Im Zeichen der Herausforderung
In seiner Begrüßung ging Prof. Dr. Roland Frankenberger, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), auf das im vergangenen Jahr verabschiedete Positionspapier „Perspektive Zahnmedizin 2030“ der DGZMK ein und dankte der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) für deren Unterstützung. Im Papier hatte die DGZMK den Leitsatz „Es gibt nur EINE Zahnmedizin!“ formuliert und angesichts der vielfältigen Herausforderungen die Einheit des Berufsstands und der wissenschaftlichen Fachdisziplinen angemahnt. Nur gemeinsam könne man Problemen wie dem demografischen Wandel, der Unterfinanzierung in Lehre und Forschung, der zunehmenden Ökonomisierung der Zahnmedizin und ungünstigen Rahmenbedingungen der Berufsausübung erfolgreich entgegentreten.
Neue Möglichkeiten der PAR-Richtlinie nutzen
Prof. Dr. Christoph Benz, Präsident der BZÄK, dankte in seiner Begrüßungsrede allen Zahnärztinnen und Zahnärzten für das Engagement in der anhaltenden Pandemiesituation. Insbesondere die Hygienekompetenz sei hier hervorzuheben: „Sie haben dem Fach damit eine große Unterstützung gegeben.“
Das Kongressthema „Herausforderungen“ betrifft Benz zufolge nicht nur die tägliche Arbeit in der Praxis, sondern auch die Entwicklungen in der Politik. Die BZÄK werde sich weiter um die Neufassung der GOZ bemühen. Möglicherweise gebe es im Zusammenhang mit der Bewegung bei der GOÄ einen neuen Ansatzpunkt, um auch mit der GOZ weiterzukommen.
Ein weiterer Punkt sei das „unsägliche Thema Telematik“, bei dem Ärzte und Zahnärzte seit einiger Zeit zu „Beta-Testern“ für unausgereifte Technologien geworden seien. Die BZÄK hat sich der Forderung der Bundesärztekammer nach einem Moratorium bei der TI angeschlossen, bis die Komponenten der TI „wirklich funktionsfähig“ in die Öffentlichkeit gebracht werden können.
Abschließend ging Benz auf die neuen Regelungen zur Parodontitistherapie in der gesetzlichen Krankenversicherung ein und wies auf die Chancen der erweiterten Behandlungsmöglichkeiten hin. Es sei ihm ein „wichtiges Anliegen, dass wir das auch zu einem Thema der Kolleginnen und Kollegen machen“.
Horizonte erweitern
Dr. Michael Frank, Präsident der Landeszahnärztekammer Hessen, bedauerte, dass es der Kammer auch dieses Jahr nicht möglich war, die Teilnehmer des wissenschaftlichen Kongresses in Frankfurt zu begrüßen. Er freute sich jedoch über das rege Interesse, das sich trotz der beschränkten Möglichkeiten des Onlineformats in den Anmeldungen gezeigt hat. Als Moderator der ersten Session führte Frank dann kurz ins wissenschaftliche Programm ein. Auch dieses Mal habe man Referenten eingeladen, die ihren Vortrag jeweils mit einem Blick über die Horizonte der Profession hinaus beginnen. Für das Auftaktreferat kündigte er einen ganz besonderen Gastredner an, der für seine Tätigkeit in Lehre und Klinik vielfach ausgezeichnet worden sei.
Detektivarbeit am Patienten: Der „German Dr. House“
Die vielen Seltenen sind ganz schön häufig: „Gäbe es eine Partei für seltene Erkrankungen, würde sie im Bundestag sitzen.“ Mit diesen Worten leitete Prof. Dr. Jürgen Schäfer, Marburg, seinen Vortrag über seltene Erkrankungen ein. Der „German Dr. House“, wie Schäfer sich selbst scherzhaft nennt, leitet das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen in Marburg, das deutschlandweit einmalig ist.
500 seltene Erkrankungen mit Zahnbeteiligung
Per Definition ist eine Erkrankung selten, wenn sie mit einer Prävalenz von weniger als 1:2.000 auftritt. Der Anteil der seltenen Erkrankungen liegt in Deutschland bei mehr als fünf Prozent aller Erkrankungen – und würde damit die Fünf-Prozent-Hürde für den Bundestag überspringen. Insgesamt 8.000 seltene Erkrankungen wurden bereits dokumentiert, davon über 500 mit Zahnbeteiligung. Ein großer Teil der Erkrankten erhält zunächst Fehldiagnosen, vielen wird nach dem vermeintlichen Ausschluss möglicher somatischer Ursachen eine psychosomatische Erkrankung zugeschrieben.
Millerpreis
Im Rahmen des diesjährigen Kongresses wurden die Millerpreise für die Jahre 2020 und 2021 überreicht. PD Dr. med. dent. Gerhard Schmalz (Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Universität Leipzig) nahm stellvertretend für die Mitglieder der vierköpfigen Arbeitsgruppe (Prof. Dr. med. dent. Dirk Ziebolz, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Universität Leipzig; Dr. med. Christian Binner und Prof. Dr. med. Jens Garbade, Klinik für Herzchirurgie, Herzzentrum Leipzig) den bereits im vergangenen Jahr zuerkannten Millerpreis 2020 entgegen. Ausgezeichnet wurde die Arbeit „Mundgesundheit und zahnmedizinische Betreuungssituation von Patienten mit schweren Herzerkrankungen – Beschreibung einer Versorgungslücke und Konsequenzen für ein interdisziplinäres Behandlungskonzept“.
Den Millerpreis des Jahres 2021 erhielt Dr. med. dent. Ramona Maria Schweyen, Halle, für ihre Arbeit „Bewährung zahnärztlicher Versorgungen von Patienten nach multimodaler Tumortherapie im Kopf-Hals-Bereich unter Berücksichtigung von Kaufunktion und Lebensqualität“. Die Jury lobte in ihrer Laudatio die hohe Relevanz des Themas in Verbindung mit dem Aspekt der Lebensqualität.
Die Preisträger PD Dr. med. dent. Gerhard Schmalz, Leipzig, und Dr. med. dent. Ramona Maria Schweyen, Halle, mit DGZMK-Präsident Prof. Dr. Roland Frankenberger (v.l.n.r.) | Sonja Heinzen, Quintessenz Verlag
15 Prozent können mithilfe der Zahnärzte diagnostiziert werden
Eine wichtige Kernbotschaft des mit vielen klinischen Beispielen illustrierten Vortrags: Insgesamt 15 Prozent der seltenen Erkrankungen könnten durch die Hilfe von Zahnärztinnen und Zahnärzten diagnostiziert werden. Die Datenbank ROMSE dient der Erfassung orofazialer Manifestationen bei Menschen mit seltenen Erkrankungen und kann Zahnärztinnen und Zahnärzten als Unterstützung beim Verdacht auf eine seltene Erkrankung dienen.
Schäfer nannte einige Beispiele von seltenen Erkrankungen mit oraler Beteiligung: Bei der Hypophosphatämie handelt es sich um einen Gendefekt, der dazu führt, dass die Phosphatkonzentration im Blut zu niedrig ist. Die daraus folgende gestörte Knochenmineralisation führt zu Knochenschmerzen, Skelettveränderungen und Kleinwuchs. Es kann weiterhin zu Zahnanomalien, zu einem verzögerten Zahndurchbruch und zur Abszessentstehung ohne erkennbaren dentogenen Fokus kommen.
Die Hypophosphatasie (niedrige alkalische Phosphatase) kann sich durch ungewöhnlich frühen Milchzahnverlust bemerkbar machen. Umgekehrt kann ein verzögerter Milchzahnverlust ein Zeichen für ein Hyper-IgE-Syndrom sein (sehr hohe IgE-Spiegel im Serum). Weitere Symptome sind häufig rezidivierende Abszesse und rezidivierende Atemwegsinfektionen. Typisch sind auch Gesichtsasymmetrien, ein hoher Gaumen, tiefliegende Augen, ein breiter Nasenrücken und Dysgnathien.
Keratozysten sind erste Anzeichen des Gorlin-Goltz-Syndroms
Beim Auftreten von auffällig vielen odontogenen Zysten sollte an ein Gorlin-Goltz-Syndrom gedacht werden. Keratozysten gelten als erste Anzeichen der Erkrankung. Im Verlauf entwickeln die Patienten immer wieder Basalzellkarzinome, weshalb eine frühzeitige Diagnose des Syndroms besonders wichtig ist.
Folgende Message gab Schäfer à la Dr. House den (Zahn-)Medizinern mit auf den Weg: Wichtig beim Umgang mit (seltenen) Erkrankungen sei vor allem, die Anamnese genau zu beachten, denn in vielen Fällen brächten die Erkrankten selbst bereits die Lösung des Rätsels mit. Gestellte Diagnosen sollten immer wieder (selbst-)kritisch hinterfragt werden. Die Arbeitsdiagnose dürfe sich ändern, die Entlassdiagnose hingegen müsse stimmen.
Guided Endodontics
Eine der großen Herausforderungen in der Endodontie ist die Vorhersagbarkeit bei Wurzelkanalbehandlungen. PD Dr. med. dent. Thomas Connert, Basel, stellte die „Navigierte Endodontie“ zur Behandlung von Zähnen mit obliterierten Wurzelkanälen und apikaler Parodontitis vor. Hauptursache für kalzifizierte Wurzelkanäle sei ein vorangegangenes dentales Trauma. Rund die Hälfte der deutschen Bevölkerung hat im Lauf ihres Lebens ein dentales Trauma. Bei rund 15 Prozent aller traumatisierten Zähne zeigt sich im Verlauf eine Obliteration, insbesondere nach einer Extrusion oder einer lateralen Dislokation, weniger bei einer Kontusion. Die Behandlung eines solchen Wurzelkanals stelle große Anforderungen an den Zahnarzt oder die Zahnärztin und gehe häufig mit Perforationen einher. Die technische Fehlerquote an Frontzähnen wird in der Literatur mit bis zu 70 Prozent angegeben. Connert führte mehrere Studien an, deren Ergebnisse zeigen, dass die Technik der „Guided Endodontics“ mittels Führungsschablone den Behandlungserfolg deutlich erhöhen kann.
Präzise und minimalinvasive Zugangskavitäten möglich
Den Workflow erklärte Connert detailliert: Nach der Indikationsstellung muss zunächst ein dreidimensionaler Datensatz (DVT) angefertigt werden sowie ein Intraoralscan erfolgen. Eine geeignete Software fusioniert dann die beiden Datensätze. Im entstandenen dreidimensionalen Modell kann nun eine digitale Zugangskavität geplant werden – mit dem virtuellen Abbild des Bohrers, den man später verwenden möchte. Das Softwareprogramm erstellt dann auf Basis der geplanten Daten eine Führungsschablone, die entweder 3-D-gedruckt oder in einem CAD/CAM-System gefertigt wird. Nach Herstellung der Schablone kann diese zur Überprüfung des korrekten Sitzes an einigen Stellen gefenstert werden. Zunächst muss eine minimalinvasive Zugangskavität geschaffen werden. Die Führungsschablone dient dazu, den Bohrer sicher ins apikale Drittel zu führen. Sobald der Schaft des Bohrers an die Hülse der Schablone anstößt, ist der Tiefenstopp erreicht. Der Einfluss des Behandlers auf das Ergebnis ist bei einer guten Planung laut Connert vernachlässigbar.
Nur bei geraden Kanälen anwendbar
Die Technik sei besonders für Frontzähne geeignet. Connert räumte ein, dass die Anwendung im Seitenzahngebiet deutlich schwieriger sei. Einschränkend seien in jedem Fall bei allen Zähnen der hohe technische Aufwand für die Vorbereitung der Führungsschablone sowie die Strahlenbelastung durch das DVT zu nennen. Durchführbar sei die Technik lediglich bei geraden Wurzeln oder in den geraden Anteilen von gekrümmten Wurzeln.
Kommentar
Der Geist lebt!
Wer die imposante Kulisse des großen Saals im Frankfurter Congress Center Messe mit farbenprächtiger Bühne und rund 4.000 Plätzen noch vor Augen hatte, musste sich erst einmal die Augen reiben, als der Bildschirm zur Eröffnung des wissenschaftlichen Teils des Deutschen Zahnärztetages 2021 den Blick in ein kleines Berliner Aufnahmestudio mit Wohnzimmeratmosphäre freigab. Die zentrale bundesweite Veranstaltung der deutschen Zahnärzteschaft hätte sicher einen gewichtigeren Rahmen verdient gehabt. Doch die Pandemie ließ keine andere Wahl.
Notzeiten haben ihre eigenen Gesetze und so verändern sich die Koordinatensysteme der Wahrnehmung und Bewertung. Was vordem wichtig und groß war, konnte sich auch entsprechend präsentieren. Mit der Pandemie wird alles in die Uniformität des kleinsten gemeinsamen Nenners der Möglichkeiten einer Onlineveranstaltung gezwungen. Die Konsequenz erscheint niederschmetternd, könnte aber auch etwas Positives bewirken: Wenn die Größe des Auftritts keinen Hinweis mehr auf die Relevanz einer Veranstaltung geben kann, muss wieder besser hingesehen und zugehört werden, um Wichtiges von Bedeutungslosem zu unterscheiden.
Das begann bereits mit dem Kongressthema. Wollte man eine Reihenfolge bedeutungsarmer Buzzwords und Floskeln aufstellen, wäre das Wort „Herausforderungen“ ganz vorn dabei. Da ist es schon mutig, eine solche Vokabel als Kongressmotto zu setzen und darauf zu vertrauen, dass die fortbildungswillige Zahnärzteschaft nicht darüber hinwegliest.
Wer sich jedoch auf das Kongressthema einließ und sich anmeldete, der wurde reich belohnt mit einem umfassenden Streifzug durch die Herausforderungen des Faches. Die Referate waren hochklassig, die Themen vielseitig gesetzt. Spannendes aus Wissenschaft, Technologie und Versorgung sowie die Präsentation von Therapien und Patientenfällen boten nicht nur Genuss beim Zuhören, sondern auch einen handfesten Nutzen für den Praxisalltag. Lassen Sie sich also nicht durch die „Notatmosphäre“ des äußeren Auftritts verunsichern – der Geist des Deutschen Zahnärztetages lebt und wird seine großartige Form wieder finden. Hoffentlich schon im nächsten Jahr.
Benn Roolf,
Stv. Chefredakteur, Redakteur Wissenschaft und Zahnmedizin zm-Redaktion
Dynamische Navigation
Um diese Limitationen zu reduzieren, wird inzwischen auch an Konzepten für eine dynamische Navigation gearbeitet. Diese funktioniert ohne Schablone, dafür mithilfe eines Markers. Dieser muss sowohl bei der Erstellung des DVTs als auch während der Behandlung im Patientenmund platziert werden – im DVT kann dieser auch im Nachhinein digital eingefügt werden. Des Weiteren wird eine Kamera benötigt, die an ein Navigationssystem angeschlossen wird. Diese muss während der Behandlung den intraoral platzierten Marker sehen und die Information erhalten, welcher Bohrer verwendet wird. In Echtzeit wird angezeigt, wo sich die Bohrerspitze im Zahn des Patienten befindet. Problematisch ist hier allerdings, dass die meisten auf dem Markt erhältlichen Instrumente viel Platz in Anspruch nehmen. Zudem schaut der Behandler während der Behandlung hauptsächlich auf den Monitor, was ein ausgiebiges Training voraussetzt.
Selbstbewusst und demütig – für eine gute Fehlerkultur
Überall, wo in der Berufsausübung die Gesundheit und das Leben von Menschen gefährdet werden können, ist die Vorbeugung von und der Umgang mit Fehlern ein besonders herausforderndes Feld. Nicht jeder individuelle Fehler mündet zwangsläufig in ein umfassendes Versagen mit Schadensfolgen. Doch wie entsteht aus einem Fehler ein Versagen?
Um diese Frage zu erörtern, hatten die Veranstalter den Piloten im Ruhestand und ehemaligen Lufthansakapitän Robert Schröder eingeladen. Wenn sich große Katastrophen ereignen, erklärte Schröder, gebe es immer die Vorstellung, es müssten adäquat große Ursachen dafür verantwortlich sein. Die meisten Fehler seien jedoch oft kleinteilig und banal – etwa wenn sich in der Medizin ein Mitarbeiter bei der Dosierung von Medikamenten um eine Zehnerpotenz verrechne. Dabei seien Fehler nicht immer rein fachlicher Natur, sondern entstünden aufgrund sozialer Dynamiken.
Strenge Hierarchien gefährden den Teamgedanken
Schröder schilderte die Entstehung der bislang größten Katastrophe in der zivilen Luftfahrt, die sich am 27. März 1977 auf dem Flughafen der Kanareninsel Teneriffa ereignet hat. Damals stieß in dichtem Nebel eine gerade landende Maschine der amerikanischen Fluggesellschaft Pan Am mit einem auf der gleichen Bahn entgegenkommenden Flugzeug der niederländischen KLM zusammen. 583 Menschen fanden den Tod.
KLM-Kapitän van Zanten zählte zu den erfahrensten Piloten der Fluggesellschaft und genoss als Chefausbilder höchstes Ansehen in Fachkreisen. An diesem Tag stand van Zanten wegen der Verzögerungen durch das Wetter unter erheblichem Zeitdruck, als er das Flugzeug trotz fehlender Startfreigabe auf die Startbahn rollte. Dieses Manöver widersprach eklatant allen geltenden Sicherheitsregeln. Sowohl der Kopilot als auch die Cockpitbesatzung erkannten zwar den Fehler, brachten aber nicht die Kraft auf, das deutlich anzusprechen. Einer Koryphäe wie van Zanten widerspricht man nicht. Einzig der in der Cockpit-Hierarchie zuunterst stehende Flugingenieur fragte schüchtern, ob denn die angekündigte Pan Am bereits von der Bahn sei. Van Zanten wischte den Einwand beiseite und setzte zum Start an. Sekunden später kam es zum Crash.
In der Auswertung des Unfallhergangs wurde deutlich, dass es maßgeblich soziale Dynamiken waren, die zum Unglück geführt hatten. Das „Hierarchie-sichernde Verhalten“ von van Zanten und der gehorsame Respekt der Besatzung gegenüber dem Chef hatten „nichts mit Fliegerei“ zu tun, betonte Schröder.
„Any idea?“ – Der Chef als Teamplayer
Als positives Beispiel zitierte Schröder den Flugkapitän Chesley Burnett Sullenberger, der am 15. Januar 2009 155 Menschen das Leben rettete, als er in einer spektakulären Aktion mit einem Airbus A 320 auf dem New Yorker Hudson River notwassern musste. Kurz vor der Landung fragte er ins Cockpit hinein, ob jemand noch eine Idee habe. Sullenberger war mit 20.000 Flugstunden ebenfalls ein äußerst erfahrener Pilot und Ausbilder wie van Zaanten. Er war sich jedoch im entscheidenden Moment nicht zu schade, das gesamte Team noch einmal zu fragen, ob er etwas übersehen habe. Diese „Confident Humility“, die von eigenem Selbstbewusstsein getragene Demut vor der eigenen Fehlbarkeit sei eine der wichtigsten Voraussetzungen, auch komplizierte Situationen zu meistern, resümierte Schröder.
Innovation geht nur mit Geschäftsmodell
In Deutschland werde Innovation gern als etwas Technisches gesehen, das mittels Forschungsanstrengungen entwickelt wird und einen sichtbaren Nutzen abwirft. Das greife jedoch zu kurz und sei nur die Beschreibung einer Erfindung, erklärte Prof. Dr. Thomas F. Flemmig, Dekan der Zahnmedizinischen Fakultät und Kingboard Professor in Advanced Dentistry an der University of Hong Kong, in seinem Vortrag. Eine Erfindung werde erst zu einer Innovation, wenn die neue Idee mit einem Geschäftsmodell kombiniert wird. Jede Erfindung müsse sich erst am Markt beweisen und das sei keineswegs banal, sondern ein komplexer Prozess. Die meisten Erfindungen schafften es nicht zum Geschäftsmodell oder scheiterten am Markt, etwa wenn nach einem anfänglichen Erfolg den begeisterten Erst- und Frühanwendern der Technologie die Mehrheit der Kunden nicht folge, so Flemmig.
Disruptive Innovationen in der Zahnmedizin?
Die Steigerungsform von „Innovation“ ist die „disruptive Innovation“. Anders als beim einfachen Verbessern von Vorhandenem ist die „disruptive Innovation“ ein Werk der Zerstörung: Altes wird durch Neues nicht verbessert, sondern radikal ersetzt. Entsprechend attraktiv ist das Disruptive für Wissenschaftler, Unternehmer und nicht zuletzt Investoren. Weltweit werden mit viel öffentlichem und privatem Kapital Innovationscluster als Ökosysteme geschaffen, in denen nach disruptiven Technologien der Zukunft gesucht wird.
Welche Innovation sich schließlich am Markt durchsetzt und „disruptiv“ wirkt, ist freilich als Prognose schwer vorhersagbar. Flemming verwies auf die digitale Aligner-Technik, die das Potenzial zur Disruption habe. Bislang sei die Technologie noch fest in den Händen von Zahnmedizin und Kieferorthopädie. Ob sie sich erfolgreich über Aligner-Start-ups direkt an den Patienten bringen lässt, sei aber noch völlig offen. Potenzial für disruptive Innovationen sieht Flemming auch in der Kombination von Künstlicher Intelligenz (KI) und 3-D-Druck. Die Analyse radiologischer Aufnahmen mittels KI könne künftig ebenfalls relevant werden. Diese Technologien könnten die etablierten Behandlungsverfahren nachhaltig verändern oder gar vollkommen ersetzen.