahren“. Das BMG solle „Evaluierungen anstoßen“ und auf der „Zusammenführung vorhandener und neu erhobener Daten“ bestehen. Das BMG dürfe nicht länger untätig bleiben und auf die Akteure der Selbstverwaltung hoffen. In der Folge vergab das BMG den Auftrag für das Gutachten an das IGES Institut in Berlin.

Die therapeutischen Maßnahmen wurden von IGES nach Nutzenerwägungen für die Patienten bewertet. Dabei standen insbesondere die Morbidität und die gesundheitsbezogene orale Lebensqualität im Vordergrund. Hierzu wurden 18 Studien einbezogen unter anderem Untersuchungen von Tulloch et al. (1998 und 2004) sowie Penning et al. (2017). Ergebnis: Es „konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen verschiedenen kieferorthopädischen Apparaturen oder kieferorthopädischen Behandlungsschemata vs. Nichtbehandlung gefunden werden“. Zwar hätten die Studien langfristige patientenrelevante Endpunkte wie Zahnverlust, Zahnlockerung und Schmerz ausgeschlossen, allerdings sei zu konstatieren, dass generell „für Patienten mit kieferorthopädischer Behandlung von einer hohen oralen Lebensqualität berichtet wird“.

Als Fazit zeige sich auch bei den Therapie-Studien eine hohe Heterogenität bezüglich Studienmethodik, Studiendesign und untersuchten Indikationen. Zudem würden sie sich in den angewandten Interventionen sowie bei den Beobachtungszeiträumen unterscheiden. Daher lasse sich auch hier „keine abschließende Einschätzung vornehmen, ob und welche langfristigen Auswirkungen die angewendeten kieferorthopädischen Therapieregime auf die Mundgesundheit haben“. Dies sei auch darauf zurückzuführen, dass morbiditätsrelevante Endpunkte wie Zahnverlust, Karies oder Parodontitis und Parodontose erst mehrere Jahre nach der Behandlung auftreten „und somit sehr lange Beobachtungszeiten erfordern“.

Ausgabenanalyse

Zur Ausgabenanalyse zog IGES nach Eigenangaben zehn Statistiken und Analysen von verschiedenen Akteuren des Gesundheitswesens sowie eine retrospektive Beobachtungsstudie ein. Das Spektrum reicht von den Jahrbüchern der KZBV aus den Jahren 2014 bis 2017 über eine Untersuchung von Bremen et al. (2017) bis zum Barmer Zahnreport 2018.

Daraus gehe hervor, dass die Kosten, die für die GKV im Rahmen der KFO anfallen, kontinuierlich angestiegen seien und für das Jahr 2017 mit 1.115 Millionen Euro einen neuen Höchststand erreicht hätten. Dies sei vor allem auf eine erhöhte Anzahl an Behandlungsfällen zurückzuführen. Im Detail würden die Ausgaben zum Großteil durch Honorare oder Material- und Laborkosten verursacht, die zusammen für mehr als 90 Prozent der Ausgaben ursächlich seien.

Auf Basis der verfügbaren Daten allerdings sei „kein Rückschluss auf die genauen durchschnittlichen Kosten pro Fall und somit auch keine Beurteilung möglich, ob die derzeitige kieferorthopädische Versorgung den gesetzlichen Ansprüchen an eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung gerecht wird“. Sinnvoll erachtet das IGES hier weitere umfassendere Analysen der Abrechnungsdaten, um das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Behandlungen bewerten zu können. Weiterhin müssten auch die Eigenbeteiligungen der Versicherten bei KFO-Behandlungen näher untersucht werden, denn bislang seien die Notwendigkeit und die Art dieser Zusatzleistungen und deren Umfang „nicht hinreichend wissenschaftlich untersucht“, so das Gutachten. 

Forschungsbedarf

Doch auch in anderen Bereichen sehen die Autoren weiteren Forschungsbedarf. Weil die meisten der untersuchten Studien darauf hinwiesen, dass Anzahl und Art der zu ergreifenden diagnostischen Methoden von der Art und dem Ausmaß der Malokklusion abhängig seien, sei es sinnvoll „zukünftig zu untersuchen, bei welchen Subpopulationen welche kieferorthopädischen diagnostischen Untersuchungen notwendig sind, um eine ausreichende und zweckmäßige Behandlungsplanung durchführen zu können und unnötige Maßnahmen zu verhindern“. Die Autoren geben zu bedenken, dass sich der diagnostische Nutzen von KFO-Behandlungen meist erst nach einer geraumen Zeit zeigt. Daher müssten zukünftig „lang angelegte, qualitativ hochwertige Studien“ durchgeführt werden, um zu erforschen, „wie eine evidenzbasierte Ableitung von diagnostischen Maßnahmen in der Kieferorthopädie angelegt sein kann“.

Um die wissenschaftliche Studienlage zu verbessern, ist laut IGES „als Goldstandard grundsätzlich die Durchführung einer klinischen Studie in Form einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) mit einem langen Nachbeobachtungszeitraum notwendig“. Hierzu müsste man der Kontrollgruppe eine kieferorthopädische Versorgung vorenthalten. Da Parodontalerkrankungen und Zahnverluste gegebenenfalls erst nach Jahren oder Jahrzehnten auftreten, wäre ein langer Beobachtungszeitraum vonnöten. IGES: „Unter diesen Gesichtspunkten erscheint die Durchführung solcher Studien daher nicht realistisch.“

Daher rät das Institut zu kontrollierten, nicht randomisierten klinischen Studien ohne Vergleichspopulation, die die diagnostischen Maßnahmen, die darauf basierende Behandlungsplanung sowie die patientenrelevanten Endpunkte nach der Therapie erfassen. Jedoch bliebe auch hier das Problem der langen Beobachtungszeit. Dies jedoch sei unumgänglich, wenn harte klinische Endpunkte erfasst werden sollen. Auch eine retrospektive tiefergehendere Analyse der Abrechnungsdaten der deutschen Krankenkassen sei denkbar. Zudem wäre unter anderem die Erweiterung der Deutschen Mundgesundheitsstudie um detailliertere Angaben von KFO-Behandlungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eine weitere Option für das IGES.

Grundsätzlich existierten bei den KFO-Behandlungen „wenige nationale und internationale Leitlinien“, auch dies müsse sich ändern. So konnten in Bezug auf die therapeutischen kieferorthopädischen Maßnahmen keine Leitlinien identifiziert werden, die das Management der verschiedenen Malokklusionen thematisieren würden. Um dies zu beheben, sollten „die Standards der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften  (AWMF) als Grundlage dienen“.

sg

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.