Verlagerter Keramikstift im Oberkiefer
Eine 48-jährige Frau stellte sich in unserer Abteilung vor, nachdem ihr Zahnarzt im OPG einen Fremdkörper apikal der Alveole von Zahn 11 (Abbildung 1) diagnostiziert hatte. Das Röntgenbild wurde im Zuge einer angestrebten Implantatplanung in Regio 11 angefertigt. Bis dato war die Patientin mit einer Brücke von 12–21 in der Oberkieferfront versorgt, nachdem sie im Alter von neun Jahren Zahn 11 bei einem Sturz verloren hatte. Nach eigenen Angaben habe man damals versucht, den Zahn zu replantieren. Nach vorübergehendem Erfolg der Reinsertion des Zahns sei dieser nach einiger Zeit allerdings wieder verlustig gegangen. Es erfolgte die Versorgung mit einer provisorischen, später mit einer definitiven Brücke. Über den Vorgang der Replantation, die Verwendung eines Wurzelstifts oder den Verbleib des Stifts im Oberkiefer war der Patientin nichts bekannt. Im Zuge der Implantatplanung wurde ein DVT angefertigt, das den Verdacht eines Fremdkörpers, weit apikal der ursprünglichen Insertionslokalisation, bestätigte (Abbildungen 2 und 3).
Wir entfernten den Wurzelstift, der mit dem kranialen Anteil am Nasenboden lag, über einen senkrechten Schnitt parallel zum Lippenbändchen – auf Patientenwunsch in Intubationsnarkose (Abbildung 4). Das geborgene Präparat stellte sich als circa 15 mm langer Keramikstift dar (Abbildung 5).
Diskussion
Nach schweren Traumen wurzelreifer Zähne – wie Intrusionen oder Avulsionen – besteht stets die Indikation zur Wurzelkanalbehandlung [Andreasen & Vestergaard Pedersen, 1985]. Bei avulsierten Zähnen kommt es mitunter zu schweren Defekten im Zement sowie zu Zementoblastenschäden [Trope, 1992]. Die extraorale, retrograde endodontische Behandlung ist gegenüber der extraoralen, orthograden endodontischen Behandlung die zu bevorzugende Therapieoption. Hauptargument ist die weitgehend einfachere Durchführbarkeit. Bei der retrograden Füllung lässt sich der zu behandelnde Zahn besser fixieren und technisch sehr schwierig durchführbare Schritte, wie die laterale Kondensation, entfallen. Für die retrograde Stiftinsertion sprechen weiterhin ein deutlich geringerer Zeitaufwand sowie die zuverlässigere Entfernung von Pulpagewebe und pulpanahem Dentin, das den Auslöser für infektionsbedingte Wurzelresorptionen darstellt [Pohl et al., 2000]. Ohne eine Infektion hängt die Heilung von der Größe des geschädigten Areals sowie von den vorliegenden vitalen, parodontalen Zellpopulationen (Vorläuferzellen sowie ausgereifte Fibroblasten und Zementoblasten) ab, die in Konkurrenz zu den Osteoblasten stehen. Vor diesem Hintergrund kann es im Verlauf zu Ersatzresorptionen kommen.
Im vorliegenden Fall kam es nach retrograder, extraoraler Aufbereitung des Zahns und anschließender Stiftinsertion zur Ersatzresorption des Zahns mit Verbleib des Keramikstifts im Oberkieferknochen. Da die Patientin das Trauma im jungen Alter erlitt, unterlag die Maxilla in den folgenden Jahren dem physiologischen Knochenwachstum. Der verbliebene Stift folgte passiv dem Oberkieferwachstum und fand – mit dem kranialen Anteil – seine endgültige Lage im Bereich des Nasenbodens (Abbildung 6).
Der präsentierte, seltene Fall eines kranialisierten Wurzelstifts stellt eine Ausnahme dar, zeigt aber eindrücklich die Entwicklung des Oberkieferwachstums und die damit mögliche Verlagerung von belassenen Fremdkörpern in diesen Entwicklungsstadien. Die Therapieoption der extraoralen, retrograden Aufbereitung und Stiftinsertion avulsierter Zähne stellt trotzdem eine suffiziente und vergleichbar sichere Intervention dar. Neben den genannten Vorteilen ist sie der orthograden Behandlung, unter anderem auch vor dem Hintergrund ausbleibender Zahnverfärbungen [Ebelseder et al., 2000], bei der Behandlung von schweren Zahntraumen vorzuziehen.
Fazit für die Praxis
Nach endodontischer Therapie von unfallbedingter Avulsion von Zähnen stellt die retrograde Insertion von Stiften nach entsprechender Vorbehandlung des Zahns eine gute Behandlungsoption dar. Die Ersatzresorption des Zahns und der damit einhergehende Zahnverlust ist allerdings – auch bei optimaler Durchführung – nicht ausgeschlossen.
Bei Zahnverlust eines Stiftzahns sollte eine röntgenologische Kontrolle zum Ausschluss eines Fremdkörperverbleibs angefertigt werden.
Fremdkörper, die im Kiefer einer heranwachsenden Person belassen werden, können ihre ursprüngliche anatomische Lage verändern.
Dr. Nils Heim
Abteilung für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Bonn,
Direktor: Prof. Dr. Dr. F.-J. Kramer
Sigmund-Freud-Str. 25, 53127 Bonn
nils.heim@ukbonn.de
Dr. Dr. Valentin Wiedemeyer
Abteilung für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Bonn
Sigmund-Freud-Str. 25, 53127 Bonn
Dr. Dr. Andreas Schön
Abteilung für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Bonn
Sigmund-Freud-Str. 25, 53127 Bonn
Prof. Dr. Dr. Franz-Josef Kramer
Abteilung für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Bonn
Sigmund-Freud-Str. 25, 53127 Bonn
Literaturliste
1) Andreasen FM, Vestergaard Pedersen B. Prognosis of luxated permanent teeth – the development of pulp necrosis. Endod Dent Traumatol 1985;1:207-220.
2) Ebeleseder KA, Santler G, Glockner K, Hulla H, Pertl C, Quehenberger F. An analysis of 58 traumatically intruded and surgically extruded permanent teeth. Endod Dent Traumatol 2000;16:34-39
3) Kirschner H, Pohl Y, Filippi A, Ebeleseder K. Unfallverletzungen der Zähne. Schlütersche, Hannover 2002
4) Moss ML, Salentijn L. The primary role of functional matrices in facial growth. 1969;55(6):566-577
5) Pohl Y, Filippi A, Tekin U, Kirschner H. Periodontal healing after intentional auto-alloplastic reimplantation of injured immature upper front teeth. J Clin Periodontol 2000;27:198-204
6) Trope L. Root resorption of dental and traumatic origin: classification based of etiology. Pract Periodontics Aesthet Dent 1998;10:515-522