Auch ohne Papiere ist man hier Mensch
Termine werden nicht vergeben – die Patienten müssen pünktlich um 12 Uhr da sein und sich auf längere Wartezeiten einstellen. „Wir arbeiten das dann ab. Mit Terminen gibt es nur Streit, da sich andere dann benachteiligt fühlen“, berichtet Dr. Ulrich Happ, der für den Fachbereich Zahnheilkunde verantwortlich ist.
Ein Drittel der Patienten sind Deutsche
Unter den Patienten sind viele Geflüchtete ohne Papiere, abgelehnte Asylbewerber oder EU-Bürger ohne sozialversicherungspflichtigen Job. Etwa ein Drittel sind Deutsche, die sich keine Krankenversicherung leisten können, weil sie zum Beispiel als Selbstständige Insolvenz anmelden mussten. 2019 wurden etwa 700 Personen zahnmedizinisch versorgt. „Bei unserer Behandlung geht es im Wesentlichen um Schmerzbeseitigung, Extraktionen, aber auch um Zahnerhalt, meist Füllungen“, führt Happ aus. „In Einzelfällen ist auch ein einfacher Zahnersatz nötig. Wurzelbehandlungen bieten wir nicht an, weil der Behandlungsabschluss wegen Schmerzfreiheit und folgendem Ausbleiben der Patienten zur Weiterbehandlung nicht sichergestellt ist.“ Die Behandlungen sind für alle Patienten kostenlos. Die Aufwände werden vom Verein getragen, der sich ausschließlich über Spenden finanziert.
143.000 Menschen ohne Krankenversicherung
Seit April 2007 besteht für die gesetzliche Krankenversicherung und seit Januar 2009 für die private Krankenversicherung die allgemeine Versicherungspflicht. Viele Menschen haben aber kein ausreichendes Einkommen und daher keinen Schutz. Mit jedem Monat ohne Versicherung erhöhen sich ihre Beitragsschulden. Denn auch für Nichtversicherte fallen Beiträge an. Wer dann wieder in die Krankenversicherung zurückkehrt oder sich erstmals versichert, muss mit angehäuften Beitragsschulden und einem Säumniszuschlag rechnen.
Dennoch hatten 2019 in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 143.000 Personen keine Krankenversicherung; 2015 waren es noch 79.000. Obdachlose oder illegale Einwanderer sind in der Statistik nicht berücksichtigt, weshalb die Dunkelziffer viel höher liegen dürfte. Von den mehr als 83 Millionen Bürgern hierzulande waren rund 73 Millionen gesetzlich krankenversichert.
Wer einen ungeklärten Aufenthaltsstatus hat oder sich nicht rechtmäßig in Deutschland aufhält, erhält dem Bundesgesundheitsministerium zufolge über die Sozialhilfe und das Asylbewerberleistungsgesetz eine Akutversorgung im Krankheitsfall.
Bis 2020 befand sich die Praxis in den Kellerräumen eines Alten- und Pflegeheims, die die Reimund C. Reich Stiftung bereitstellte. Im Lockdown musste alles für drei Monate schließen. Und schließlich war der Verein wegen Corona gezwungen, nach anderen Räumlichkeiten Ausschau zu halten. Seit dem 5. August 2020 ist die Praxis in einem Bürokomplex im Gewerbegebiet im Hamburger Stadtteil Eidelstedt untergebracht. Inzwischen kommen pro Woche wieder mehr als 20 Patienten zur Behandlung.
„Die Hygieneschutzmaßnahmen wurden verschärft, was die einzelnen Behandlungen aufwendiger und zeitintensiver macht“, erzählt Happ. Neben Raumlüftern, PCR-Schnelltests und Fiebermessung, wird besonders auf die Einhaltung der AHA-Regeln geachtet. Der UVC- Luftentkeimer darf aufgrund der Strahlenbelastung nur in den Arbeitspausen angeschaltet sein.
Praxis ohne Grenzen
2014 eröffnete Prof. Peter Christoph Ostendorf die Praxis ohne Grenzen (PoG) in Hamburg, um Menschen medizinisch zu behandeln, die durch das Raster der deutschen Krankenversicherung fallen – meist wegen Obdachlosigkeit, illegalem Aufenthaltsstatus oder finanziellen Notlagen. Zur PoG kommen auch viele Kinder und schwangere Frauen, die sonst keine medizinische Versorgung bekommen würden.
Zu Beginn fanden die kostenlosen Behandlungen nur in drei Räumen und in den Fachrichtungen Inneres, Dermatologie, Gynäkologie und Kindermedizin statt. Aufgrund der hohen Nachfrage gründete sich 2015 der Verein, und die Praxis wurde auf 12 Räume, 320 m², ausgeweitet.
Insgesamt bietet die PoG heute Behandlungen in zehn Fachrichtungen an, unter anderem in Zahnmedizin, Augenheilkunde, HNO, Chirurgie und Orthopädie, darüber hinaus gibt es eine Sozialberatung. In der Praxis arbeiten 52 Ärzte, 15 Krankeschwestern, zwei Dolmetscher und eine Sekretärin ehrenamtlich. 2019 wurden hier über 6.000 Menschen behandelt. Ähnlich große Projekte gibt es nur in Berlin und Mainz.
Der Verein finanziert sich ausschließlich durch Spendengelder, Förderer, Stiftungszuwendungen und Preisgelder. Für seine ehrenamtliche Arbeit und sein Engagement wurde das Projekt mehrfach ausgezeichnet. Im vergangenen Jahr erhielt es den startsocial-Bundespreis, der durch Bundeskanzlerin Angela Merkel persönlich überreicht wurde.
Bevor Happ vor ungefähr vier Jahren einem Aufruf der PoG im Hamburger Zahnärzteblatt gefolgt war, hatte er sich zehn Jahre lang bei den Dentists for Afrika e.V. engagiert. Hier arbeitete er bei vielen Hilfseinsätzen leitend mit. „Es ist gut, besonders Bedürftigen in der weiten Welt zu helfen, aber die Not ist auch in Deutschland vorhanden und gewachsen. Mit der Praxis ohne Grenzen können wir den Bedürftigen hier direkte Hilfe anbieten, die sie brauchen“, macht Happ klar.
Die Dankbarkeit der Patienten ist groß
In Erinnernung bleiben ihm etliche Begegnungen. „Ein Patient kam mit einem herausgelösten Frontzahn zu uns, der schon sehr lange „zur Dekoration“ locker in der Alveole steckend von Lippe und Zunge gehalten wurde. Ihm haben wir die Möglichkeit von herausnehmbarem Zahnersatz erklärt“, schildert Happ einen Fall, den den er nicht vergessen konnte. „Da ihm seitlich auch Zähne fehlten, haben wir auch hier ZE für ihn angefertigt.“ Die Arbeit in der PoG zeichnet sich aus seiner Sicht dadurch aus, dass die Patienten sehr dankbar dafür sind, endlich von ihren Schmerzen befreit und zahnärztlich versorgt worden zu sein. „Die Ärzte hier geben mir das Gefühl, auch ohne Papiere ein Mensch zu sein,“ bestätigt ein Patient.
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