Die Rolle von Versorgungsforschung

Impulse für den Praxisalltag und die Professionsentwicklung

Andreas Bartols
Welchen Nutzen haben neue zahnmedizinische Studien für den zahnärztlichen Alltag? Ist das Forschungsthema angemessen – oder geht es am Bedarf vorbei? Was die Versorgungsforschung bewirken kann, zeigen drei Beispiele aus dem Forschungsumfeld der Akademie für Zahnärztliche Fortbildung Karlsruhe.

In der Akademie für Zahnärztliche Fortbildung in Karlsruhe und in deren Umfeld hat die Bedeutung der Versorgungsforschung in den vergangenen Jahrzehnten beständig zugenommen. Sowohl in der Akademie selbst als auch im Arbeitskreis Zahnärztliche Therapie (AZT), der mit der Akademie verbunden ist, wie von Masterabsolventen der Akademie in Kooperation mit der Universität Magdeburg wurden zahlreiche Versorgungsforschungsstudien durchgeführt. 

Versorgungsforschung

Die Versorgungsforschung ist eine vergleichsweise junge Disziplin der zahnmedizinischen Wissenschaft. Sie bedient sich grundsätzlich der gleichen methodischen Inventare wie andere Forschungsbereiche der Zahnheilkunde. Daher unterscheidet sie sich nicht so sehr durch ihre Methodik, sondern vielmehr durch ihren Forschungsgegenstand – die Gesundheitsversorgung.

Die Versorgungsforschung setzt also beim Gesundheits-Outcome an, untersucht aber auch das Umfeld der Gesundheitsversorgung. Dazu zählen der Bereich der Regulierung und Steuerung des Gesundheitssystems, Umwelt, Ernährung und andere Politikbereiche sowie die Allokation finanzieller Ressourcen. Wesentliche Charakteristika sind die Beobachtung von tatsächlichen Therapieeffekten unter Alltagsbedingungen, eher heterogene Studienpopulationen ohne umfangreiche Ausschlusskriterien und der Schwerpunkt auf patientenzentrierten und patientenrelevanten Outcome-Parametern (Patient Reported Outcome Measures).

Drei Beispiele zeigen, wie versorgungsrelevante Studien in der Zahnmedizin entstehen und welche konkreten Folgen ihre Ergebnisse für die tägliche Praxis des Zahnarztes haben.

1. Beispiel: 

Studien zum Überleben von Wurzelstiften ergänzen universitäre Studien

Anfang der 2000er-Jahre entstand die älteste Versorgungsforschungsstudie des AZT, die das Überleben von Wurzelstiften untersucht. Ausgangspunkt war zum einen die Beobachtung, dass es zu Komplikationen bei der Stiftversorgung von endodontisch behandelten Zähnen kam, zum anderen, dass neue Glasfaserstifte in den Markt eingeführt wurden. Die Mitglieder des AZT fragten sich, wie erfolgreich deren Anwendung in der Praxis ist. 

In der Folge erarbeiteten die Praktiker selbst ein prospektives Studienprotokoll. Zur Studie wurden Daten aus insgesamt acht Mitgliedspraxen beigesteuert. Die Nachbeobachtungszeit in der Studie betrug bis zu 17 Jahre an insgesamt 181 mit Stiften versorgten Zähnen.

Im Ergebnis zeigte sich, dass das Zahnverlustrisiko am geringsten war, wenn ein Stift im Zusammenhang mit einer neuen Krone eingesetzt wurde. Bei Teleskopkronen war das Zahnverlustrisiko höher als bei neuen Kronen, allerdings war das Zahnverlustrisiko signifikant am größten, wenn Stifte als „Reparaturstifte“ zur Wiederherstellung von Kronen, Brücken oder Teleskopkronen eingesetzt wurden. Außerdem zeigte sich, dass die adhäsive Zementierung von Stiften der Zementierung mit mikromechanischen Zementen überlegen ist.

Später führte der AZT die gleiche Studie mit retrospektivem Studiendesign und Routinedaten aus fünf Mitgliedszahnarztpraxen durch. Hier konnten bei einer Beobachtungszeit über 20 Jahre fast 1.200 Zähne mit Wurzelstiften identifiziert werden, die mit einer definitiven Krone versorgt wurden. Im Ergebnis bestätigte sich das Bild aus der prospektiven Studie. Die „Reparaturstifte“ zeigten das deutlich höchste Verlustrisiko für den betroffenen Zahn, während der Einsatz von Wurzelstiften bei neu angefertigten Kronen das geringste Risiko für Zahnverlust zeigte.

Trotz der unterschiedlichen Methoden der Datengewinnung gibt es eine wesentliche Übereinstimmung in den Ergebnissen: Die Indikation, bei der ein Wurzelstift eingesetzt wird, beeinflusst signifikant das Überleben des Zahns. Konkret gehen etwa 50 Prozent der Zähne innerhalb von fünf Jahren verloren, bei denen mit dem Stift die Reparatur einer vorhandenen prothetischen Versorgung durchgeführt wurde. Währenddessen zeigt die Therapie mit Stiften eine gute Überlebensrate bei Zähnen, die mit einer neuen prothetischen Versorgung versehen werden. Die Daten zur Neuversorgung von Zähnen entsprechen dabei den Ergebnissen universitärer Studien. Allerdings erweitern die beiden beschriebenen AZT-Studien das Wissen um die bisher in universitären Studien nicht berücksichtigten „Reparaturstifte“ [Kramer et al., 2021].

2. Beispiel: 

Vorteile der Reciproc-Technik bei der endodontischen Therapie

Im Jahr 2011 wurde die Reciproc-Technik zur endodontischen Therapie in die Zahnheilkunde eingeführt. Die Idee der Technik war und ist, Wurzelkanäle mit nur einer Feile maschinell vollständig zu präparieren und dabei im Idealfall zusätzlich auf eine Gleitpfadpräparation verzichten zu können, die bei 360°-rotierender Präparation von Wurzelkanälen obligat ist. Dies warf eine Reihe von Fragen bei der Markteinführung des Systems auf, die bisher nicht beantwortet waren. 

In der Folge wurden eine Reihe von Studien in niedergelassenen Zahnarztpraxen und in der Akademie für Zahnärztliche Fortbildung durchgeführt, die sowohl Patienten- als auch Behandler-relevante Fragen beantworten sollten. Es zeigte sich in verschiedenen prospektiven und retrospektiven Versorgungsforschungsstudien, dass die gleitpfadfreie Präparation von Wurzelkanälen auch unter Praxisbedingungen überwiegend möglich ist. Darüber hinaus ergaben die Untersuchungen, dass sich unter dem Patienten-relevanten Studienendpunkt der Schmerzreduktion die Ergebnisse mit rotierenden Instrumenten, Handinstrumenten und Reciproc-Instrumenten nicht wesentlich unterscheiden.

Würdigung von Prof. Walther

„Gespür, Geist und Kreativität“

Die Akademie für Zahnärztliche Fortbildung Karlsruhe steht wie kein anderes Fortbildungsinstitut in Deutschland für den Willen zur Entwicklung der zahnärztlichen Profession. Dies ist unbestritten eins der Verdienste von Prof. Winfried Walther, der nach über 40 Jahren in der Akademie auf der Karlsruher Online-Konferenz am 26. März 2021 in den Ruhestand verabschiedet wurde.

Zunächst als Oberarzt und später als Direktor hat er eine von Bildung, Disziplin, Gespür, Geist und Kreativität geprägte Entwicklung des Instituts vorangetrieben. Und damit nicht genug, hat er mit seinem unerschütterlichen Willen und seiner Beharrlichkeit der Akademie 2014 eine neue, moderne und repräsentative Heimstatt gegeben. Bei seiner nun vollzogenen Verabschiedung war mehr als deutlich zu spüren, dass es nicht nur seine unermüdliche Schaffenskraft ist, die das Haus und die Menschen in dessen Umfeld geprägt hat, sondern ebenfalls seine Verlässlichkeit als Wegbegleiter, -bereiter und Freund. Die Festschrift zu seinen Ehren ist eine intellektuelle Würdigung der besonderen Verdienste von Prof. Walther und gleichzeitig Zeugnis der Vielgestalt seiner akademischen und freundschaftlichen Verbindungen. Die im Buch dargestellten „Grenzgänge der Zahnmedizin“ werden in der Welt der praktischen Zahnmedizin, der zahnmedizinischen Wissenschaft und darüber hinaus Inspiration und Motivation stiften.

PD Dr. med. dent. Daniel Hellmann, Direktor der Akademie für Zahnärztliche Fortbildung Karlsruhe

Außerdem wurde in einer umfassenden Routinedaten-Studie an fast 10.000 endodontisch therapierten Zähnen gezeigt, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit ohne erneute Eingriffe am Zahn mit Reciproc-Instrumenten am höchsten war – im Vergleich zu rotierenden Instrumenten und Handinstrumenten. Allerdings war der Unterschied nur zu Handinstrumenten signifikant, nicht aber zu rotierenden Instrumenten. 

Insgesamt kann geschlussfolgert werden, dass modernes endodontisches Instrumentarium aus unterschiedlichen Gründen älteren Instrumententypen überlegen ist und jene in der Patientenversorgung ersetzen sollte [Bartols, 2021].

3. Beispiel: 

Versorgungsforschung trägt zur Professionsentwicklung bei

Dazu ein Blick auf den Masterstudiengang der Akademie für Zahnärztliche Fortbildung und der Universität Magdeburg „Integrated Practice in Dentistry“: Er nimmt nicht nur das „Was“ und das „Wie“ erfolgreicher Versorgung in den Blick, sondern auch das „Wer“, nämlich die Akteure erfolgreicher Versorgung. Die Versorgung braucht erfahrene Professionelle, die den Stand des Wissens nicht bloß anwenden, sondern ihn im Sinne lernender Versorgung voranbringen [Robra, 2021]. Dabei erscheint es sinnvoll, Studiendesigns zu entwickeln, die Erkenntnisgewinn aus der Routinepraxis heraus ermöglichen und patientenzentrierte Endpunkte in den Fokus nehmen [Bartols, 2021]. 

Grenzgänge der Zahnmedizin

Die ausführlichen Fassungen der drei skizzierten Beispiele aus der Versorgungsforschung finden sich im Buch „Grenzgänge der Zahnmedizin – Eine Festschrift für Winfried Walther“. Die 23 Autoren sind langjährige Weggefährten von Prof. Walther. Unter ihnen sind Masterstudierende, Promovenden, Habilitanden, Kollegen aus der Akademie, der Universität, der Klinik und der Praxis. Allen ist gemein, dass sie ein Projekt und/oder gemeinsame Publikationen mit Walther verbindet. Gleichzeitig haben sie über den viel zitierten „Tellerrand“ hinausgeblickt. Walther hat sie unterstützt oder war ihnen Ideen- und Ratgeber. 

Das Buch bündelt somit Beiträge, die primär in der Zahnmedizin verortet sind, jedoch mindestens einen Teilbereich einer anderen Disziplin oder ein „fachfremdes“ Gebiet tangieren. Dazu zählen neben der beschriebenen Versorgungswissenschaft und der Professionsentwicklung auch Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Mitarbeiterführung, Erwachsenenbildung, Allgemeinmedizin, Freiberuflichkeit, Ethik, Gesundheitsökonomie, Informatik, Praxisforschung, Anatomie, Psychosomatik, Kunst und Lehre.

Dr. med. dent. Dr. phil. Hans Ulrich Brauer, M.A., Fachzahnarzt für Oralchirurgie

Die Translation wissenschaftlicher Forschungsergebnisse endet nicht, wenn eine Therapie zur Verfügung steht, sondern erst dann, wenn eine Innovation die Wirksamkeit der flächendeckenden Patientenversorgung gegenüber der bisherigen Praxis verbessern konnte. Die Vergewisserung über den Stand der Versorgung ist nur mithilfe der Versorgungsforschung möglich [Robra, 2021]. 

Fazit

Der Berufsstand sollte sich in diesem Sinne um Versorgungsforschung kümmern und Fremdbestimmung auf diesem Gebiet mit fundierter eigener Kompetenz entschieden entgegentreten [Kramer et al., 2021]. Auf diese Weise bietet Versorgungsforschung auch Impulse für eine fortschreitende Professionsentwicklung. 

Dr. med. dent. Andreas Bartols, M.A.

Stellvertretender Direktor
Akademie für Zahnärztliche Fortbildung Karlsruhe
Lorenzstr. 7, 76135 Karlsruhe
andreas_bartols@za-karlsruhe.de

Dr. Andreas Bartols

Akademie für Zahnärztliche Fortbildung Karlsruhe
Lorenzstr.7
76135 Karlsruhe

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