Keratozyste oder Ameloblastom?
Eine 18-jährige Patientin stellt sich mit einer seit vier Wochen persistierenden Schwellung im Bereich des rechten Unterkiefers bei ihrem Hauszahnarzt vor. In der angefertigten Panoramaschichtaufnahme imponiert eine ausgedehnte und scharf begrenzte Aufhellung, die ausgehend von Regio 47 nahezu den gesamten Ramus mandibulae einnimmt (Abbildung 1). Daraufhin wird die Patientin an die Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universitätsmedizin Mainz überwiesen, wo sich klinisch zusätzlich bereits eine ausgeprägte Mundbodenschwellung darstellt. Der Zahn 47 zeigt sich perkussionsempfindlich; die Vitalitätsproben von 46 und 47 erweisen sich als positiv. Die periphere Durchblutung, Sensibilität und Motorik sind – trotz der nervnahen Lokalisation des Befunds – unauffällig.
Zur Beurteilung der Befundausdehnung und Planung der Therapie wird eine Digitale Volumentomografie (DVT) des Mittelgesichts inklusive Unterkiefer angefertigt (Abbildung). Hier zeigen sich die vestibuläre und linguale Compacta massiv atroph und crestal sowie lingual bereits perforiert. Die Lage des Nervus alveolaris inferior projiziert sich kaudal des Befunds und erscheint in seinem Verlauf nicht verdrängt.
Aufgrund der Gefahr einer Spontanfraktur ebenso wie zur histopathologischen Befundsicherung wird die Indikation zur Zystektomie in Intubationsnarkose gestellt. Diese erfolgt durch Inzision crestal distal des Zahns 47 und im Bereich des aufsteigenden Unterkieferasts mit Bildung eines Mukoperiostlappens. Nach subperiostaler Präparation lässt sich die ausgedehnte Zyste problemlos darstellen (Abbildung 3). Korrespondierend zum vorliegenden radiologischen Befund erreicht die Raumforderung die linguale Knochenkante. Unter Schonung des N. alveolaris inferior werden die Enukleation der Zyste in zwei Teilen und die Entfernung der crestal beteiligten Knochenanteile vorgenommen (Abbildung 4). Nach ausgiebiger Spülung kann der entstandene Defekt nach Einlage von Kollagenschwämmen mittels des vorgelegten Mukoperiostlappens plastisch gedeckt werden.
Der postoperative stationäre Verlauf verläuft unter antibiotischer Abschirmung komplikationslos, so dass die Patientin nach einem dreitägigen stationären Aufenthalt in die ambulante Weiterbetreuung entlassen werden kann.
Die primäre histologische Auswertung zeigt eine unizystische odontogene Läsion mit überwiegend fibromyxoiden Zystenwandanteilen und fokal auftretenden Keratinisierungen. Histopathologisch ist dieser Befund – entgegen der primären klinischen Verdachtsdiagnose – nicht mit dem einer odontogenen Zyste, sondern eher mit der Formation eines zystischen Tumors vereinbar. Bei Verdacht auf das Vorliegen einer Keratozyste wird zur differenzialdiagnostischen Einordnung eine ergänzende immunhistochemische Untersuchung durchgeführt.
Jene offenbart jedoch für die Keratozyste ungewöhnliche Auffälligkeiten. Die fokale Morphologie des Tumors, das prominente retikulierte Epithel und die luminale Auskleidung durch ameloblastisches Epithel sprechen in erster Linie statt für eine odontogene Zyste für ein unizystisches Ameloblastom.
In Anbetracht der unerwarteten histopathologischen Ergebnisse werden in diesem besonderen Fall zur Senkung des Rezidivrisikos engmaschige klinische und radiologische Kontrolltermine in regelmäßigen Abständen empfohlen.
Diskussion
Das Ameloblastom zählt zu einer Gruppe gutartiger odontogener Tumore und entsteht aus versprengtem Restgewebe embryonaler Zahnanlagen – den Ameloblasten. Ameloblastome machen etwa elf Prozent aller odontogenen Tumore im Kiefer aus [Hong et al., 2007] und werden nach aktueller WHO-Klassifikation wie folgt eingeteilt [Schneider und Kämmerer, 2019]:
a) konventionell
b) extraossär/peripher
c) unizystisch und
d) metastasierend.
Mehrheitlich sind Patienten im Alter von 30 bis 60 Jahren betroffen. Histologisch lassen sich follikuläre und plexiforme von akanthomatösen Varianten unterscheiden. Eine maligne Transformation tritt nur in sehr seltenen Fällen auf (< 2 Prozent) [Sakuranaka et al., 2020], wobei Studien zufolge Metastasen häufig in der Lunge (75 Prozent), den Halslymphknoten (15 Prozent) und der Wirbelsäule (15 Prozent) zu finden sind. Seltener treten Metastasen in Leber, Schädel, Zwerchfell und Gehirn auf [Verneuil et al., 2002].
Charakteristisch sind ein schmerzloses, langsames und lokal invasives Wachstum sowie eine allgemein eher symptomarme Erscheinung. Aus diesem Grund werden Ameloblastome häufig im Rahmen von Routineuntersuchungen als Zufallsbefund diagnostiziert.
Wie im vorliegenden Fall zählen zu den möglichen Symptomen eine schmerzlose Auftreibung des Kiefers – meist in bukkolingualer Richtung – sowie eine Weichgewebsinvasion oder Wurzelresorptionen (Abbildung 1) mit konsekutiver Zahnlockerung bis hin zur Malokklusion [Schneider und Kämmerer, 2019]. Hyp- oder Parästhesien werden im Zusammenhang mit Ameloblastomen als eher untypisch beschrieben [McClary et al., 2016]. Radiologisch erscheint das Ameloblastom charakteristischerweise als scharf begrenzte, polyzystische Aufhellung mit häufig seifenblasenartiger Zeichnung. Gelegentlich besteht eine Beziehung zu verlagerten Zähnen oder Wurzelresorptionen.
Wie im vorliegenden Fall ist die Mehrzahl – etwa 80 Prozent – der Ameloblastome im Bereich des Kieferwinkels lokalisiert [Reichart et al., 1995]. Hier korreliert das radiologische Erscheinungsbild einer scharf begrenzten unilokulären, zystenähnlichen hypodensen Struktur (Abbildung 2b) mit der histopathologischen Diagnose des unizystischen Ameloblastoms.
Die Unterscheidung zwischen einer odontogenen Zyste und einem Ameloblastom ist klinisch häufig kompliziert. Insbesondere bei monozystischem Auftreten ist auch unter Zuhilfenahme bildgebender Verfahren meist keine adäquate Differenzialdiagnose möglich [Krüger, 1988]. Bei unklaren Befunden empfiehlt sich daher eine Probeexzision zur Sicherung der Diagnose.
Neben odontogenen und nicht-odontogenen Zysten sind das zentrale Riesenzellgranulom, das zentrale Fibrom, das ameloblastische Fibrom und die fibröse Dysplasie in die Differenzialdiagnostik mit einzubeziehen [Krüger, 1988].
Die Rezidivraten variieren stark je nach histopathologischem Gewebetyp und durchgeführtem Therapiekonzept. Da bei konservativer, minimalinvasiver Therapie (Enukleation und Kürettage) das Risiko zur Rezidivbildung bei 55 bis 90 Prozent liegt, ist – sofern möglich – die chirurgische Exzision mit 1,5 bis 2 cm Sicherheitsabstand zu favorisieren [Carlson et al., 2012]. Nach radikaler Resektion beträgt die Rezidivrate nur 5 bis 15 Prozent [Celur et al., 2012]. Rezidive können auch zehn Jahre nach primärer Therapie auftreten, was den hohen Stellenwert einer langfristigen und genauen Nachsorge begründet [Wright et al., 2017].
Zu den Sonderformen des Ameloblastoms zählen die unizystische und die plexiforme Variante, die auch bei konservativer Therapie eine geringe Rezidivrate von 15 Prozent und eine insgesamt bessere Prognose aufweisen [Hong et al., 2007].
Im Sinne eines informed consent konnte im vorliegenden Fall in Anbetracht des jungen Patientenalters und unter Einbezug der geringen Rezidivrate des histopathologisch gesicherten Ameloblastomtyps von der Maximaltherapie in Form der differenzialtherapeutisch möglichen Kontinuitätsresektion des Unterkiefers mit anschließender Rekonstruktion durch ein mikrovaskuläres Transplantat abgesehen und die Patientin über ein kurzes Recall-Intervall zur engmaschigen klinischen und radiologischen Nachkontrolle angebunden werden.
Paul Römer
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Plastische Operationen, Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 2, 55131 Mainz
Dr. med. dent. Florian Schnaith
Oralchirurgie am Schloss
Dorotheenstr. 8, 61348 Bad Homburg
PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, Ma, FEBOMFS
Leitender Oberarzt und stellvertretender KlinikdirektorKlinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Plastische Operationen, Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 2, 55131 Mainz
peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de
Fazit für die Praxis
Ameloblastome sind durch ihr langsames, lokal invasives Wachstum und ihr symptomarmes Erscheinungsbild charakterisiert.
In einem Großteil der Fälle (etwa 80 Prozent) sind Ameloblastome im Kieferwinkel lokalisiert.
Maligne Transformationen treten nur in sehr seltenen Fällen auf.
Eine histologische Abklärung mittels Biopsie ist vor der Auswahl einer definitiven Therapie dringend zu empfehlen, da der Behandlungsumfang abhängt vom vorliegenden Subtyp.
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2. Schneider D, Kämmerer PW. Ameloblastom. wissen kompakt. 2019;13(2):83-9.
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10. Krüger E: Lehrbuch der chirurgischen Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Bd. 2., 6. Aufl. Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin 1988.