Fallreport aus dem British Medical Journal

35 Jahre Migräne – vom Zahnarzt geheilt

Kathrin Schlüßler
Ein Mann litt 35 Jahre an schwerer chronischer Migräne. Wiederholte Untersuchungen ergaben keine Diagnose, auch hohe Dosen verschiedener Analgetika erbrachten keine Besserung. Erst eine radiologische Untersuchung zeigte die Ursache.

Ein 64-jähriger Mann suchte in den vergangenen 35 Jahren eine Reihe von Ärzten und die neurologische Ambulanz eines Krankenhauses wegen schwerer chronischer Migräne auf. Er reagierte nicht angemessen auf verschiedene Analgetika. Während dieser Zeit wurden ihm mehrere Zähne extrahiert und restauriert – ohne Linderung seiner Kopfschmerzen. Diese blieben trotz Kombinationsmedikation von dreimal täglich orales Paracetamol 250 mg, Aspirin 250 mg und Koffein 65 mg weiterhin bestehen. Zuletzt nahm er dreimal täglich 60 mg Codeinphosphat-Hemihydrat und 1 g Paracetamol ohne angemessene Reaktion ein.

Daraufhin wurden mehrere Zähne mit Wurzelkanalverfahren und Restaurationen behandelt. Die Kopfschmerzen traten jedoch häufiger und schlimmer auf, bis er drei bis fünf Episoden pro Woche hatte. Die Attacken begannen morgens oder abends und dauerten ein bis drei Tage, insbesondere wenn keine Analgetika eingesetzt wurden.

Die Schmerzen begannen gewöhnlich allmählich bilateral in den Schläfenregionen und strahlten jeweils in die Frontal- und Parietalregionen aus und waren immer auf der rechten Seite stärker. Zusätzliche begleitende autonome Symptome wie eine Bindehautinjektion, Tränenfluss, verstopfte Nase, Rhinorrhoe oder Schweiß auf Stirn und Gesicht traten nicht auf.

Das Kopfschmerzmuster erfüllte die vier diagnostischen Kriterien für chronischen Migränekopfschmerz gemäß der Internationalen Klassifikation für Kopfschmerzerkrankungen 3. Auflage (ICHD-3).

Angenommen wurde, dass der Patient zu Beginn an Migräne litt, die durch Sumatriptan gelindert wurde. Im Verlauf der Therapie musste dieses Medikament aufgrund von starkem Schwindel beim Patienten jedoch abgesetzt werden.

Die vorbestehenden primären Kopfschmerzen dauerten mehrere Jahre. Die Häufigkeit und die Schwere der Kopfschmerzen nahmen in enger zeitlicher Beziehung zu den Manifestationen von Zahnpathologien zu. Die Kopfschmerzen besserten sich zwar nach jedem zahnärztlichen Eingriff signifikant, hielten aber an. Diese Befunde deuteten auf das Vorhandensein eines assoziierten sekundären Kopfschmerzes hin. Nach der Analyse erfüllte der Patient auch die allgemeinen diagnostischen Kriterien für sekundäre Kopfschmerzen.

Untersuchung

Bei der abschließenden Untersuchung ergab die Kontrolle des Mundes zunächst keinerlei Anzeichen auf Zahnfleisch- oder andere orale Erkrankungen oder Tumore. Die Zähne wiesen umfangreiche Restaurationen auf; eine Perkussion der Zähne erzeugte keine „Triggerzonen von Schmerz oder Reaktion“. Der Schädelschmerz wurde durch eine passive oder unterstützte Kieferbewegung, -funktion oder -parafunktion nicht verändert. Es gab keine Familienanamnese einer Kiefergelenkserkrankung.

Weitere relevante Befunde wurden nicht gefunden. Schließlich wurde bei dem Patienten chronischer Migränekopfschmerz ohne Aura (1.3 ICHD-3) diagnostiziert, der durch multiple orale Gesichtspathologien (11.9 ICHD-3), die das Trigeminusnervensystem betrafen, anhaltend verlängert wurde.

Der Kieferchirurg des Patienten wurde informiert, und nach körperlichen und radiologischen Untersuchungen stellte er zwei Abszesse fest. Der obere rechte dritte Molar und der untere rechte zweite Molar, die mit den Abszessen assoziiert waren, wurden chirurgisch extrahiert.

Die Antibiotikatherapie wurde mit 875 mg Amoxicillin und 125 mg Clavulanat-Kalium zehn Tage lang zweimal täglich oral abgeschlossen. Seine parodontale Gesundheit wurde durch supra-/subgingivale Skalierung und Mundhygiene verbessert. Die Kopfschmerzen besserten sich allmählich und gegenwärtig, 24 Monate später, ist der Patient schmerzfrei, ohne Analgetika oder Rezidive.

Differenzialdiagnose

Die Bewertung der Kopfschmerzen erfolgte gemäß ICHD-3.1. Alle Unterschiede wurden ausgeschlossen und bei dem Patienten wurden chronische Migränekopfschmerzen (1.3 ICHD-3) und multiple Zahnpathologien (11.6 ICHD-3) diagnostiziert, die chronische Schmerzen verursachten – seit 35 Jahren.

Behandlung

Die Behandlungen umfassten die chirurgische Entfernung nekrotischer Zähne mit Zahnabszessen. Die Wiederherstellung kariöser Zähne mit Amalgam/Komposit und die Wurzelkanalbehandlungen wurden auf Erfolg und parodontale Versorgung untersucht. Die Antibiotika- und Analgetika-Therapie wurde entsprechend und erfolgreich verabreicht.

Ergebnis und Follow-up

Der Patient erholte sich nach der Operation stetig und wurde schließlich aus der Neurologie und Zahnklinik entlassen. Er war völlig frei von Kopfschmerzen. 24 Monate später hatte sich seine Lebensqualität nach eigener Aussage deutlich verbessert.

Diskussion

Kopfschmerzen und Zahnschmerzen werden vom selben Nerv übertragen, dem Trigeminusnerv. Es ist ein wohlbekanntes Phänomen, dass eine Migräne in V2- und V3-Verteilungen des Trigeminusnervs auftreten kann und Zahnschmerzen imitiert, aber es gibt selten Berichte über Zahnschmerzen, die sich als Kopfschmerzen präsentieren. Ein weiteres bekanntes Phänomen ist, dass jede schmerzhafte Verletzung des Territoriums der Trigeminusnerven Kopfschmerzen bei Patienten hervorrufen kann, die anfällig für Kopfschmerzen sind.

Multiple orale Zahnpathologien gehören zu den nozizeptiven Beschwerden, die die primären und die sekundären Trigeminus-Afferenzen betreffen. Chronische Abszesse verursachen lokale Entzündungsprozesse, nekrotisches Gewebe, die Freisetzung von Schmerzmediatoren und eine lokale Gewebehypoxie.

Diese Abnormalitäten können das trigemino-vaskuläre System mit anschließender Aufrechterhaltung der neurovaskulären Überempfindlichkeit beeinflussen. Mit diesem hypersensiblen Zustand entwickelt sich die episodische Migräne schließlich zu einer chronischen Migräne, die durch die chronischen oralen Erkrankungen verschlimmert und zeitlich verlängert werden kann.

Erst nachdem die oralen Erkrankungen vollständig abgeklungen waren, wurde beim beschriebenen Patienten der therapeutische Ansatz gegen die chronische Migräne wirksam. Dies kann ein Beleg für das Vorhandensein einer Sensibilisierung des trigemino-vaskulären Systems bei dem Patienten sein.

Fazit

Die Diagnose Schädelschmerzen erforderte einen multidisziplinären Ansatz durch die Zusammenarbeit von Zahnarzt und Neurologe. Mediziner sollten den Forschern zufolge orale Pathologien als Ursache oder als erschwerende Faktoren für Kopfschmerzen stärker in Betracht ziehen. Zudem sei notwendig, dass Zahnärzte, Oral- und Kieferchirurgen bei ihrer Arbeit über den Bereich des Mundes hinausgehen und auch das Vorhandensein von Kopfschmerzen bei ihren Patienten erfragen. Die Patienten sollten in diesem Fall zur weiteren Beurteilung und Behandlung an eine neurologische Klinik überwiesen werden.

Quelle: A. J. Reyes, K. Ramcharan, R. Maharaj: Chronic migraine headache and multiple dental pathologies causing cranial pain for 35 years: the neurodental nexus. Published in British Medical Journal, BMJ case reports. DOI:10.1136/bcr-2019-230248

Kopfschmerzen und orale Erkrankungen

Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten Erkrankungen des Nervensystems. In Deutschland sind knapp 40 Prozent der Erwachsenen mehrmals im Monat betroffen. Drei Viertel der 18- bis 29-Jährigen leiden mindestens einmal im Monat unter Kopfschmerzen. Viele Patienten werden häufig chronisch, ineffektiv und empirisch behandelt, weil die Ursache ihrer Symptome nicht aufgedeckt wird.

Bei der Ätiopathogenese von Schädelschmerzen fällt der Verdacht selten auf okkulte orale Pathologien. So können Hohlräume, Knochenschwund aufgrund von Parodontitis, Abszesse, betroffene Zähne, Zysten und Tumore über einen längeren Zeitraum unbemerkt bleiben und Schmerzen verursachen, die nicht unmittelbar auf eine orale Pathologie schließen lassen. Auch eine chronische Infektion der Pulpa durch schwach virulente pyogene Organismen kann sehr langsam zu Gewebeveränderungen führen, die über einen längeren Zeitraum nicht bemerkbar sind.

Der Fall zeigt, dass diese Zusammenhänge hier über 35 Jahre übersehen wurden. Mit der Veröffentlichung der Fallstudie möchten die Autoren an den möglichen Zusammenhang von Kopfschmerzen und oralen Erkrankungen erinnern.

Kathrin Schlüßler


Redaktion Zahnärztliche Mitteilungen
Behrenstr. 42
10117 Berlin
www.zm-online.de

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