Auswirkungen der Pandemie auf Diagnostik und Therapie des Mundhöhlenkarzinoms
Die COVID-19-Pandemie stellte die Medizin vor das Problem, einerseits Patienten und medizinisches Personal vor einer potenziell tödlichen Infektionserkrankung zu schützen, andererseits aber den lebensnotwendigen Zugang zu zeitkritischen invasiven Krebstherapien offenzuhalten. Viele befürchteten einen Einbruch der Versorgungsleistung im ambulanten und im stationären Bereich, sowohl in Bezug auf die Präventionsleistung als auch auf die Therapie maligner Läsionen.
Zahlreiche Studien aus anderen Ländern lassen eine erhöhte Inzidenz von Krebserkrankungen in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie vermuten [Arduino et al., 2020; Jacob et al., 2021; Krebsregister Belgien, 2020], jedoch fehlten bislang Daten aus Deutschland, die eine Untersuchung des Themas ermöglichen. Mittels einer multizentrischen Kohortenstudie der Universitätskliniken aus Mainz, Kiel und Berlin, die insgesamt über 600 Patienten einschloss, wurden die Auswirkungen der Pandemie auf die Krankenversorgung und Krankheitsstadien bei Patienten mit Mundhöhlenkarzinomen untersucht.
Hierzu wurden Daten von Patienten gesammelt, deren Krebserkrankung während eines bestimmten Zeitraums erstdiagnostiziert wurde. Eingeteilt wurden die Zeiträume in „Lockdown“ (13.03.2020 bis 16.06.2020), „Post-Lockdown“ (17.06.2020 bis 01.11.2020) und entsprechend äquivalente Zeiträume in den Jahren 2018 und 2019 als Referenz (Abbildung 1). Erhoben wurden die in der Tabelle dargestellten Parameter.
Die Datenanalyse ergab insgesamt 653 Patienten mit der Erstdiagnose eines Mundhöhlenkarzinoms in den entsprechenden Zeiträumen. Die gepoolte Analyse für alle Kliniken erbrachte eine stabile Verteilung der Patientenzahlen über die Jahre und auch in den eingegrenzten Zeiträumen. Auch die Verteilung der Tumorstadien zeigte sich relativ stabil mit einem Anteil von 50 Prozent hohen Stadien (UICC III und IV) zwischen März und Juni, während in der „Post Lockdown“-Zeit der Anteil hoher Stadien gegenüber den Vorjahren leicht abnahm (50 Prozent gegenüber 59 Prozent). Die Auswertung hinsichtlich der Zeit zwischen Erstdiagnose und Therapie zeigte einen Trend in Richtung einer schnelleren Therapieeinleitung während der „Lockdown“-Zeit im Jahr 2020 (23 Tage gegenüber 27 Tagen). Interessanterweise verstärkte sich dieser Effekt bei interner Diagnosestellung weiter (21 Tage) (Abbildung 2).
Die aktuellen Inzidenzwerte der SARS-CoV-2-Infektionen zeigen, dass die damit verbundenen Konsequenzen weiterhin das Gesundheitssystem und die Gesellschaft beeinflussen werden. Der Politik kommt dabei eine besonders wichtige Rolle zu, da sie einerseits mittels restriktiver gesetzlicher Regelungen die Sicherheit von Patienten und Menschen in Heilberufen gewährleisten, aber auch den Zugang zur medizinischen Versorgung sicherstellen muss. Gerade die Zahnmedizin und die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie zählen aufgrund des nicht zu vermeidenden Aerosolkontakts zu den besonders gefährdeten Bereichen in der Pandemie.
Eine multizentrische Studie aus Italien konnte nachweisen, dass etwa vier Prozent aller Assistenzärzte in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie zu Beginn der Pandemie positiv auf das SARS-CoV-2 Virus getestet wurden [Allevi et al., 2020]. Gerade solche Meldungen verstärkten die Diskussion um die Frage, welche Maßnahmen zum Schutz des Personals ergriffen werde sollten. Auf der anderen Seite weisen zahlreiche Studien auf eine höhere Vulnerabilität von Tumorpatienten gegenüber schwerwiegenden Verläufen einer COVID-19-Infektion hin [Allevi et al., 2020], so dass gerade diese Gruppe, die durch die notwendigen Arztkontakte besonders gegenüber Infektionserkrankungen exponiert ist [Liang et al., 2020; Kutikov et al., 2020; Giesen et al., 2020], verstärkt geschützt werden muss. In Anbetracht von 5.000 erstdiagnostizierten oralen Krebserkrankungen pro Jahr in den USA [Liang et al., 2020] wird aber auch deutlich, dass eine klare und systematische Regelung des Zugangs zur medizinischen Versorgung, einerseits im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen, aber auch zur Durchführung der Diagnostik und Therapie bei schon festgestellter Tumorerkrankung einen großen Stellenwert besitzt.
Kopf-Hals-Tumore gehören mit einer durchschnittlichen Verdopplungszeit von 99 Tagen zu den am schnellsten wachsenden Tumorentitäten [Sud et al., 2020]; eine verzögerte Diagnosestellung ist mit einem signifikant schlechteren Therapieergebnis verbunden [Boehm et al., 2020]. Neben den persönlichen gesundheitlichen, emotionalen und sozialen Auswirkungen einer Tumorerkrankung ist durch eine verzögerte Diagnosestellung auch mit einem massiven Anstieg der Behandlungskosten zu rechnen [Dinmohamed et al., 2020; Neal et al., 2015; Goldsbury et al., 2018].
Daten aus Deutschland weisen auf eine deutliche Reduktion ambulanter Patientenkontakte während der Pandemie hin [Zhang et al., 2021]. In Anbetracht dieser Daten wäre mit einem Anstieg der Neuerkrankungsrate durch die Verzögerung der Diagnostik und Therapie zu rechnen. Die in dieser Studie erhobenen Daten konnten diese Vermutung jedoch nicht bestätigen, wobei ein Trend zu einem Anstieg an frühen Tumorstadien nach Abklingen des „Lockdowns“ in Rheinland-Pfalz zu beobachten war (Abbildung 3). Dies könnte damit zusammenhängen, dass es in Rheinland-Pfalz zur Schließung zahlreicher Zahnarztpraxen während des „Lockdowns“ kam, während der Betrieb in den anderen Bundesländern weitestgehend aufrechterhalten wurde. Trotz einer während der „Lockdown“-Zeit reduzierten Dauer zwischen Erstdiagnose und Therapie, weisen diese Zahlen auf eine potenziell gefährliche Entwicklung unter Pandemiebedingungen hin, der es durch politische Maßnahmen – auch in Zukunft – präventiv entgegenzuwirken gilt. Hier können die Identifizierung und die enge Anbindung von Risikopatienten – unter Einhaltung der Hygienebedingungen –, die verstärkte Patientenedukation und die Förderung der Wachsamkeit, insbesondere unter reduziertem Zugang zum Gesundheitssystem, eine maßgebliche Rolle spielen. Der Ausbau der Telemedizin könnte hierbei möglicherweise ebenfalls einen wichtigen Beitrag leisten.
Fazit
Trotz einer noch kompensiert erscheinenden Versorgungslage in Deutschland weisen die Zahlen aus Rheinland-Pfalz auf einen bedenklichen Trend in Verbindung mit der Schließung von Zahnarztpraxen hin. In Anbetracht der bislang fortbestehenden Infektionslage und neuer Virusmutationen besteht der Bedarf nach einem strukturierten und bundesweiten Notfallplan unter Pandemiebedingungen. Hierbei stehen die Identifikation und die nahe Anbindung von Risikopatienten unter Einhaltung strikter Hygienebedingungen und die zentrale Rolle der Zahnärzte/innen in der Früherkennung maligner und prämaligner Läsionen im Fokus.
Die Studie ist erschienen im Schweizer Online-Fachjournal „Cancers“: Heimes D, Müller LK, Schellin A, Naujokat H, Graetz C, Schwendicke F, Goedecke M, Beck-Broichsitter B, Kämmerer PW: Consequences of the COVID-19 Pandemic and Governmental Containment Policies on the Detection and Therapy of Oral Malignant Lesions – A Retrospective, Multicenter Cohort Study from Germany. Cancers (Basel). 2021 Jun 9;13(12):2892. doi: 10.3390/cancers13122892. PMID: 34207863; PMCID: PMC8227890.
Dr. Med. Diana Heimes
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer und Gesichtschirurgie – plastische Operationen
Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 2, 55131 Mainz
Dr. Med. Lena-Katharina Müller
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, plastische Operationen,
Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg Universität
Augustusplatz 2, 55131 Mainz
Alexandra Sonnenburg
Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, plastische Operationen,
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Arnold-Heller-Str. 3, 24105 Kiel
PD Dr. Dr. Hendrik Naujokat
Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, plastische Operationen,
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Arnold-Heller-Str. 3, 24105 Kiel
PD Dr. Christian Graetz
Klinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Funktionsbereich Parodontologie,
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Arnold-Heller-Str. 3, Haus 26, 24105 Kiel
Univ.-Prof. Dr. Med. Dent. Falk Schwendicke
Abteilung für orale Diagnostik, Digitale Zahnheilkunde und Versorgungsforschung,
Charité Centrum 3 für Zahn-, Mund und Kieferheilkunde,
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Aßmannshauser Str. 4–6, 14197 Berlin
Dr. Med. Dr. Med. Dent. Maximilian Goedecke
Klinik für Mund-, Kiefer und Gesichtschirurgie,
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
Prof. Dr. Med. Dr. Med. Dent. Benedicta Beck-Broichsitter
Klinik für Mund-, Kiefer und Gesichtschirurgie,
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
Univ.-Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, MA, FEBOMFS
Leitender Oberarzt und stellvertretender Klinikdirektor Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Plastische Operationen,
Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 2, 55131 Mainz
peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de
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