Zahnersatz vom Nilpferd und das Instrumentenetui von Dr. Grausam
Hoch über der Stadt Tübingen erhebt sich das Renaissance-Schloss Hohentübingen, dessen Ursprünge als mittelalterliche Burganlage bis ins 11. Jahrhundert zurückreichen. Die Universität wurde vor über 300 Jahren von Graf Eberhard im Bart mit vier Fakultäten gegründet und trägt seit 1769 unter Herzog Karl Eugen von Württemberg den Namen „Eberhardino-Carolina“. Die Räumlichkeiten beherbergen eine Vielzahl von archäologischen, kulturwissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Sammlungen der Eberhard Karls Universität, die unter „Museum der Universität Tübingen“ (MUT) zusammengefasst sind.
Es handelt sich um 70 Fachsammlungen, die zum Teil öffentlich zugänglich sind oder auf Anfrage besucht werden können. Zu den zugänglichen Sammlungen gehören die „Alten Kulturen“ und die „MenschenKörper“ – die anatomische Sammlung. Das Museum „Alte Kulturen“ trägt seit 2017 das Siegel „Weltkulturerbestatus“ für die Eiszeitkunst, die dort zu sehen ist. Die Sammlung „MenschenKörper“ dient vor allem der medizinisch-zahnmedizinischen Ausbildung. Bisher nicht öffentlich zu sehen war die zahnmedizinische Sammlung „Mund und Kiefer“– doch sie wird nun wieder zu neuem Leben erweckt. Für interessierte Besucher ist die Ausstellung wegen der Corona-Krise seit dem 16. Juli als Online-Ausstellung erlebbar.
Bitte um Mithilfe
Die Initiatoren rufen alle emeritierten beziehungsweise im Ruhestand befindlichen Zahnmediziner auf sich zu melden, wenn sie Interesse haben, bei der weiteren Inventarisierung der Sammlungsbestände mitzuhelfen.
Die zahnmedizinische Sammlung umfasst über tausend Exponate aus einer über 300-jährigen Zeitspanne für die Bereiche Chirurgie, Zahnerhaltung, Prothetik und Röntgenologie. Ferner existieren eine ganze Reihe von Büchern und historischen Schriften zum Thema Zahnheilkunde.
Die Sammlung stand vor dem Aus
Dieser beeindruckenden Sammlung drohte 2018 das Ende, da sie nicht mehr akzeptabel und sicherheitsgerecht ausgestellt werden konnte. Dem Kustos der Sammlung, Dr. Andreas Prutscher, ist es zu verdanken, dass sie erhalten blieb. Ziel ist, mit dem Museum der Universität Tübingen, der Zahnklinik und deren Kustos die aktuelle Sammlung in einer zeitgemäßen und interessanten Dauerausstellung in den aktuellen Räumlichkeiten zu präsentieren.
Der Ursprung und die Anfänge der Sammlung sind nicht ganz einfach nachvollziehbar. Über den Beginn heißt es seitens der Uni: „Am 30. November 1968 eröffnete die neue Klinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten der Universität Tübingen ihre Pforten in der Liebermeisterstraße. Im Rahmen der Neueröffnung war bereits zu dieser Zeit die Einrichtung eines Museums oder großen Schauraumes geplant, damals noch im 2. Untergeschoss. Zuvor war die Klinik in der Burse untergebracht gewesen und seit 1910 war dort auch eine Sammlung von Lehrgegenständen, Memorabilien und Kuriositäten angelegt worden. Grundstock war hier die Privatsammlung des renommierten Zahnarztes Prof. Dr. Hermann Peckert. Peckert sammelte neben zahnmedizinischen Instrumenten vor allem auch historische Zahnprothesen. Die Sammlung zog vorerst in den Verbindungsgang zwischen Mittelbau und großen Hörsaal der neuen Klinik, wo ein provisorischer Schauraum errichtet wurde. Dort ist die Sammlung noch heute zu finden.“
Die Sammlung zeigt eine umfangreiche Zahl an chirurgischen Instrumenten vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. Neben Zahnschlüsseln und Zangen oder Pelikanen ist ein vollständiges Etui an Instrumenten wie Zahnzangen, Hebel, Überwurf, Zahnschlüssel und Kralle hervorzuheben. Es gehörte einem Rottweiler Bader aus dem 18. Jahrhundert, der „Dr. Grausam“ genannt wurde (Abbildung links).
Ebenso umfangreich ist der Bestand an Objekten zur Zahnerhaltung und Prothetik. So gibt es Zahnersatz aus Elfenbein, Nilpferd- und Walrosszähnen aus dem 18. und dem 19. Jahrhundert. Oder einen vollständig erhaltenen Kasten für Porzellansortimente für Jacketkronen und Facetten. Mithilfe der Zahnfarbpaletten konnte die jeweilige Zahnfärbung des Patienten ziemlich genau getroffen werden.
Zur Sammlung gehören auch ein mit Gas betriebener Glühofen, Brennöfen, eine Kronenstanze, Vulkanisierkessel, eine Fußtretbohrmaschine sowie mehrere Zahnarztstühle und Instrumentenblöcke. Für die Fußtretbohrmaschine ist auch die Nutzungsgeschichte bekannt. Sie war Teil eines transportablen Behandlungssets, das von den Zahnärzten Carl Willasch und Dr. A. Weber auf Überlandreisen von 1921 bis 1939 zum Einsatz kam.
Aus dem Müllcontainer gerettete Moulagen
Durch einen glücklichen Zufall haben sich auch einige Moulagen erhalten. Zu Anfang des neuen Jahrtausends wurden die „vergilbten Antiquitäten“ aus den 1920er-Jahren durch den damaligen Kustos Lindemann aus dem Müllcontainer gerettet.
Für die verantwortlichen Mitarbeiter des MUT und der zahnmedizinischen Sammlung ist es noch eine Wegstrecke, bis die Dauerausstellung dem Publikum präsentiert werden kann. Dies wird voraussichtlich im Lauf des Jahres 2021 der Fall sein. Die Besucher finden die Ausstellung dann im Zentrum für Zahn- Mund- und Kieferheilkunde, ZZMK, Osianderstraße 2–8, 72076 Tübingen.
Kay Lutze
Historiker, M.A.
Ein Blick in die Online-Ausstellung lohnt sich.
Heimat für das Dentale Erbe in Zschadraß
Wo lässt sich historische Zahnmedizin noch erleben?
In Deutschland gibt es zwei große Kollektionen: Die renommierte Sammlung Proskauer-Witt der Bundeszahnärztekammer, die lange in Köln im Zahnärztehaus ausgestellt war und seit dem Umzug nach Berlin im Jahr 2000 in Containern lagert. Und die große Sammlung historischer Exponate im Dentalhistorischen Museum von Zahntechniker Andreas Haesler in Zschadraß, Sachsen.
Der Vorstand der Bundeszahnärztekammer hat nun beschlossen, die Sammlung Proskauer Witt fachgerecht zu inventarisieren und im Dentalhistorischen Museum in Zschadraß, Sachsen, aufzubauen. Das Museum soll die Heimat für das Dentale Erbe werden.
Bei der eigens dafür initiierten Kampagne sind bislang Spenden in Höhe von 100.000 Euro zusammengekommen.
So können Sie spenden:
Dentalhistorisches Museum
Sparkasse Muldental
Sonderkonto Dentales Erbe
DE06 8605 0200 1041 0472 46
Bei Angabe von Namen und E-Mail-Adresse wird eine Spendenquittung übersandt.