Künstliche Intelligenz: Die Perspektiven der Datenzahnmedizin
Künstliche Intelligenz (KI) klingt für viele noch immer nach Science-Fiction, dabei sind zahlreiche Alltagsanwendungen heute ohne KI nicht vorstellbar: die Gesichtserkennung in unserem Smartphone oder am Passautomaten am Flughafen, die Überwachung von Kreditkartenausgaben zur Betrugskontrolle, die automatische Produkt- oder Filmvorauswahl bei Amazon oder Netflix, die Verkehrssteuerung in zahlreichen Städten oder auch das Autonome Fahren – all diese Anwendungen nutzen die eine oder andere „KI-Technologie“. KI bezieht sich im Allgemeinen auf Technologie, die Aufgaben ausführen kann, die in der Regel mit menschlichem Handeln und Intelligenz assoziiert sind, so wie zum Beispiel Wahrnehmung, Lernen, Schlussfolgern oder autonomes Verhalten. Hierunter fallen unter anderem Forschungs- und Anwendungsfelder wie die Robotik, die Sprachverarbeitung, das „Computersehen“, Computersimulationen und vieles mehr.
Dabei ist KI kein neues Feld: Seit fast 70 Jahren wird das Thema in der technischen Domäne mal mehr, mal weniger intensiv diskutiert. Über lange Zeit fehlten jedoch die entscheidenden Voraussetzungen, um die diversen KI-Technologien in erfolgreiche Anwendungen zu überführen:
Hardware, um große Datenmengen und komplexe Daten wie Bilder bearbeiten zu können
große Datenmengen und die Möglichkeit, diese zu speichern
Softwarekonzepte, die es ermöglichen, mit diesen großen Datenmengen erfolgreich arbeiten zu können
Auch in der Zahnmedizin ist KI bereits heute weit verbreitet – steckt doch in jedem digitalen Workflow unter Zuhilfenahme von CAD/CAM-Technologie KI: Gefräste Teilkronen und gedruckte Aligner sind ohne KI nicht denkbar (Abb. 1)! Der vorliegende Beitrag wendet sich jedoch anderen, neueren Anwendungsfeldern von KI in der Zahnmedizin zu. Dabei zentral sind Daten: Eine datengetriebene Zahnmedizin wird die Interaktion zwischen Zahnarzt und Patient verändern, sie wird die Diagnostik und die Therapieplanung zielgerichteter, wirksamer und damit besser machen, sie wird die Zugangsschwellen zu zahnmedizinischer Versorgung in vielen Teilen der Erde senken und sie wird ein besseres Verständnis der Mundgesundheit unserer Patienten ermöglichen.
Das Datenzeitalter
Die beiden grundlegenden Forschungspfeiler zum Verständnis der Natur sind lange Zeit die experimentellen und die theoretischen Wissenschaften gewesen. In den vergangenen Jahrzehnten sind Computersimulationen zu einem dritten Pfeiler geworden. Heutzutage – im digitalen Zeitalter – ist die datenintensive Wissenschaft als vierter Pfeiler hinzugekommen:
Immer mehr Forschung ist datengetrieben.
Daten gelten als eine Schlüsselressource für moderne Gesellschaften und deren Wohlstand, unter anderem weil die Kosten für die Nutzung von Daten gering sind und stetig sinken.
Daten sind eine unerschöpfliche Ressource, die so oft wie nötig und von so vielen Akteuren wie technologisch möglich gleichzeitig genutzt werden kann.
Dieselben Daten können für eine Vielzahl von Anwendungen über Branchen und Märkte hinweg genutzt werden.
Die intelligente Nutzung von Daten optimiert die Effizienz konventioneller Prozesse und Abläufe [Klingenberg et al., 2019] (Abbildung 2).
Während große Technologieunternehmen wie Google, Facebook oder Amazon den Wert von Daten bereits in den 1990er- und 2000er-Jahren erkannt haben, ist diese Erkenntnis im Gesundheitswesen erst seit einer Dekade gereift: Daten könnten eine bessere, sicherere, zuverlässigere, erschwinglichere und zugänglichere Versorgung ermöglichen. Und die Datenmengen im Gesundheitswesen explodieren: Im Jahr 2013 wurde das globale Gesundheitsdatenvolumen auf 153 Exabyte geschätzt (1 Exabyte = 1018 Byte). Sieben Jahre später, im Jahr 2020, lag das geschätzte Volumen bei 2.314 Exabyte. Diese Daten zu bewältigen, ist eine zentrale Aufgabe von KI-Anwendungen. Konventionelle Datenanalysen sind hierbei oft nicht mehr ausreichend, stattdessen wird vermehrt auf eine fortgeschrittene KI-Technologie gesetzt: das Maschinelle Lernen.
Maschinelles Lernen
Das Maschinelle Lernen (ML) ist zentral, wenn es darum geht, große Datenmengen zu analysieren und produktiv zu nutzen. Beim ML erlernen Systeme statistische Zusammenhänge in Daten. Die meisten ML-Anwendungen, auch für medizinische Anwendungen, basieren auf dem sogenannten Überwachten Lernen, bei dem Eingangsdaten und das erwartete Ergebnis wiederholt dem lernenden System zugeführt werden. Dadurch wird der Algorithmus trainiert, von den Eingangsdaten auf das Ergebnis zu schließen, was schließlich auf ungesehenen Daten Vorhersagen ermöglicht.
Deep Learning (DL), ein Teilbereich von ML, hat in den vergangenen Jahren einen dramatischen Aufschwung erlebt, angetrieben durch die zunehmende Verfügbarkeit großer Datensätze, leistungsstarker Rechenressourcen und frei zugänglicher Software [LeCun et al., 2015]. DL nutzt künstliche neuronale Netze (englisch: Artificial Neural Networks, ANN), die sich als besonders nützlich für die Verarbeitung von Bildern (Computer Vision) und Sprache (Natural Language Processing, NLP) erwiesen haben (Abbildung 3).
Computer können sehen
Klassifikation und Mustererkennung gehören zu den grundlegenden Techniken der medizinischen Bilddatenverarbeitung (zum Beispiel bei Röntgenbildern, Fotos und histologischen Schnitten). Gerade durch die Anwendung von ANN konnten in den vergangenen Jahren Systeme entwickelt werden, die den menschlichen Fähigkeiten sehr nahekommen und in bestimmten Anwendungsbereichen Expertenniveau erreichen.
Grundlage dieser enormen Leistungssteigerung ist die Anwendung von spezialisierten ANN, den sogenannten Konvolutionalen Neuronalen Netzwerken (englisch: Convolutional Neural Network, CNN). Diese bestehen aus zwei wesentlichen Komponenten, einem Extraktor für Bildinformationen und einem klassischen ANN. Der Extraktor besteht aus einer Vielzahl von frei parametrisierbaren Filtern, die das Originalbild Pixel für Pixel abtasten und dabei quasi neue Bilder erschaffen. Je nach Filter entstehen dabei Bilder, die besonders deutlich einzelne Farben, Formen, Texturen oder Muster darstellen. Kombiniert man all diese Bildrepräsentationen, entsteht ein multidimensionales Bildobjekt, das dann – transformiert in eine lange Zahlenkolonne aus einzelnen Pixelwerten – an ein ANN weitergegeben wird. Dieses wird daraufhin trainiert, diese Zahlenkolonne mit zum Beispiel einem bildbeschreibenden Begriff in Zusammenhang zu bringen. So lernen CNN Bilder zu klassifizieren oder Objekte im Bild zu verorten.
Auf zahnmedizinischen Bilddaten wurden CNN bisher eingesetzt, um Zahnkaries, apikale Läsionen, parodontalen Knochenschwund, Zahnfrakturen oder Sinusitis zu erkennen. Die berichteten Genauigkeiten für die meisten dieser Aufgaben sind vielversprechend und die ersten KI-Tools für die Dentaldiagnostik kommen derzeit auf den Markt [Schwendicke et al., 2019] (Abbildung 4).
Computer können lesen, schreiben und sprechen
Die Fähigkeit von Computern, „natürliche“, also auch wenig strukturierte Alltagssprache – geschrieben oder gesprochen – zu verstehen und zu reproduzieren, wird unter dem Begriff Natural Language Processing (NLP), also natürliche Sprachprozessierung, zusammengefasst. NLP erlaubt es Computern, Bedeutung aus Text und Sprache abzuleiten, diese zu übersetzen oder auch selbst zu generieren. Gerade die vergangenen Jahre haben hier eine enorme Dynamik gebracht. Neue Modellarchitekturen, hier vor allem die sogenannten Transformer-Netzwerke, erlauben die Berücksichtigung längerer und komplexerer Textsequenzen, so dass Modelle und Anwendungen entstehen, die in der Lage sind, thematisch zusammenhängende und stilistisch konsistente Texte zu generieren. Diese können nicht mehr von Texten, die von realen Personen geschrieben wurden, unterschieden werden.
Für medizinische Anwendungsfälle kann NLP helfen die vorhandenen, unstrukturierten Mengen an Textdaten in elektronischen Patientenakten, aber auch beispielsweise in E-Mail-Verkehren nutzbar zu machen, ohne dabei auf intensives Redigieren durch Menschen angewiesen zu sein. So könnten die oftmals enorm großen, vorhandenen Datenmengen zu jedem einzelnen Patienten in jeder Praxis erschlossen, systematisiert und rasch zugreifbar gemacht werden – mit einem Klick. Auf diesen Daten könnten dann Vorhersagemodelle, etwa zum Zahnverlustrisiko von Parodontitispatienten, entwickelt werden.
In der Forschung konnten solche Ansätze bereits getestet werden: Zahnärztliche Patientenakten wurden mit NLP analysiert und darauf bereits Spracherkennungsmodelle trainiert [Chen et al., 2021]. In ähnlicher Weise wurde NLP verwendet, um Patienten mit bestimmten Schmerzcharakteristika zu identifizieren, die anschließend eine Vorhersage von Kiefergelenkserkrankungen ermöglichten [Nam et al., 2018]. Die Kombination von NLP mit computerbasiertem Sehen (Computer Vision) ermöglicht auch die automatisierte Beschriftung von Bildmaterial in Patientenakten – vorhandene Bildbibliotheken können so rückwirkend systematisiert und archiviert werden. Generell können computergenerierte Diagnosen dazu dienen, eine systematischere Verschlagwortung auch in der zahnmedizinischen Praxis im Hintergrund – ohne großen Aufwand für den Zahnarzt – zu ermöglichen.
Viel relevanter für den Praktiker wird die Möglichkeit zur Spracherkennung und Transkription von Patientengesprächen sein: Computer werden zukünftig beispielsweise Aufklärungsgespräche mitverfolgen, diese automatisiert zusammenfassen und bestimmte, juristisch relevante Abschnitte gezielt wörtlich ablegen. Ebenso könnten Planungsdiskussionen, zum Beispiel zu prothetischen Versorgungen, oder auch die einfache Ansage des klinischen Befunds durch Computer erfasst, sinnvoll gekürzt und systematisiert abgelegt werden – während sich die Zahnmedizinische Fachangestellte stattdessen anderen Aufgaben zuwendet. NLP könnte demnach die Dokumentationsqualität erhöhen und das zahnärztliche Team entlasten [Shickel et al., 2018].
Computer können vorhersagen
Neben der Analyse von Bildern oder Texten ist ein zentrales Feld der Anwendung von KI in der Medizin die Vorhersage. Ärztinnen und Ärzte sind an der Prognose von Erkrankungen interessiert, um diese frühzeitig behandeln oder gar verhindern zu können. Ebenso ist die Vorhersage von bestimmten Krankheitsereignissen wichtig, um eine etwaige Therapie entsprechend darauf abzustimmen. Generell wäre eine vorhersagende Medizin in der Lage, präventiver zu wirken, präziser zu behandeln, Diagnostik und Therapie personalisierter auf das einzelne Individuum abzustimmen und dieses Individuum am Behandlungsprozess partizipieren zu lassen (Abbildung 5). Diese sogenannten „4 P“ – Personalisierung, Präzision, Prävention und Partizipation – sind ohne KI nicht denkbar. Und selbst mit KI ist es noch ein langer Weg, bis die P4-Medizin Realität werden kann [Flores et al., 2013].
Für die Zahnmedizin wäre eine solche präzise und individuelle Vorhersage von Erkrankungen oder Krankheitsereignissen ein großer Gewinn: Patienten, deren Karies- oder Parodontitisrisiko hoch ist, könnten anders – hochfrequenter und intensiver – betreut werden, um den Erkrankungsbeginn zu verhindern oder hinauszuzögern. Schon heute gibt es eine Reihe von Vorhersagemodellen für Karies und Parodontitis, die (unter anderem) auf bekannte Risikofaktoren wie Ernährung, Rauchen oder Mundhygiene als Vorhersagefaktoren setzen. Die Genauigkeit dieser Modelle ist jedoch stark begrenzt: Oftmals ist der wichtigste Vorhersagefaktor eine zurückliegende Erkrankungserfahrung. Ein Patient, der bereits aufgrund von Karies Füllungen benötigte, hat ein deutlich erhöhtes Risiko, auch zukünftig neue kariöse Läsionen zu entwickeln. Für eine echte Vorhersage ist dies natürlich enttäuschend wenig – müssen wir doch darauf warten, dass die Erkrankung eintritt, bevor wir den Risikopatienten identifizieren können!
Die große Hoffnung liegt daher auf der Aufbereitung und Analyse der Patienten- und Metadaten durch KI, um besser zu verstehen, wie und warum zahnmedizinische Erkrankungen individuell auftreten und verlaufen. Die Nutzung des riesigen Datenpools aus Abrechnungsdaten, Bild- und Sprachdaten oder auch patientengenerierten Daten zu Mundhygiene oder Ernährung – oder gar seiner weitergehenden sozialen Umstände – könnten hier Licht ins Dunkel bringen. Das Potenzial, auch aus zunächst ungewöhnlichen Daten, beispielsweise Social-Media-Nachrichten, Vorhersagen zu Erkrankungsrisiken ableiten zu können, ist bereits eindrücklich demonstriert worden: So konnte in einer Studie aus den USA aus Twitterdaten, die auf Emotionsmuster untersucht wurden, mit hoher Genauigkeit für einen kleinräumigen Bereich (ähnlich einer Gemeinde) das Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu versterben, vorhergesagt werden [Eichstaedt et al., 2015]. Die Vorhersagegenauigkeit war dabei deutlich höher als bei der Nutzung konventioneller Vorhersageparameter wie etwa Gewicht oder Diabetes. Dies ist faszinierend – sind doch die Twitternutzer überwiegend nicht die Risikogruppen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen! Was stattdessen durch die Nutzung dieser Daten offensichtlich gelingt, ist eine Erfassung der in der Lebenswirklichkeit der Menschen vorhandenen Risikofaktoren, wie soziale oder ökonomische Aspekte. Diese dürften die Zahnmedizin ebenso betreffen – und die Nutzung solcher Daten könnte demnach auch zahnmedizinische Vorhersagemodelle voranbringen.
Bevor allerdings dieses Potenzial entfesselt werden kann, sind zahlreiche Hürden (unter anderem zur sicheren Datenübermittlung, -speicherung und -verarbeitung) zu überwinden. Momentan ist eine „P4-Zahnmedizin“ noch Verheißung, nicht Realität.
Computer können (be)handeln
Wie bereits skizziert, sind diverse KI-Anwendungen schon heute im digitalen Workflow unverzichtbar. So ist die automatische Detektion von Präparationsgrenzen oder die Computer-assistierte Modellierung und Simulation okklusaler Flächen und Beziehungen nicht ohne Computersehen und Computersimulation möglich. Auch die Vorhersage und Planung digitaler kieferorthopädischer Behandlungsketten kann auf KI nicht verzichten. In ersten experimentellen Ansätzen werden auch in der Zahnmedizin bereits heute KI-gesteuerte Roboter eingesetzt, beispielsweise zur vollständig autonomen Insertion von Dentalimplantaten.
Generell ist die KI-gestützte Robotik in der Chirurgie relativ weit verbreitet. Einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass die in der zahnmedizinischen Praxis häufigsten Behandlungen – wie das Legen von Füllungen, das Präparieren von Kronen, parodontale Behandlungen oder die Zahnextraktion – nur schwerlich auf einen Roboter zu übertragen sind; höchst individuell ist doch die Ausgangslage, divers das zu berücksichtigende Datenmaterial und sehr unterschiedlich die angestrebten Behandlungsergebnisse.
Auch die Wirtschaftlichkeit ist ein zentraler Faktor, der einer größeren Verbreitung von Robotern in der Zahnarztpraxis im Weg steht: Ebenso wie die seit zwei Jahrzehnten prominent beforschten Omics-Technologien werden auch KI-betriebene Roboter allein aus preislichen Gründen nicht zeitnah zur Routine in der Praxis werden, zu hoch sind die Kosten verglichen mit dem heutigen Standard. Bei hochkomplexen und bereits heute teuren Eingriffen wie beispielsweise in der onkologischen Chirurgie, der Rehabilitation von Syndromen oder der Therapie großer Traumata ist der Einsatz von Operationsrobotern als ein Glied der digitalen Behandlungskette jedoch sinnvoll und auch preislich abzubilden.
Telezahnmedizin
Die Corona-Pandemie hat in diversen medizinischen Feldern zu großer Dynamik geführt – auch jenseits der offensichtlichen Prominenz der Virologie. Hunderttausende Ärztinnen und Ärzte bieten heute wie selbstverständlich Telesprechstunden an. Bestimmte Flächenländer wie Kanada oder Australien betreiben schon seit Jahren für bestimmte Regionen und Bevölkerungsgruppen auch telezahnmedizinische Angebote, unter anderem um große Distanzen zu überwinden und etwaige zahnmedizinische Besuche optimal und zielgerichtet planen und durchführen zu können. In Deutschland war dies bisher wenig verbreitet, hat jedoch im vergangenen Jahr für die telezahnmedizinische Betreuung von Pflegebedürftigen (Videosprechstunde, Videokonsil) auch einen Rechtsrahmen erhalten.
Allerdings ist Telezahnmedizin dann doch etwas anderes als Telemedizin beim Allgemein- oder Hautarzt, unter anderem weil der Patient nur schwerlich ein Foto mit seinem Smartphone von der Okklusalfläche des Zahnes 17 zustande bringt! Exakt eine solche Art von Fotodiagnostik ist in anderen medizinischen Feldern jedoch die Grundlage, um KI-Anwendungen sinnvoll in der Telemedizin einsetzen zu können: So lassen sich heute Fotografien der Haut problemlos durch KI-Algorithmen analysieren, beispielsweise durch den Patienten selbst oder durch seinen Hausarzt. Das Ergebnis einer solchen KI-Vorbefundung kann dann genutzt werden, um eine informierte Terminabsprache beim Dermatologen zu machen: Durch das Priorisieren von jenen Fällen, in denen die KI etwa eine maligne Hautveränderung vermutet, würden die Betroffenen zügiger einen „Prio-Termin“ erhalten – was bei teilweise monate- oder (in anderen Gesundheitssystemen) jahrelangen Wartezeiten auf Facharzttermine einen riesigen Unterschied in der Behandelbarkeit und Prognose bedeuten kann! Zwingend notwendig ist hierbei natürlich das Augenmerk der KI auf Sicherheit – nur Hautveränderungen, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht maligne sind, sollten dann auch so klassifiziert werden. Ist die KI unsicher, darf dies nicht zu einer „Herabpriorisierung“ führen.
In der Zahnmedizin ist eine solche Fotodiagnostik (wie dargelegt) nicht immer gut möglich, unter anderem weil intraorale Fotografie anspruchsvoll und oft auch mit zusätzlichen technischen Aufwänden verbunden ist. Auch kommt der Zahnarzt oft ohne weitergehende Diagnostik (Röntgenbild, physische Tests) nicht weit. Allerdings zeigen erste Ansätze, beispielsweise zur KI-gestützten Überwachung der häuslichen Mundhygiene, großes Potenzial. Generell werden gerade Patienten durch KI mehr über ihre Gesundheit erfahren wollen und können – und dabei zukünftig wie selbstverständlich die Diagnosedaten ihrer letzten zahnmedizinischen Besuche, ihrer Röntgenbilder oder Befunde einsetzen, unter anderem weil diese digitalen Daten nicht mehr länger im Praxisschrank des Zahnarztes verschlossen sind, sondern allen Behandlern und eben dem Patienten selbst zur Verfügung stehen. Die Zahnmedizin sollte dies als Chance begreifen und nicht als Bedrohung – und sich aktiv dabei einbringen, die Herausforderungen einer solchen neuen „zahnmedizinischen Welt“ zu meistern.
Grenzen und Herausforderungen
Bisher trifft KI für die Zahnmedizin auf eine Reihe von Grenzen und auf diverse Herausforderungen, die es zu überwinden gilt [Schwendicke et al., 2020].
Vertrauen und Verantwortung: KI-Algorithmen sind oft komplex und nicht leicht zu interpretieren; Nutzer müssen der KI vertrauen können. Zahnmedizinische KI sollten sich denselben Anforderungen stellen wie andere Medizinprodukte, sie sollte evidenzbasiert sein und nachweislich vertrauenswürdig. Auch sollten KI-Entscheidungsprozesse transparent, erklärbar – kurzum nachvollziehbar – sein. Nur dann kann der Nutzer – oftmals der Zahnarzt – auch die Verantwortung für die sich anschließenden Diagnostik- und Therapieschritte übernehmen: Er muss KI verstehen und erklären können, denn sonst ist ein kritischer, wertender Umgang nicht möglich. Dies heißt dann auch: Zahnärzte müssen in die Lage versetzt werden, KI-Modelle zu verstehen und kritisch zu hinterfragen – die universitäre, aber auch die postgraduale Ausbildung muss sich zeitnah vermehrt der Frage einer „Digital Literacy“ zuwenden.
Ressourcen: Die Daten, die zum Training von KI, aber auch bei der Nutzung von KI-Modellen eingesetzt werden, erfordern oft große Speicherkapazitäten und Rechenleistungen, zudem müssen sie übertragen werden. In allen drei Domänen ist bisher nicht klar, ob ein weiterer exponentieller Anstieg an Leistungsumfang zukünftig möglich ist – allen Unkenrufen zum Trotz hat sich aber sowohl die speicherbare Datenmenge als auch die Rechenleistung von Rechnern (unter anderem durch „verteiltes Rechnen“) auch in den vergangenen Jahren exponentiell steigern können.
Standards und Robustheit: Zahnmedizinische KI muss nicht nur transparent und erklärbar sein, sie muss sich an Standards messen lassen und nachweislich robust sein. Im Gesundheitswesen gibt es berechtigte Bedenken, kritische medizinische Entscheidungen an Computer zu übergeben – es steht mehr auf dem Spiel als bei der eingangs erwähnten Gesichtserkennung im Smartphone, da Behandlungsentscheidungen in die körperliche Integrität des Patienten eingreifen. Gerade weil bekannt ist, dass KI, die auf nicht repräsentativen und kleinen Datensätzen trainiert wurde, leicht verzerrbar, instabil und nicht generalisierbar ist, braucht es Qualitätssicherungsinstrumente. Die ITU/WHO-Fokusgruppe „AI for Health“ (FG-AI4H) entwickelt unter anderem solche Standards zur Qualitätssicherung – damit sich Zahnärzte und Patienten darauf verlassen können, dass künftige KI-Medizinprodukte an solchen Standards entlang erprobt worden sind. Allerdings arbeiten auch Zahnärzte nicht ohne Verzerrungen: Als sogenannten Automatisierungsbias bezeichnet man das Phänomen, dass Ärzte die Vorgaben automatisierter Systeme oftmals zu leichtfertig akzeptieren, insbesondere wenn sie im Stress sind [Parasuraman, 2010]. Gerade dann soll KI ja einerseits entlasten – aber andererseits der Praktiker besonders wachsam sein, das Praxis-KI-System kritisch zu hinterfragen!
Schlussfolgerungen
KI durchdringt alle Lebensbereiche – und reicht in der Zahnmedizin bereits heute über die digitale Herstellung von Werkstücken hinaus. Die Explosion von Gesundheitsdaten ist gleichsam Voraussetzung und Grund für die vermehrte Anwendung von KI-Technologien. Vor allem Maschinelles und „Tiefes Lernen“ sind geeignet, die zukünftig weiter wachsenden Datenmengen nutzbar zu machen. Die Zahnmedizin kann von dieser Datenexplosion und der KI-gestützten Datenverarbeitung profitieren: Assistenzsysteme werden in der Lage sein, aus Patientenakten und Bildmaterialien automatisiert Informationen zu extrahieren, zu integrieren und daraus Vorhersagen abzuleiten. Eine solche „Datenzahnmedizin“ wird präziser, personalisierter, präventiver und partizipatorischer sein.
Es gilt jedoch diverse Hürden – unter anderem in den Bereichen Erklärbarkeit, Generalisierbarkeit, Robustheit und Standardisierung – zu überwinden. Auch die Passfähigkeit von KI-Lösungen im täglichen Workflow muss gegeben sein. Zuletzt müssen auch die zahnmedizinischen Nutzer von KI in die Lage versetzt werden, diese neue Technologie kritisch beurteilen und bewerten zu können.
KI und KI-Forschung haben in ihrer gut 70-jährigen Geschichte bereits mehrfach Visionen entwickelt und Hoffnungen geschürt, die sich später nicht einlösen ließen. Große Datenmengen und die fortgeschrittenen Technologien zur Datenverarbeitung bieten aber heute die realistische Chance, auch in der Zahnmedizin bislang nicht für möglich gehaltene Instrumente für Diagnostik und Therapie in die Hand zu bekommen. Durchsetzen wird sich KI aber nur, wenn es gelingt, tatsächlich einen signifikanten Nutzen zu generieren.
Oft wird auch befürchtet, KI könnte künftig den Platz des menschlichen Behandlers einnehmen. Bislang deutet jedoch nichts auf eine solche Entwicklung hin. Die übergroße Mehrheit der KI-Anwendungen wird als Hilfsmittel und Werkzeug für den Mediziner entwickelt. Daran wird sich aller Voraussicht nach in der nächsten Dekade grundsätzlich auch nichts ändern.
Dr. rer. nat. Joachim Krois
Abteilung für Orale Diagnostik, Digitale Zahnheilkunde und Versorgungsforschung,
CharitéCentrum 3 für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde,
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Aßmannshauser Str. 4–6, 14197 Berlin
Univ.-Prof. Dr. Med. Dent. Falk Schwendicke
Direktor der Abteilung Orale
Diagnostik, Digitale Zahnheilkunde und Versorgungsforschung,
Charité – Universitätsmedizin Berlin
falk.schwendicke@charite.de