Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft

Ist eine Bürgerversicherung solidarischer?

Eine Bürgerversicherung nach den Regeln der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beseitige Ungerechtigkeiten und stärke die Solidargemeinschaft der GKV-Bestandsversicherten – so wird das Konzept seit zwei Jahrzehnten politisch beworben. Doch vermag das Konzept auch drängende ökonomische Probleme zu lösen?

Pro Kopf gerechnet sind die GKV-Ausgaben seit zwei Dekaden jahresdurchschnittlich um einen Prozentpunkt stärker gestiegen als die beitragspflichtigen Einkommen. Offenkundig leidet das GKV-System unter Fehlanreizen, die das Auseinanderklaffen beider Entwicklungen erklären können. Auf der einen Seite mangelt es den Versicherten an Ansporn, sich bei einkommensbezogenen Beiträgen und freier Arztwahl freiwillig auf kostengünstige Angebote zu beschränken. Auf der anderen Seite behindern zum Beispiel einheitliche Leistungsentgelte den Wettbewerb um effiziente Versorgungsmodelle. Abhilfe böten zum Beispiel Managed-Care-Strukturen, die zu unterschiedlichen Beiträgen angeboten werden. Dafür bedarf es aber keiner Bürgerversicherung.

Solidarität ist messbar

Bleibt der Wunsch nach Solidarität und Gerechtigkeit. Doch was bedeutet Solidarität in der GKV? Kann man das messen? Ja, denn wer in der GKV einen Beitrag entrichtet, der höher ist als seine aktuelle, nach Alter und Geschlecht durchschnittliche Schadenserwartung, der leistet einen Solidarbeitrag in Höhe der entsprechenden Differenz. Nach einer aktuellen Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft ist das bei rund 4 von 10 Versicherten der Fall: 36,6 Prozent der GKV-Ausgaben werden darüber finanziert.

Mit den Privatversicherten und Beamten käme aber eine Gruppe hinzu, in der höhere Altersklassen häufiger vertreten sind als in der GKV – das kostet. Dagegen liegen die beitragspflichtigen Einkommen im Durchschnitt höher. Unterm Strich könnte deshalb ein ausgabenneutral berechneter Beitragssatz um bis zu einen Prozentpunkt sinken. Damit würde das Solidaritätsprinzip aber nicht gestärkt. Denn während der Anteil der Solidarbeitragszahler kaum steigt, sinkt in einer Bürgerversicherung der Anteil der Ausgaben sogar leicht, der über Solidarbeiträge finanziert würde. 

Abgewälzt auf Die Jungen 

Ungelöst bliebe aber das demografische Problem. Denn mit dem demografischen Wandel werden Altersklassen mit überdurchschnittlich hohen Ausgaben und unterdurchschnittlichen Finanzierungsbeiträgen künftig immer häufiger besetzt. Bei gegebenem Beitragssatz drohen also im Umlageverfahren Defizite, der Beitragssatz muss steigen – egal ob in der GKV oder in einer Bürgerversicherung. Zwar erfolgt auch dann in jeder Periode ein solidarischer Ausgleich zwischen Jung und Alt. Auf Dauer belastet der aber die jeweils jüngeren Kohorten stärker.

Immerhin ließen sich die Lasten im Querschnitt der Bevölkerung anders verteilen. Doch bei einem überproportional starken Ausgabenwachstum währte die Freude der GKV-Bestandsversicherten darüber nur kurz. Denn die Ausgabendynamik wird dadurch nicht gebremst. Und für jene, die eine „gerechtere“ Einkommensverteilung in der Bevölkerung anmahnen, bietet das Steuer-Transfersystem treffsicherere Kriterien.

Die Effekte einer Bürgerversicherung

  • Zum Zeitpunkt einer Systemumstellung könnte eine Bürgerversicherung die GKV-Bestandsversicherten entlasten, denn ein ausgabenneutraler Beitragssatz ließe sich einmalig um 0,8 bis 1,0 Punkte reduzieren. Das Solidaritätsprinzip würde damit aber nicht gestärkt. Der Anteil der Nettozahler, die einen Solidarbeitrag leisten, stiege zwar um rund 2 Prozentpunkte. Der Anteil solidarisch finanzierter Ausgaben würde aber nicht das ursprüngliche GKV-Niveau erreichen.

  • Allerdings würden GKV-Bestandsversicherte in einer Bürgerversicherung dauerhaft entlastet. Bei unverändert überproportional starkem Ausgabenwachstum sattele die Beitragssatzdynamik nämlich auf einem niedrigeren Niveau auf, so dass die GKV-Versicherten günstiger gestellt wären als im Status quo.

  • Aufgrund der Alterung der Versichertengemeinschaft müssten die jüngeren Jahrgänge jedoch künftig steigende und damit höhere Lasten zur Finanzierung der Umverteilungen schultern als ältere Kohorten. Auch eine umlagefinanzierte Bürgerversicherung könne dieses Problem nicht heilen. Umverteilungen ließen sich zwar zu jedem Zeitpunkt realisieren, aber nur zulasten intergenerativer Solidarität.

  • Damit gerate das Solidaritätsprinzip zunehmend selbst unter Rechtfertigungsdruck. Selbst wenn eine Entlastung der GKV-Bestandsversicherten als gerecht erachtet werde, müsse dieser Effekt gegen eine fortgesetzt intergenerative Lastverschiebung sowie deren Ausweitung auf die gesamte Bevölkerung abgewogen werden.

  • Gleichzeitig leiste eine Bürgerversicherung keinen substanziellen Beitrag, den überproportional starken Ausgabenanstieg zu begrenzen. Denn Treiber wie die Bevölkerungsalterung, der medizinisch-technische Fortschritt sowie institutionell bedingte Fehlanreize wirken laut IW unverändert fort. Vielmehr würde der steuerähnliche Charakter der lohnbezogenen Beitragsfinanzierung auf weitere Bevölkerungsteile ausgeweitet, statt verhaltenssteuernde Anreize in der GKV zu implementieren, die eine effiziente Versorgung begünstigen.

  • Die Umverteilung müsse auch intergenerativ gerecht organisiert sein. Andernfalls drohe die Zustimmung jüngerer Generationen zu erodieren. Damit rücken laut IW andere Finanzierungsformen in den Fokus, die intergenerativ neutral wirken. So eröffneten ergänzende kapitalgedeckte Finanzierungselemente in der GKV die Möglichkeit, solidarische Umverteilungen dauerhaft zu begrenzen, ohne dafür das anwartschaftsgedeckte PKV-System aufgeben zu müssen.

Beznoska, Martin / Pimpertz, Jochen / Stockhausen, Maximilian, 2021, Führt eine Bürgerversicherung zu mehr Solidarität? Eine Vermessung des Solidaritätsprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung, IW-Analysen, Nr. 143, Köln

Das Solidaritätsprinzip wirkt eben nicht nur im Querschnitt der aktuellen Bevölkerung, es wirkt sich auch auf die intergenerative Balance aus. Wenn aber in der anwartschafts- gedeckten Privatversicherung altersabhängig steigende Ausgaben nicht auf nachfolgende Generationen überwälzt werden können, dann lässt sich intergenerative Solidarität nicht dadurch stärken, ausgerechnet dieses System aufzugeben.

Umgekehrt wird ein Schuh draus: Würde der beitragsfinanzierte Anteil in der GKV begrenzt, dann müsste der verbleibende, künftig steigende Ausgabenanteil über Versicherungsprämien finanziert werden – idealerweise im Anwartschaftsdeckungsverfahren. Das Solidaritätsprinzip würde dann nachfolgende Generationen nicht mehr überfordern. Und über die Prämien könnten auch Kostenunterschiede für präferenzgerechte Tarifoptionen abgebildet werden – zum Beispiel zugunsten effizienter Versorgungsmodelle, ja selbst Tarife mit privatärztlicher Leistungsabrechnung wären für GKV-Versicherte denkbar. Die Bürgerversicherung ist also nur eine mögliche Antwort auf den Vorwurf einer „Zwei-Klassen-Medizin“, eine andere besteht in der Vielfalt präferenzgerechter Lösungen für GKV-Versicherte.

Dr. Jochen Pimpertz

Kompetenzfeldleiter „Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung“ Institut der deutschen Wirtschaft (IW) pimpertz@iwkoeln.de

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