Der Biss ins Fett
Joseph Heinrich Beuys wird am 12. Mai 1921 in Krefeld geboren. Ein Jahr später zieht seine Familie – er stammt aus wohlhabenden bürgerlichen Verhältnissen – in die niederrheinische Stadt Kleve. Von 1931 bis 1940 besucht er dort das Gymnasium. Im Spätsommer 1940 geht Beuys freiwillig zur Luftwaffe und beginnt eine Ausbildung zum Bordfunker und Flugzeugführeranwärter. Nach verschiedenen Einsätzen als Funker und Bordschütze eines Sturzkampfgeschwaders kommt es über der Krim 1944 zum Absturz, bei dem Beuys schwer verletzt wird. Er überlebt und kommt in britische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1945 entlassen wird.
Die Tataren haben ihn mit Filz und Fett gerettet
Der Absturz auf der Krim ist auch für sein späteres künstlerisches Schaffen von Bedeutung, da er seine Genesung danach in einer fiktiven Geschichte darstellt. Fakt ist, dass Beuys bereits 24 Stunden nach dem Absturz am 17. März 1944 in einem Militärlazarett aufgenommen wird, das er Anfang April wieder verlassen kann. Beuys spricht später von seiner Rettung durch Tataren, die ihn zwölf Tage mit schamanischen Riten, Filz und Fett behandelt hätten. Im Grunde gehe es Beuys um „die Erschaffung eines Selbstbildes, das sich schon ganz früh mit Fett und Filz in ihrer Bedeutung für Heilungsprozesse auseinandersetzt“, sagt Dr. Barbara Strieder vom Museum Schloss Moyland, das etliche seiner Werke im Bestand hält.
Ab 1946 studiert Beuys Bildhauerei an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf, das Studium schließt er 1951 als Meisterschüler bei Ewald Mataré ab. 1961 wird Beuys zum Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie ernannt. 1964 nimmt er erstmals an der documenta III teil. Mit Eva-Maria Wurmbach, die er 1959 heiratet, hat er einen Sohn (Boien Wenzel) und eine Tochter (Jessyka).
Ein Friedenshase aus der Zarenkrone
Meine erste persönliche Begegnung mit der Kunst von Joseph Beuys fand 1982 bei der 7. documenta in Kassel statt: Beuys transformierte hier eine Kopie der Krone von Zar Ivan des Schrecklichen zu einem Friedenshasen und einer Sonnenkugel. Diese neu gegossenen Objekte wurden mit Schlacke, den übriggebliebenen Perlen und Edelsteinen in einem Stahlsafe mit Panzerglas verschlossen. So sind sie heute in der Stuttgarter Staatsgalerie zu besichtigen. Die zaristische Krone als Herrschaftssymbol wurde durch den alchemistischen Umformungsprozess quasi gereinigt. „Es spielt sich ein zwischen Materie und Geist organisch verlaufender Evolutionsprozess ab, der auch auf der höheren Ebene des Denkens und Handelns Energien der Wandlung und der Schöpfung freisetzt“, heißt es in der Werksbeschreibung der Galerie.
Die Lehrtätigkeit von Beuys an der Kunstakademie in Düsseldorf nimmt mit seiner fristlosen Kündigung 1972 ein jähes Ende. Grund sind Auseinandersetzungen um die Abweisung von Studienbewerbern.
Beuys meldet sich auch immer wieder politisch zu Wort. 1967 beteiligt er sich an der Gründung der Deutschen Studentenpartei. Eine Organisation für Nichtwähler wird 1970 gegründet und es folgen Initiativen für die direkte Demokratie mittels Volksabstimmungen. 1980 nimmt er am Gründungsparteitag der Grünen in Karlsruhe teil und kandidiert sogar für das Direktmandat im Wahlkreis Düsseldorf-Nord. Die Grünen geben ihm für eine erneute Kandidatur bei der Bundestagswahl 1983 aber keinen vorderen Listenplatz und Beuys zieht sich aus der Partei zurück.
Die Zähne im strömenden Kreislaufprinzip
In seiner Kunst beschäftigt sich Beuys auch intensiv mit dem Schädel unter verschiedenen Blickwinkeln. „Zähne, besonders Molaren, sowie Geweih und Hörner als organoid ausdifferenzierte Bildungen von Hartsubstanzen des Viszerokraniums brachte er sehr bildhaft unmittelbar mit dem strömenden Kreislaufprinzip in Verbindung“ [Zum „Urschlitten“ von Joseph Beuys, H. Schulz, in: Mund-, Kiefer-und Gesichtschirurgie, Bd. 3, 1999]. Während der Aktion „Hauptstrom FLUXUS“ 1967 in Darmstadt hinterlässt Beuys seine Gebissabdrücke im Werkmaterial. Die „Mundplastik“ ist auf dem Foto oben mit einem „Fettgerät“ zu sehen. Beide Objekte befinden sich heute im Hessischen Landesmuseum Darmstadt.
Denkmal: Schweinemolar in Plastilin
1958 entsteht die kleine Plastik „Denkmal“. Sie zeigt einen Schweinezahn, einen Molaren, der in einem rot-braunen Plastilinklumpen steckt. Das Kunstwerk gehört zur Sammlung Museum Schloss Moyland.
Die Zeichnungen „Die Zähne“ von 1961 zählen ebenfalls zum Werkbestand in Schloss Moyland. Mit diesem Doppelblatt Bleistift auf bräunlichem, leicht quergestreiftem Seidenpapier greift Beuys das Sujet des „Urschlitten“ auf. Die beiden Blätter sind auf chamoisfarbenem Papier übereinander geklebt. Wir sehen den Unterkiefer eines Menschen auf einer Kufenkonstruktion. „Die Basis des Corpus mandibulare wird gedanklich zur Gleitfläche, zu Schlittenkufen, verwandelt“ [Schulz]. „Gleitinstrumente wie Schlitten oder Schuhe verweisen als Metaphern für Bewegung auf eine begriffliche und erkenntnisbezogene Ebene. Die Bewegung wird als eine Qualität an sich betrachtet, als eine Form der Veränderung, wobei räumliche Ortswechsel auch die geistige Landschaft des Menschen berühren können“ [S. Fabio, Joyce und Beuys, Ein intermedialer Dialog, 1997, zitiert in: Schulz]. Beuys transformiert schon in seinen frühen Zeichnungen Schädel und Unterkiefer zum Schlitten. Mit dem Schädel-Urschlittenthema verweist Beuys „auf transitorische Bewußtseinsschichten zwischen Tod und Leben“ [Schulz].
Mitte Januar 1986 erhält Beuys für sein Werk den Wilhelm-Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg. Nur wenige Tage später stirbt er am 23. Januar an den Folgen einer seltenen Lungenerkrankung. Seine Asche wurde im darauffolgenden April in der Nordsee verstreut.
Die Schamanen bei Beuys
Mit der Ausstellung zum 100. Geburtstag gehen die Kuratoren der Bedeutung des Schamanismus in der Kunst von Joseph Beuys nach. Im Text wurde bereits auf Beuys‘ imaginäre Rettung durch Tataren auf der Krim 1944 hingewiesen. Tataren auf der Krim waren und sind Muslime. Sie mit Schamanismus in Verbindung zu bringen, ist ein Konstrukt von Beuys, was aber den Stellenwert für sein Schaffen nicht mindert. „Beuys thematisierte in frühen Werken immer wieder Schamanen und die Kontexte, in denen diese agieren. Die Figur des Schamanen verkörperte für Beuys grundlegende Manifestationen spiritueller Zusammenhänge. Er betrachtete dessen Handlungen als therapeutisches Wirken für die Gemeinschaft, verbunden mit einer Mittlerfunktion zwischen Natur und Kosmos, zwischen Materiellem und Spirituellem. Zudem nahm Beuys, etwa in Aktionen, die Rolle des Schamanen an oder bediente sich schamanischer Praktiken. Er belebte auf vielfältige Weise die Figur des Schamanen für sich und richtete seinen Blick dabei auf den für ihn so wichtigen eurasischen Raum“ [Information zur Ausstellung, Museum Schloss Moyland]. Die Ausstellung will dem Besucher die schamanischen Lebenswelten näherbringen, auf die sich Beuys in seiner Kunst bezieht. Deutlich wird, welche Relevanz der Schamanismus auch für zeitgenössische Künstler hat.
Die Ausstellung in Schloss Moyland in Bedburg-Hau läuft vom 2. Mai bis zum 29. August 2021.