Mut zur bitteren Wahrheit
Die Bundestagswahl ist gelaufen. Sie, liebe Leserinnen und Leser, kennen inzwischen das Ergebnis, das zum Redaktionsschluss noch nicht vorlag. Doch ganz gleich, wer sich jetzt mit Sondierungsgesprächen in Richtung Koalitionsverhandlungen begibt: Die Finanzierung unseres Gesundheitssystems wird ein gewichtiger Teil der Verhandlungsmasse sein. Nicht zuletzt deshalb, weil bei drei Parteien die Einführung einer „Bürgerversicherung“ – in unterschiedlichen Ausprägungen – in ihren Wahlprogrammen steht. Der Systemwettbewerb zwischen GKV und PKV – und damit der Beitrag der Privatpatienten zur medizinischen Infrastruktur – wird von SPD, Grünen und der LINKEN in Zweifel gezogen. Mal wird vom Weg in Richtung eines „integrierten Systems“ gesprochen, mal ist vom Einbezug der Privatversicherten in den Gesundheitsfonds (Grünen) die Rede. Immer läuft es dabei auf ein Ende des deutschen Zwei-Säulen-Modells aus GKV und PKV zugunsten einer Einheitsversicherung hinaus.
Damit ist klar, dass an den Koalitionsverhandlungen mindestens eine Partei beteiligt sein dürfte, die den Wechsel hin zu einer Einheitsversicherung propagiert – zumindest dann, wenn die Wahlprognosen annähernd realistisch waren. Wie groß die Umsetzungschancen sein werden, hängt dann natürlich von den realen Kräfteverhältnissen ab. Erschreckend ist übrigens, dass offenbar auch die Anhänger der bürgerlichen Parteien eine Einheitsversicherung inzwischen mehrheitlich befürworten würden – diesen Schluss jedenfalls legt eine Umfrage von Infratest dimap von Anfang September nahe. Offenbar wurde der Glaube, dass mit einer „Bürgerversicherung“ alles besser wird, durch stetige Wiederholung selbst dort erfolgreich genährt.
Was tatsächlich durch die Einführung einer Einheitsversicherung droht, hat kürzlich der Verband der Privatärztlichen Verrechnungsstellen (PVS) zusammengefasst. Diese Studie schlüsselt die zu erwartenden Einkommensverluste nach ambulant tätigen Facharztgruppen (ohne Zahnärzteschaft) auf: Demnach lösen rund 10,5 Prozent Privatversicherte 22,5 Prozent der ambulant ausgelösten Jahresumsätze im Gesundheitssystem aus. Im ärztlichen Bereich liegt die Spanne je nach Facharztgruppe weit auseinander. „Die Bürgerversicherung stellt in Deutschland allein im ambulanten Bereich ärztliche Honorare in Höhe von 6,43 Milliarden Euro jährlich in Frage“, heißt es weiter. Auf der Kostenseite stehen vor allem fixe Kosten wie Miete und technische Infrastruktur, die auch bei einer Einheitsversicherung weiter anfallen, variable Kosten fallen hingegen primär beim Personal an. Laut der Studie wenden Praxisinhaber rund 27,5 Prozent ihrer Einnahmen für das Personal auf. Bei den zu erwartenden Umsatzeinbußen wären die Praxisinhaberinnen und -inhaber gezwungen, hier zuerst anzusetzen. Die Studie erwartet deshalb einen Verlust von rund 34.800 Vollzeitstellen im ärztlichen Bereich.
Erste Schätzungen gehen für den Dentalmarkt von circa 1,68 Milliarden Euro Wertschöpfungseinbußen aus. Diese würden sich in einem Verlust von bis zu 58.000 Arbeitsplätzen in den Zahnarztpraxen (zum Beispiel Zahnmedizinische Fachangestellte), im Zahntechnikerhandwerk sowie in der Dentalindustrie niederschlagen. Diese Berechnungen der BZÄK zeigen eindrucksvoll, dass Veränderungen im Versicherungssystem zu allgemeinen Wohlfahrtsverlusten führen können und so sozialpolitischen Sprengstoff enthalten.
Festhalten muss man an dieser Stelle zudem, dass uns das duale System nicht nur erfolgreich durch die Corona-Pandemie, sondern auch bereits durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 gebracht hat: Zu keiner Zeit war die medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten gefährdet! Ein Zustand, um den uns nicht wenige Länder beneiden. Das System hat sich – mit all den bekannten Reformnotwendigkeiten – erstaunlich krisenfest gezeigt. Es sind starke Zweifel angebracht, ob diese Zuverlässigkeit in einem Einheitssystem sicher zu gewährleisten wäre.
Wenn eine künftige Regierung nun also den Weg einer „Bürgerversicherung“ ernsthaft verfolgen sollte, muss sie sich auch dieser Konsequenzen bewusst sein und sie offen kommunizieren. Denn das gehört zur bitteren Wahrheit dazu.
Prof. Dr. Christoph Benz
Präsident der Bundeszahnärztekammer