„Wie läuft‘s denn so zu Hause?“
Nach den Untersuchungen von Garbin et al. [2012], Boyes et al. [2020] und Brink et al. [2009] weisen nur wenige Opfer von häuslicher Gewalt Verletzungen der Zähne und der Mundhöhle auf. Bei Zahnverletzungen sind aufgrund der anatomischen Lage meist die (Oberkiefer-)Frontzähne betroffen. Verletzungen im Kopf-Hals-Bereich, meist in Form von Frakturen, sind hingegen häufiger [Boyes et al., 2020].
In Befragungen gaben Gewaltopfer überwiegend an, sich vom zahnmedizinischen Fachpersonal Fragen zur Kausalität der Verletzungen zu wünschen [Nelms et al., 2009]. Allerdings werden nur in seltenen Fällen gezielte Fragen durch zahnärztliches Fachpersonal gestellt [AlAlyani et al., 2017; Love et al., 2001]. Folglich ist die Detektionsrate von häuslicher Gewalt in der zahnärztlichen Praxis eher niedrig, was teilweise auf eine unterbleibende Nachverfolgung bei Verdachtsfällen zurückzuführen ist [Drigeard et al., 2012; Al Alyani et al., 2017]. Dies resultiert aber auch daraus, dass das zahnmedizinische Fachpersonal sich nicht ausreichend geschult sieht, Opfern häuslicher Gewalt zu helfen [van Dam et al., 2015; Al Alyani et al., 2017; Mythri et al., 2015; Drigeard et al., 2012; Love et al., 2001].
Grundsätzlich gilt die Schweigepflicht
Die ärztliche Schweigepflicht nach § 203 Strafgesetzbuch (StGB) bestimmt in Deutschland, ob eine Weitergabe von Informationen durch das zahnmedizinische Fachpersonal an Dritte erfolgen darf [Ärztekammer Hamburg, 2010]. Die ärztliche Schweigepflicht beinhaltet sowohl die Identität des Opfers als auch die Information, dass eine Behandlung stattgefunden hat [Ärztekammer Nordrhein, 2014]. Grundsätzlich ist eine umfassende Einhaltung der Schweigepflicht geboten, die nur in besonderen Einzelfällen gebrochen werden darf. Das Opfer kann beispielsweise eine ausdrückliche Entbindung von der Schweigepflicht unterschreiben; es ist auch möglich, die Schweigepflicht nur für bestimmte Geschehnisse aufzuheben [Ärztekammer Hamburg, 2010]. Bei Kindern unter 14 Jahren muss dies durch einen Erziehungsberechtigten erfolgen. Vor Gericht besteht die Pflicht, die Aussage zu verweigern, wenn keine Schweigepflichtentbindung oder keine Notfallsituation vorliegt [Ärztekammer Nordrhein, 2014].
Mehr Infos
Die BZÄK hat auf ihrer Webseite Informationen zusammengestellt, was im Umgang mit Opfern häuslicher Gewalt in der zahnärztlichen Praxis zu beachten ist. Dort finden Sie auch weiterführende Links.
In Deutschland besteht keine Meldepflicht für vergangene Missbrauchstaten, auch bei schwerwiegenden Verletzungen mit schweren Waffen oder beim Missbrauch Minderjähriger. Bei Androhung einer solchen schwerwiegenden Straftat ist allerdings das zahnmedizinische Fachpersonal, ebenso wie alle anderen Bürger, nach § 138 StGB verpflichtet, eine Meldung bei der Polizei oder einer Behörde zu leisten.
§ 34 des StGB regelt den rechtfertigenden Notstand, der bei einer „nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut“ greift. Auch in diesem Fall sind das Brechen der ärztlichen Schweigepflicht und eine Meldung bei der Polizei zulässig. Allerdings wird dies juristisch äußerst kritisch gesehen, da (in den meisten Fällen) während des Besuchs in der zahnmedizinischen Praxis die akute (körperliche) Gefahr für das Opfer – wenn auch nur vorübergehend – vorbei ist. Umso wichtiger ist es, mit dem Opfer zu besprechen, dass bei einem ähnlichen Wiederholungsfall mit möglichen schlimmeren Verletzungen die Schweigepflicht entfallen kann.
Bei Kindern ist die Schwelle der Durchbrechung der Schweigepflicht niedriger als bei Erwachsenen. Bei Verdachtsfällen, in denen Kinder Opfer von Gewalt sind, sollte das Jugendamt als zuständige Behörde eingeschaltet werden [Ärztekammer Hamburg, 2010]. Ein irrtümlicher Verdacht von häuslicher Gewalt ist dabei grundsätzlich nicht strafbar; ein irrtümliches Brechen der Schweigepflicht ist straflos, wenn der Irrtum unvermeidbar war [Ärztekammer Nordrhein, 2014].
Empfehlungen für die tägliche Praxis
Da unsere Literaturanalyse bei zahnmedizinischem Fachpersonal insgesamt einen Mangel in der Erkennung, im Umgang und im weiteren Prozedere bei Fällen von häuslicher Gewalt ergeben hat, haben wir Empfehlungen für die tägliche Praxis erarbeitet, die an die Empfehlungen der IMPRODOVA-Trainingsplattform angelehnt sind [Improdova, 2022].
IMPRODOVA ist ein von der EU gefördertes Projekt, das sich in Zusammenarbeit mit 16 Partnern aus acht Ländern Europas für eine Verbesserung der Intervention bei schwerer häuslicher Gewalt einsetzt. IMPRODOVA hat es sich zur Aufgabe gemacht, die international bekannten Forschungsergebnisse, Interventionsprogramme und deren Umsetzbarkeit zu analysieren und aufzubereiten. So sollen ein Überblick und eine verbesserte, erneuerte Präsentation bekannter Methoden geschaffen werden. Weiterhin soll die Zusammenarbeit zwischen Behörden, medizinischem und sozialem Fachpersonal und weiteren Ersthelfern gefördert werden, um insgesamt mehr Aufklärung für Opfer häuslicher Gewalt erlangen zu können [Improdova, 2022].
Man unterscheidet verschiedene Phasen der Unterstützung. Grundsätzlich gilt jedoch, Patientinnen und Patienten regelmäßig zu befragen, sollten Sie Verdacht schöpfen. Der erste Schritt besteht darin, dass das potenzielle Opfer sich traut, über die erlebte Gewalt zu sprechen. Dabei sollten Sie Folgendes beachten:
Achten Sie darauf, dass die Patienten und Patientinnen mit Ihnen allein sind und frei sprechen können. Viele kommen in Begleitung der Kinder oder gar der Partner zu Ihnen in die Praxis.
Allgemeine Fragen können Ihnen helfen, das Thema anzusprechen: „Wie läuft es zu Hause?“, „Wie kommen Sie mit Ihrem Partner / Ihrer Partnerin zurecht?“. Direkte Fragen können im Gesprächsverlauf dazu führen, dass das mutmaßliche Opfer sich mehr öffnet: „Wurden Sie jemals von Ihrem Partner / Ihrer Partnerin verbal/physisch/emotional/sexuell missbraucht?“
Hören Sie gut zu, wenn ein Opfer sich öffnet und kommunizieren Sie unbedingt, dass es die richtige Entscheidung war, über die Erfahrungen mit häuslicher Gewalt zu sprechen. Machen Sie klar, dass häusliche Gewalt, egal in welcher Form, nicht annehmbar ist.
Vermeiden Sie Fragen, die das Opfer in die Rolle des Schuldigen stellen, wie etwa „Warum leben Sie noch mit Ihrem Partner / Ihrer Partnerin zusammen?“ oder „Hätten Sie die Situation vermeiden können?“.
Wenn sich ein Verdacht erhärtet oder bestätigt, folgt der zweite Schritt, der als fortlaufender Prozess zu sehen ist, da das Risiko für Ihre Patientinnen und Patienten immer neu von Ihnen eingeschätzt werden sollte:
Befragen Sie das Opfer nach dem Verhalten des Partners / der Partnerin in der Vergangenheit, um daraus mögliche Schlüsse auf das Verhalten in der Gegenwart und in der Zukunft zu ziehen. Lassen Sie das Opfer dabei stets an Ihren Überlegungen teilhaben.
Fragen Sie, ob das Opfer und möglicherweise beteiligte Kinder sich aktuell sicher zu Hause fühlen und erarbeiten Sie gemeinsam einen Notfallplan für den Ernstfall. Dabei sollten mögliche Anlaufstellen und Telefonnummern (Polizei, Frauenhäuser et cetera) sowie mögliche Unterkünfte und Fluchtwege besprochen sowie schriftlich dokumentiert werden.
Sollte es in der Zukunft zu einem juristischen Prozess kommen, werden Sie als zahnmedizinisches Fachpersonal gegebenenfalls zum Opfer befragt, deshalb sollten Sie alles gut dokumentieren:
Dokumentieren Sie Verdachtsfälle sehr genau – mit Datum, Körperstelle, Zustand der Verletzung bezogen auf das vermutete Alter und das jetzige Aussehen. Dies gilt auch für unbestätigte Fälle.
Auffälliges Verhalten sollte ebenfalls genau beschrieben werden. Des Weiteren können Sie besondere Aussagen des Patienten / der Patientin, die Ihren Verdacht stützen, als Zitat in die Akte einfügen.
Fertigen Sie, wenn möglich, Fotos an, die Ihre Dokumentation unterstützen.
Eine Meldepflicht bei den Behörden besteht nur bei minderjährigen Patienten und Patientinnen, da hier das Kindeswohl gefährdet ist. Bei Erwachsenen ist eine Meldung von häuslicher Gewalt bei den Behörden gegen den ausdrücklichen Willen der Patienten und Patientinnen ein Außer-acht-lassen der ärztlichen Schweigepflicht und somit eine Straftat! Eine Ausnahme besteht nur, wenn Sie um das Wohl des Patienten oder der Patientin fürchten, da die Gefahr einer Eigen- oder Fremdverletzung besteht.
Auch bei nachfolgenden Terminen sollten Sie sich stets um das Wohl der jeweiligen Patientin / des jeweiligen Patienten kümmern und die aktuelle Situation zu Hause erfragen. Halten Sie stets Informationen bereit, mit denen Sie diese unterstützen können:
In Deutschland ist das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben unter 08000 116 016 rund um die Uhr, auch anonym, in verschiedenen Sprachen anwählbar. Eine Beratung kann sowohl via Telefonat als auch via Online-Chat erfolgen und richtet sich gegen alle Arten der häuslichen Gewalt gegen Frauen [Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, 2022].
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bietet unter dem Suchbegriff „Frauen vor Gewalt schützen“ umfangreiche Informationen, wie man verschiedene Formen der Gewalt erkennen kann und wo man als Opfer Hilfe und Beratung bekommt [Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2022]. Hier sind zahlreiche Links zu Hilfestellen aufgeführt, die sich an alle Opfergruppen richten, egal welchen Geschlechts oder Alters.
Über Quellen wie die IMPRODOVA-Schulungsplattform [ https://bit.ly/zm_gewalt ] können weitere Informationen zum Thema bezogen werden.
Literaturliste
1. What is domestic abuse?. Abrufbar online: www.un.org/en/coronavirus/what-is-domestic-abuse (geöffnet online am 31.01.2021).
2. New York Times. A New Covid-19 Crisis: Domestic Abuse Rises Worldwide;
Amanda Taub. April 6, 2020. Abrufbar online: www.nytimes.com/2020/04/06/world/coronavirus-domestic-violence.html (geöffnet online am 23.12.2021)
3. Tagesschau: Mehr häusliche Gewalt in der Pandemie. Abrufbar online: www.tagesschau.de/inland/pandemie-haeusliche-gewalt-101.html (geöffnet am 22.04.2022)
4. Technische Universität München: Häusliche Gewalt in der Corona- Pandemie. Abrufbar online: www.tum.de/die-tum/aktuelles/pressemitteilungen/details/36053 (geöffnet am 22.04.2022)
5. Bregulla, J.L.; Hanisch, M.; Bettina, P. Dentists‘ competence and knowledge on domestic violence and how to improve it- a review. International Journal of Environmental Research and Public Health 2022, Vol. 19, 4361.
6. Garbin, C. A. S.; Guimarães e Queiroz, A. P.; Rovida, T. A. S.; Garbin, A. J. I. Occurrence of traumatic dental injury in cases of domestic violence. Brazilian Dental Journal 2012, 23(1): 72-76.
7. Boyes, H.; Fan, K. Maxillofacial injuries associated with domestic violence: experience at a major trauma centre. Br J Oral Maxillofac Surg 2020, Vol. 58(2): 185-189.
8. Brink, O. When violence strikes the head, neck, and face. The Journal of TRAUMA® Injury, Infection, and Critical Care 2009, Vol. 67 (1): 147-151.
9. Nelms, A. P.; Gutmann, M. E.; Solomon, E. S.; DeWald, J. P.; Campbell, P. R. What victims of domestic violence need from the dental profession. Journal of Dental Education 2009, Vol. 73 (4): 490-498.
10. AlAlyani, W. S.; Alshouibi, E. N. Dentists awareness and action towards domestic violence patients: A cross-sectional study among dentists in Western Saudi Arabia. Saudi Medical Journal 2017, Vol. 38 (1): 82-88.
11. Love, C.; Gerbert, B.; Caspers, N.; Bronstone, A.; Perry, D.; Bird, W. Dentists’ attitudes and behaviors regarding domestic violence: The need for an effective response. The Journal of the American Dental Association 2001, Vol. 132: 85-93.
12. Drigeard, C.; Nicolas, E.; Hansjacob, A.; Roger-Leroi, V. Educational needs in the field of detection of domestic violence and neglect: the opinion of a population of French dentists. European Journal of Dental Education 2012, Vol. 16: 156-165.
13. van Dam, B. A. F. M.; van der Sanden, W. J. M.; Bruers, J. J. M. Recognizing and reporting domestic violence: attitudes, experiences and behavior of Dutch dentists. BMC Oral Health 2015, 15:159. https://doi.org/10.1186/s12903-015-0141-4
14. Mythri, H.; Kashinath, K. R.; Raju, A. S.; Suresh, K. V.; Bharateesh, J. V. Enhancing the dental professional’s responsiveness towards domestic violence: A cross-sectional study. Journal of Clinical and Diagnostic Research 2015, Vol. 9 (6): 51-53.
15. Leitfaden “häusliche Gewalt”. Ärztekammer Hamburg. Abrufbar online: www.aerztekammer-hamburg.org/files/aerztekammer_hamburg/wissenswertes/gewalt/leitfaden_haeusl_gewalt_18_10_10.pdf (geöffnet am 19.05.2022)
16. Häusliche Gewalt und ärztliche Schweigeplficht. Ärztekammer Nordrhein . Abrufbar online: www.aekno.de/fileadmin/user_upload/aekno/downloads/haus-gewalt-2014-schulenburg.pdf (geöffnet am 19.05.2022)
17. Communication in cases of domestic violence. Abrufbar online: training.improdova.eu/en/training-modules-for-the-health-sector/module-3-communication-in-cases-of-domestic-violence/ (geöffnet online am 08.11.2021)
18. IMPRODOVA: Improving frontline responses to high impact violence: Abrufbar online: www.improdova.eu (geöffnet am 19.05.2022)
19. IMPRODOVA Projekt Flyer. Abrufbar online: www.improdova.eu/pdf/IMPRODOVA_Folder.pdf; (geöffnet am 17.05.2022)
20. IMPRODOVA: Einführung. Häusliche Gewalt im Gesundheitssektor. Abrufbar online: training.improdova.eu/de/einfuhrung-hausliche-gewalt-im-gesundheitssektor/ (geöffnet online am 27.04.2022)
21. Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen. Abrufbar online: www.hilfetelefon.de/das-hilfetelefon.html (geöffnet online am 22.04.2022)
22. Frauen vor Gewalt schützen. Abrufbar online: www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen (geöffnet am 17.05.2022)
23. Juszczyk, P.; Pfleiderer, B. Development of a training platform on domestic violence. pp. 297-318; in: Improving Frontline Responses to Domestic Violence in Europe, Editors: Branko Lobnikar, Catharina Vogt, Joachim Kersten, University of Maribor, University Press. Abrufbar online: press.um.si/index.php/ump/catalog/view/628/832/1926-2, DOI: doi.org/10.18690/978-961-286-543-6 (geöffnet online am 26.12.2021)