Endlich transparente Daten für die Kieferorthopädie
Etwa 40 Prozent der acht- und neunjährigen Kinder in Deutschland weisen einen kieferorthopädischen Behandlungsbedarf auf, der nach den Richtlinien der vertragszahnärztlichen Versorgung therapiert werden sollte. Ein Vergleich mit Abrechnungsdaten unterstreicht, dass sich dieser Behandlungsbedarf weitgehend mit der Versorgungsrealität deckt und es in diesem Bereich – anders als immer wieder von Gesundheitspolitikern behauptet – keine Unter- oder gar Überversorgung gibt.
Diese Daten sind Ergebnisse des Forschungsprojekts „Zahn- und Kieferfehlstellungen bei Kindern“ und werden als „kieferorthopädisches Modul“ in die Sechste Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS 6), womit Daten zur Mundgesundheit in Deutschland systematisch erhoben werden, integriert. Die Ergebnisse wurden am 22. September 2022 auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie e. V. (DGKFO) präsentiert und am Folgetag im Rahmen einer Pressekonferenz durch das IDZ gemeinsam mit der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und der DGKFO einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt.
Hohe Prävalenz von Zahn- und Kieferfehlstellungen
Für die Studie wurde untersucht, wie verbreitet Zahn- und Kieferfehlstellungen bei acht- und neunjährigen Kindern in Deutschland sind und welcher kieferorthopädische Versorgungsbedarf daraus entsteht. Darüber hinaus wurden die Zusammenhänge zwischen Zahn- und Kieferfehlstellungen und der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität sowie Karieserkrankungen beleuchtet. Die neue Studie ist das erste Modul der DMS 6. Die Ergebnisse zeigen, dass Zahn- und Kieferfehlstellungen neben Karies und parodontalen Erkrankungen zu den häufigsten Gesundheitsbeeinträchtigungen in der Mundhöhle gehören.
Methodik
Prof. Dr. A. Rainer Jordan, wissenschaftlicher Direktor des IDZ, erläuterte das Studiendesign, das gemeinsam mit der DGKFO entwickelt worden war: „Wir haben uns auf acht- und neunjährige Kinder konzentriert, weil danach besonders schwere Erkrankungsformen bereits im Rahmen einer sogenannten Frühbehandlung therapiert werden und dann der ursprüngliche Gebisszustand für epidemiologische Untersuchungen nicht mehr zugänglich ist.“
Die Studienteilnehmer wurden durch ein mehrstufiges Zufalls-Auswahlverfahren gewonnen. „In einem ersten Schritt wurden als Studienzentren je Bundesland eine Stadt-, eine Großstadt- oder eine Landregion ausgelost. Über die Einwohnermeldeämter dieser 16 Studienzentren wurden anschließend etwa 2.000 Kinder zur Teilnahme an der Studie angeschrieben. Die Untersuchungen wurden von speziell für diese Studie geschulten Zahnärzten durchgeführt, die insgesamt 705 Kinder untersucht haben. Die Zahlen sind somit repräsentativ für Deutschland“, erklärte Jordan.
„Es gibt Keine Überversorgung in der KfO“
„Das Studienergebnis zeigt, dass der kieferorthopädische Behandlungsbedarf von Kindern und Jugendlichen von etwa 40 Prozent über viele Jahre konstant geblieben ist. Zudem sehen wir eine gleichbleibende Verteilung in den kieferorthopädischen Indikationsgruppen. Die Ergebnisse zur Frühbehandlung und der Vergleich mit weiteren Abrechnungsdaten belegen, dass es in der kieferorthopädischen Versorgung – anders als behauptet – keine Überversorgung gibt.”
Im Hinblick auf die höheren Kariesprävalenzen bei Kindern mit kieferorthopädischem Behandlungsbedarf hob der Vorsitzende des Vorstands der KZBV das präventive Potenzial der Kieferorthopädie hervor: „Die Kieferorthopädie ist und bleibt daher essenzieller Bestandteil einer präventionsorientierten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde.”
Lesen Sie auch den Leitartikel von Dr. Eßer auf Seite 6 zum selben Thema.
Die Untersuchungen wurden nach internationalen Standards der Oralepidemiologie durchgeführt und fanden von Januar bis März 2021 statt. Am Beginn stand eine umfangreiche Datenerhebung mittels direkter Befragung der Eltern/Kinder durch eine Interviewerin. Hier wurden unter anderem sozioökonomische Daten, das Mundhygieneverhalten und auch die Verbreitung von Habits, Dyskinesien und Dysfunktionen ermittelt. Danach schloss sich die körperliche Untersuchung der Kinder mit einem Intraoralscan und einer umfangreichen zahnärztlichen Befundung an. Das Studiendesign und die Probandenzahl wurden so gewählt, dass künftig weiterführende Untersuchungen und Längsschnittbetrachtungen möglich sind.
Ergebnisse
In einem Statement stellte Jordan die wichtigsten Studienergebnisse vor:
„Der Anteil der Kinder, bei denen nach den Richtlinien der gesetzlichen Krankenversicherung eine kieferorthopädische Behandlung angezeigt ist, liegt bei 40,5 Prozent.
10,0 Prozent der Kinder weisen ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, die aus medizinischen Gründen eine Behandlung erforderlich machen,
Ein Viertel der Kinder weisen stark ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, die aus medizinischen Gründen dringend eine Behandlung erforderlich machen und
5,0 Prozent der Kinder weisen extrem stark ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, die aus medizinischen Gründen unbedingt eine Behandlung erforderlich machen.
Die kieferorthopädische Indikationsgruppe 2 bezeichnet per definitionem Zahnfehlstellungen geringerer Ausprägung, die aus medizinischen Gründen zwar eine Indikation für eine kieferorthopädische Korrektur darstellen, deren Kosten jedoch nicht von den Krankenkassen übernommen werden. 57,0 Prozent der Kinder wiesen eine solche Indikationsgruppe auf.
2,5 Prozent der Kinder gehörten zur Indikationsgruppe 1 mit allein ästhetischen Einschränkungen oder wiesen keinen pathologischen Befund auf.“
Mundgesundheitsbezogene Lebensqualität
Knapp jedes zehnte Kind gab an, Schwierigkeiten beim Kauen zu haben und 10,9 Prozent der Kinder berichteten von Schmerzen im Mundbereich. Diese Kinder hatten systematisch häufiger auch einen kieferorthopädischen Behandlungsbedarf. Auch insgesamt zeigte sich, „dass eine eingeschränkte mundgesundheitsbezogene Lebensqualität mit einem erhöhten kieferorthopädischen Behandlungsbedarf assoziiert war“, berichtete Jordan.
Karies
Zusammenhänge zeigten sich auch zwischen der Karieslast und dem kieferorthopädischen Behandlungsbedarf: Kinder mit kieferorthopädischem Behandlungsbedarf hatten mehr kariöse Zähne als Kinder ohne kieferorthopädischen Behandlungsbedarf. Umgekehrt wiesen kariesfreie Kinder seltener einen kieferorthopädischen Behandlungsbedarf auf.
Frühbehandlung
Bei 16,4 Prozent der Kinder lag eine Indikation für eine sogenannte kieferorthopädische Frühbehandlung vor. Aus den Abrechnungsdaten der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung für das Jahr 2020 geht hervor, dass der Anteil der tatsächlich durchgeführten Frühbehandlungsfälle in dieser Altersgruppe lediglich bei 7,8 Prozent lag. „Eine Frühbehandlung bei acht- und neunjährigen Kindern in Deutschland findet also eher in geringerem Umfang statt als es sich epidemiologisch darstellt. Tendenzen einer Überversorgung können in diesem Zusammenhang also nicht erkannt werden“, erläuterte Jordan.
Fazit
Die in der Studie ermittelten Daten legen den Autoren zufolge nahe, „dass der kieferorthopädische Behandlungsbedarf in Deutschland über die Jahre weitgehend konstant geblieben ist“.
Da in der Studie aus ethischen Gründen (keine radiologischen Aufnahmen der Kieferregionen) nicht alle Zahnanomalien erfasst werden konnten (zum Beispiel Zahnunterzahl, Durchbruchsstörungen, Retentionen und Verlagerungen), gehen die Autoren davon aus, „dass der tatsächliche kieferorthopädische Versorgungsbedarf in der Studienpopulation der Acht- und Neunjährigen höher ist als die im Rahmen dieser Studie eruierten 40,4 Prozent“.
DGKFO: hohe Datenqualität
Prof. Dr. Dr. Peter Proff, Präsident der DGKFO, würdigte die „hohe Qualität“ der erhobenen epidemiologischen Daten: „Erstmals seit dem Jahr 1989 liegt mit DMS 6 eine valide und repräsentative epidemiologische Erhebung für Gesamtdeutschland bezüglich der Prävalenz von Zahn- und Kieferfehlstellungen in der Altersgruppe der Acht- bis Neunjährigen vor.“
Proff und Jordan kündigten an, den sehr umfangreichen Datensatz weiter auszuwerten. Außerdem sei das Studiendesign auf eine Längsschnittbetrachtung angelegt, so dass bei der für das Jahr 2030 geplanten DMS 7 auf die aktuell untersuchten Probanden zurückgegriffen werden könne. „Für diese Kohorte ist das ein besonders spannender Zeitpunkt, weil die Kinder dann im Wesentlichen aus der kieferorthopädischen Behandlung heraus sind“, erklärte Jordan.
„Die Kieferorthopädie gehört in professionelle Hände“
BZÄK-Vizepräsident Konstantin von Laffert verwies in seinem Statement auf die hohe Zahl von Kindern mit geringen Zahnfehlstellungen (KIG 2): Die „Kinder haben zwar aus medizinischen Gründen durchaus eine Indikation für eine kieferorthopädische Korrektur, die Kosten werden jedoch nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.” Als Erwachsene wollten diese Patienten oft eine Behandlung nachholen und griffen nicht selten auf Angebote von „Aligner-Shops“ zurück – hier würden jedoch Patienten „teilweise ohne ordentliche Befunde und via Handyfoto selbst den Behandlungsfortschritt dokumentierend behandelt”, was bereits zu großen zahnmedizinischen Problemen bei den Betroffenen geführt habe.