Mir händ es Büechli
In den 1980er-Jahren war die Kariesrate bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland erschreckend hoch. Gegenaktionen beschränkten sich auf Appelle zum Zuckerverzicht und den Bau aufwendiger Zahnputzbrunnen in manchen Schulen. Die Schweiz hatte 30 Jahre vorher angesichts einer noch höheren Kariesprävalenz die Kollektivprophylaxe als wirksamstes Instrument erkannt und Thomas Marthaler, damals noch Assistent des großen Mühlemann am zahnärztlichen Institut der Universität Zürich, war der Initiator, der konsequent die systematische Schulzahnpflege und seit 1955 die Verwendung von fluoridiertem Speisesalz in jedem Haushalt vorantrieb.
Als „unermüdlicher Schaffer“ war er dazu nicht nur in den Schweizer Kantonen unterwegs, sondern in der ganzen Welt – natürlich und immer wieder in den USA, wo er seine erste Motivation in Boston an der Forsyth Kinder-Zahnklinik gewonnen hatte. Später dann als Motivator und Fluoridexperte in unzähligen Ländern rund um den Globus.
In Deutschland waren Versuche, fluoridiertes Speisesalz zuzulassen, mehrfach gescheitert. Die etablierte Zahnärzteschaft fürchtete Einbußen, die Hochschule hielt sich bedeckt. Ein Gutachten von Marthaler schien mir 1990 die einzige Chance, unsere Regierung anhand der Schweizer Erfolge – bereits 1985 betrug die Reduktion der Zahnschäden dort über 50 Prozent – von der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Salzfluoridierung zu überzeugen. Im Flugzeug nach Zürich fragte mich Friedrich Räuchle, Geschäftsführer der Reichenhaller Saline und mein Partner in dieser Mission, was denn so ein Gutachten kosten würde, und ich sagte ihm, mit circa 20.000 DM müsse er schon rechnen – er schluckte. Und dann saßen wir im zahnärztlichen Institut in der Plattenstraße vor dem Professor, der mich und erst recht Räuchle in seiner verhaltenen Art etwas verunsicherte. Schließlich erklärte er sich bereit, die gutachterliche Stellungnahme zu erarbeiten.
Auf Räuchles Frage nach den Kosten machte Marthaler wieder eine viel zu lange Pause und sagte: „Mir händ es Büechli.“ Wie bitte? „Mir händ es Büechli.“ Auch ich verstand nicht, dass damit eine Spende für das Sparbuch der Instituts-Abteilung gemeint war. Räuchle erzählte später, es seien 2.000 DM gewesen, die das Büechli erwartet habe. Persönlich sah Marthaler, wie er mir später erzählte, sein Gutachten als Geschenk an unseren Deutschen Arbeitskreis für Zahnheilkunde (DAZ), dessen Bemühungen um systemische Kariesprophylaxe er seit ein paar Jahren verfolgt hatte.
Das war 1990. Ein weiteres Jahr verging mit der Überwindung weiterer Hindernisse, bis die vorläufige Zulassung 1991 erteilt wurde – sie besteht nach fast 30 Jahren noch immer vorläufig. Ungeachtet dessen ist das Fluoridsalz inzwischen zu einem festen Baustein der erfolgreichen Kariesprophylaxe in Deutschland geworden.
Curriculum Vitae
Prof. Dr. med. dent. Thomas M. Marthaler
1949–1953: Studium der Zahnmedizin in Zürich
1953–1954: Zahnarzt am Forsyth Dental Infirmary, Boston (USA)
1954–1956: Assistent, Promotion
ab 1955: Tätigkeiten in Lehre, Forschung und im öffentlichen Gesundheitswesen; Studien zu Karies und Fluoriden, Engagement für die Verbesserung der Zahngesundheit von Kindern und Jugendlichen
1969–1975: Assistenzprofessor für Orale Epidemiologie und Präventivzahnmedizin
ab 1975: Außerordentlicher Professor für Orale Epidemiologie und Präventivzahnmedizin
1995: Emeritierung
Marthaler saß danach 15 Jahre lang mit uns am Tisch des wissenschaftlichen Beirats der Informationsstelle für Kariesprophylaxe IfS des DAZ. Mit seinen jahrzehntelangen Erfahrungen – der Erarbeitung der wissenschaftlichen Grundlagen der Wirkungsweise von fluoridiertem Speisesalz – und, zusammen mit seinem Kollegen Prof. Klaus König, der des Amin-Fluorids für Zahnpasten und Gelees, mit seiner Schatztruhe von etwa 300 Publikationen und seiner Tätigkeit in vielen internationalen Fachorganisationen war seine Kompetenz für uns ein Geschenk.
Der langjährige fachliche Kontakt brachte uns schließlich auch privat näher. Unvergesslich – die Erinnerung an die Bergtour im Karwendel mit unseren Frauen, als er uns auf der Hütte von seinem zweiten Leben als Musiker erzählte, den Existenzblitzen als Klarinettist und Begleiter von Ella Fitzgerald und Charlie Parker, von den Jam-Sessions in Zürich und vom – für ihn – „Ächten“, der Volksmusik mit Klarinette und Schwyzerörgeli. Unvergesslich besonders unser letzter Besuch in der Wohnung am Bellerive in Zürich. Da war Tomi bereits reduziert, nicht lange danach der unvermeidliche Umzug in ein Pflegeheim, in dem er wohlbehütet umsorgt wurde, sich jetzt jedoch, 91 Jahre alt, mit dem SARS-CoV-2-Virus infizierte und am 13. November verstarb.
Ich erinnere mich an seinen Blick, an den interessanten Erzähler, an die Aufmerksamkeit des freundlichen, geduldigen Zuhörers, an den Freund, den ich nicht vergessen werde.
Dr. Hanns-Werner Hey