Aus der Wissenschaft

Der Traum vom Züchten eines Zahns

Kerstin Albrecht
Schon seit Längerem versuchen Forscher zu verstehen, wie sich verschiedene Hartgewebe, Nerven, Blutgefäße und Bindegewebe zu einem Organsystem formieren, das wir als „Zahn“ kennen. Als Modell für diese Frage eignet sich der Schneidezahn der Maus besonders gut. Weil der Nager diesen ständig abnutzt, wächst er lebenslang nach. Das macht ihn für die Wissenschaft so interessant.

Obwohl der Mausschneidezahn schon oft Gegenstand von Zelldifferenzierungsstudien war, sind wichtige Fragen zu den Stammzellen im Zahngewebe, zu deren Differenzierung und zu den dynamischen Prozessen bei der steten Neubildung von Zahnhart- und -weichgeweben bislang unbeantwortet geblieben. Forscher des Karolinska Instituts, Stockholm, der Medizinischen Universität Wien und der Harvard University in den USA verfolgten nun die Mechanismen der natürlichen Zahnentwicklung und konnten dabei Differenzierungswege von Zahnvorläuferzellen nachvollziehen.

Zunächst wurden unterschiedliche Gewebe aus dem Schneidezahn einer erwachsenen Maus isoliert, um darin die Differenzierungswege von verschiedenen Zelltypen zu erforschen. Die Forscher fanden 17 Hauptzelltypen und Subpopulationen im Epithel-, Immun- und mesenchymalen Gewebe. Diese Zellpopulationen untersuchten sie mit der Einzelzell-RNA-Sequenzierungsmethode (single-cell RNA sequencing method) und genetischen Verfolgungstechniken (genetic tracing).

Von Mäusen und Menschen

Im Epithelgewebe des Mauszahns fanden sie sowohl reife, schmelzerzeugende Ameloblasten als auch einen heterogenen Pool von Stamm- und Vorläuferzellen. Die Ausdifferenzierung von Ameloblasten geht über das Präameloblastenstadium ins Sekretionsstadium, in dem der Schmelz gebildet wird. Die Ameloblasten durchlaufen weiter eine Reifungsphase, in der das erste Schmelzgerüst mineralisiert. Innerhalb der anschließenden Nachreifungsphase nimmt das Schmelzepithel schließlich ab und die Schmelzproduktion wird abgeschlossen. Die Ameloblasten differenzieren sich also vom Präameloblasten- über das Sekretionsstadium und weiter über das Reifungs- zum Nachreifungsstadium.

Zellen des Mesenchyms in Zähnen bilden Zement, Dentin und pulpales Weichgewebe. Die Forscher fanden drei mesenchymale Zellpopulationen: Odontoblasten und zwei Typen von Pulpazellen – einer ist spezifisch im apikalen Pulpabereich lokalisiert, ein zweiter Subtyp differenzierte sich schrittweise zu weiter koronal gelegenen  Pulpazellen aus. Für die drei Subtypen scheint es einen gemeinsamen Vorläufer im Sinne einer Stammzelle zu geben. „Von Stammzellen bis zu vollständig differenzierten adulten Zellen konnten wir die Differenzierungswege von Odontoblasten und Ameloblasten entschlüsseln“, sagte der Seniorautor der Studie, Igor Adameyko vom Institut für Physiologie und Pharmakologie des Karolinska Instituts.

Die vorübergehenden und die terminalen Entwicklungsstadien von Zellen in einem sich ständig erneuernden Organ wie dem Mäuseschneidezahn sind sehr komplex. Die Nachverfolgung von Vorläuferzellen zu Ameloblasten ist in ihrer Gesamtheit noch nicht gelungen, denn es existiert eine große Vielfalt von Subtypen epithelialer Vorläuferzellen. Die Wissenschaftler entdeckten mit der Einzelzell-RNA-Sequenzierung verschiedene Subtypen innerhalb des Schneidezahnepithels. Die genaue Rolle dieser Subtypen muss jedoch in zukünftiger Forschungsarbeit herausgefunden werden.

Gelänge es, den Übergang von Vorläuferzellen zu reifen Ameloblasten zu charakterisieren, könnte man möglicherweise Ameloblasten in vitro züchten und damit eine Art „Schmelzorgan“ kreieren. Sharir et al. konnten bereits zeigen, dass bestimmte Zellen sich nach einer Verletzung in Ameloblasten umwandeln können [Sharir et al., 2019].

Mäusezähne sind wohl besser geschützt

In menschlichen und in Mauszähnen fanden die Forscher sowohl Parallelitäten als auch Unterschiede in der Gewebeheterogenität. Grob betrachtet ist der Aufbau ähnlich, doch auf molekularer Ebene zeigten sich die Unterschiede als speziesspezifische Zellsubtypen. Auch bei der Untersuchung von Immunzellen fanden die Forscher Unterschiede zwischen Mäuse- und Menschenzähnen. Die Lokalisation von Makrophagen ist für menschliche Zähne spezifisch anders als bei den Mäusezähnen und lässt auf einen besseren Schutz der Mäusezähne schließen.

Die Forscher erstellten auf Basis ihrer Erkenntnisse detaillierte und validierte „Zahnzell-Atlanten“ der Maus und des Menschen mit Schwerpunkt auf deren Wachstum und Differenzierung. Auf diese interaktive Datenbank können Forscher bei künftigen Fragestellungen zur Zelldynamik in der Zahnmorphogenese zurückgreifen. Die Ressource könnte aber auch für Forschungsprojekte, die sich mit der Entwicklungs- und Regenerationsbiologie im Allgemeinen beschäftigen, von großem Nutzen sein, glauben die Studienautoren. Eine funktionierende biologische Therapie zum Ersatz von beschädigtem oder verlorenen Gewebe wäre zweifellos eine äußerst attraktive Alternative zu den heutigen Konzepten von Füllungstherapie und Zahnersatz.

Quelle:

Krivanek, J., Soldatov, R.A., Kastriti, M.E. et al.: Dental cell type atlas reveals stem and differentiated cell types in mouse and human teeth. Nat Commun 11, 4816 (2020). https://www.nature.com/articles/s41467–020–18512–7

Literatur:

Sharir, A. et al.: A large pool of actively cycling progenitors orchestrates self-renewal and injury repair of an ectodermal appendage. Nat. Cell Biol. 21, 1102–1112 (2019). https://www.nature.com/articles/s41556–019–0378–2

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Dr. Kerstin Albrecht

Medizin-/Dentaljournalistin

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