Deutscher Zahnärztetag 2022

Kritisch hinterfragt: Ethik – Biologie – Sport

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Viele „kleine“ Themen schaffen es nur selten in die Überschrift eines Zahnärztetages, weil dort nicht wenige Spezialisten, sondern die vielen Generalisten angesprochen werden sollen. Die Veranstalter des diesjährigen Deutschen Zahnärztetages hatten den Mut, den vermeintlichen Nischenthemen einen Rahmen zu geben. Und so bot der Online-Kongress am 11. und 12. November eine große Themenvielfalt. Die gemeinsame Klammer hieß „Kritisch hinterfragt“ und sollte die Relevanz für die klinische Praxis herausarbeiten.

In seiner Begrüßungsrede ging Prof. Dr. Christoph Benz, Präsident der Bundeszahnärztekammer, auf die aktuellen gesundheitspolitischen Entwicklungen ein. Im Hinblick auf die Auswirkungen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes für die systematische Parodontitistherapie in der GKV kritisierte Benz die verantwortlichen Politiker scharf. Die vereinbarte Therapiestrecke sei wissenschaftlich belegt sehr erfolgreich, die Zahnärzteschaft habe sich intensiv vorbereitet und nun komme die Politik mit der Aussage, das Geld stehe möglicherweise doch nicht zur Verfügung. Das sei „Wortbruch“, erklärte Benz. Trotz des politischen Gegenwinds zeigte er sich jedoch überzeugt, dass die systematische Parodontitistherapie „nicht sterben“ werde.

In ihrer überaus engagierten Festrede plädierte Prof. Dr. Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, für eine Neujustierung der ethischen Orientierungsmaßstäbe bei der Umsetzung des Datenschutzes in Deutschland. Das Problem sei, dass mit dem Argument des Datenschutzes zu viel Innovation in der Digitalisierung ausgebremst werde. Buyx beklagte eine „hemmende Datenkultur“ und ein „Konglomerat von Verhinderung und Vermeidung“ in Deutschland. Deshalb dürften individuelle Rechte wie Freiheit und Selbstbestimmung nicht mehr absolut gelten, sondern müssten an kollektiven Maßstäben wie Gerechtigkeit, Solidarität, Schadensvermeidung und Wohltätigkeit „ausbalanciert“ werden.

Sind homöopathische Therapieangebote ethisch vertretbar? Welche Rolle spielt die Ernährung in der Zahnmedizin? Ist Nachhaltigkeit utopisch? Welche Erkenntnisse bietet die Sportzahnmedizin? Auf viele Fragen gab es nicht nur eine Antwort. Neben den durch neues Wissen geschaffenen Chancen für eine bessere Diagnostik und Therapie wurde auch deutlich, wie unscharf noch unser Verständnis der biologischen Prozesse bei vielen Erkrankungen ist.

Sensibilisierung oder Allergie

Prof. Dr. med. Randolf Brehler (Münster) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Frage „Wie verträglich sind dentale Werkstoffe?“. Eingangs erklärte er, dass Allergien auf zahnärztliche Werkstoffe in der Regel Kontaktallergien (Allergie Typ IV) seien. Es gebe über 4.000 Stoffe, die potenziell Kontaktallergien auslösen könnten. Davon sei Nickel als Verursacher von rund 16 Prozent aller Kontaktallergien am häufigsten vertreten. Man müsse allerdings zwischen Sensibilisierung und Allergie differenzieren. Nicht bei jeder Sensibilisierung bestehe auch tatsächlich eine klinisch relevante Allergie. Sensibilisiert seien immerhin 27 Prozent der Menschen in Europa, bemerkte Brehler. Häufig erfolge die Sensibilisierung nicht direkt durch zahnärztliche Werkstoffe, sondern durch vorherigen Hautkontakt mit einem potenziellen Allergen. Sensibilisierte Menschen würden dann eher auf zahnärztliche Werkstoffe reagieren.

Tritt eine Kontaktallergie an der Mundschleimhaut auf, kann diese laut Brehler verschiedene Symptome aufweisen. Es könne sich das Bild einer Stomatitis mit Erythem oder Ödem zeigen, auch Lippenschwellungen, Cheilitis und periorale Dermatitis gehörten zu den häufigeren Symptomen. Darüber hinaus – wenn auch etwas seltener – kämen auch Mundschleimhautaphthen, eine orale Granulomatose, das Burning-Mouth-Syndrom, Geschmacksstörungen, Xerostomie und Schmerzen der Mundschleimhaut als Symptome einer oralen Kontaktallergie vor. Neben den direkten Hautreaktionen könnten auch nicht-ekzematöse, kontaktallergische Reaktionen vorkommen. Brehler nannte hier vor allem Lichen-planus-artige sowie bullöse, knotig-papulöse oder pustolöse Reaktionen.

Die Diagnostik sei mitunter schwer. Eine genaue Anamnese sei genauso wichtig, wie die genaue Kenntnis der Zusammensetzung der dentalen Materialien, erklärte der Experte. Für einen Epikutantest sollten idealerweise Substanzen in definierten, nicht-irritativen Konzentrationen verwendet werden. Der Test solle aber nur nach Abheilung des Ekzems durchgeführt werden. Dafür werde das potenzielle Allergen meist auf dem Rücken aufgetragen und die mögliche Hautreaktion, die mitunter erst 96 Stunden nach Allergenkontakt auftreten könne, beurteilt. Zwischen Sensibilisierung und Allergie zu unterscheiden, ist laut Brehler eine dermatologische Herausforderung. Ein positiver Epikutantest beweise zwar das Vorliegen einer Sensibilisierung, aber nicht immer habe diese auch klinische Relevanz. Selbst wenn eine Allergie bestehe, sei diese nicht zwangsläufig für die Mundschleimhaut-Symptomatik verantwortlich.

Brehler berichtete von einer Patientin, bei der ein Ekzem am Ohr durch eine orale allergische Reaktion auf einen dentalen Werkstoff wieder auftrat, obwohl dort gar kein direkter Allergenkontakt stattgefunden hatte. Dieser sogenannten Aufflammreaktion gehe eine Sensibilisierung voraus. Ein späterer Kontakt mit einer nickelhaltigen Legierung im Mund könne ursprüngliche Ekzeme an den Körperstellen, an denen der Erstkontakt stattgefunden hat, wieder aufflammen lassen.

Nickel-Allergiker haben häufig auch ein Palladium-Problem

Dadurch, dass die Nickelmengen bei Gegenständen mit Hautkontakt heutzutage reguliert sind, komme es seltener zu Sensibilisierungen, erläuterte Brehler. Bei bereits sensibilisierten Personen könnten diese Nickel-Mengen aber immer noch allergische Reaktionen auslösen. Nickelallergiker hätten zudem auch häufiger ein Palladium-Problem.

Epikutantest-Reaktionen auf Gold sind laut Brehler meist irritativ und die Abgrenzung zur allergischen Reaktion ist schwierig. Auch wenn man lange Zeit glaubte, Titan sei inert, erwähnte Brehler Einzelfallberichte über Titanallergien. Dem Epikutantest könne man bei der Diagnostik einer Titanallergie kaum vertrauen. Betroffene Patientinnen und Patienten könnten dadurch schlimmstenfalls einen Implantatverlust erleiden. Überdies seien einzelne Partikel von Titan imstande, Entzündungsreaktionen auszulösen – diese sollten aber klar von allergischen Reaktionen abgegrenzt werden, denn es handele sich hierbei um eine andere Form einer Hypersensitivität. Es gebe aktuell keinen diesbezüglichen Test, aber durch den Epikutantest könne möglicherweise eine Sensibilisierung von anderen Metallen nachgewiesen werden.

Zirkoniumdioxid könne als alternatives Material bei Titanunverträglichkeit erwogen werden, denn dort sei noch nicht von einer Allergie berichtet worden. Als möglichen Grund führte Brehler an, dass Zirkoniumdioxid nur rund halb so viele Partikel freisetze wie beispielsweise Titan.

Von Acrylat-Allergien seien das zahnärztliche Personal sowie Beschäftigte im Nagelstudio am häufigsten betroffen. Acrylate seien in vielen Materialien wie beispielsweise Klebstoffen oder Lacken enthalten. Bereits ein einmaliger Monomerkontakt könne ausreichen, um eine Allergie auszulösen, erklärte Brehler.

Die gute Nachricht von Brehler ist: Im Großen und Ganzen sind Allergien auf zahnärztliche Werkstoffe selten. Die Diagnostik sei allerdings nicht einfach und es müsse penibel auf die Abgrenzung von anderen Erkrankungen geachtet werden.

Update Orales Mikrobiom

Prof. Dr. Christof Dörfer (Kiel) referierte über das orale Mikrobiom, das die Gemeinschaft aller Mikroorganismen in der Mundhöhle darstellt. Dazu zählen Bakterien, Nanobakterien, Archaebakterien (Vorläufer von Bakterien), Viren, Megaviren (nahezu so groß wie Bakterien), Pilze, Protozoen und Mikroalgen. Er führte aus, dass unsere Vorstellung vom Mikrobiom maßgeblich von wissenschaftlichen Methoden geprägt sei. Im Laufe der Jahre habe sich diese durch neue Erkenntnisse jedoch immer weiter gewandelt. Dörfer beschrieb das Mikrobiom als essenziellen Bestandteil unseres Organismus. In der Mundhöhle sei es planktonisch, während es sich auf Oberflächen als Biofilm organisiere.

Die Bildung des Mikrobioms werde vermutlich durch den Geburtsvorgang initiiert und durch das Stillen beeinflusst. Hauptübertragungsweg sei die Hand des Babys, erklärte Dörfer. Veränderungen des Mikrobioms könnten unter anderem durch Zahnwechsel und die Pubertät beeinflusst werden. Als junger Erwachsener bestehe dann ein personalisiertes und weitestgehend stabiles Mikrobiom, das unter anderem durch Rauchen, Lebensstil, Erkrankungen sowie das soziale Umfeld determiniert werde.

Biofilmkontrolle kann Mikrobiom nachhaltig modifizieren

Dörfer erläuterte, dass das orale Mikrobiom grundsätzlich sehr resilient gegenüber kurzfristigen Veränderungen sei. Nachhaltige Änderungen könnten nur durch langfristig modifizierte Rahmenbedingungen hervorgerufen werden. Die Resilienz des oralen Mikrobioms werde unter anderem durch Sulkusflüssigkeit, Speichel, die Ernährung, das Immunsystem sowie die mechanische Mundhygiene beeinflusst. Letztere sei die beste, nachhaltigste und nebenwirkungsärmste Methode, das gesamte Mikrobiom durch Reduktion der Masse maßgeblich und nachhaltig zu modifizieren.

Veränderungen im Mikrobiom verlaufen schleichend. Nahrung könne nur Einfluss auf das Mikrobiom nehmen, wenn es im Speichel zu einer Anreicherung von Wirkstoffen kommt. Eine nitratreiche Ernährung wirke sich positiv auf den Biofilm aus, bei Probiotika sei die Evidenzlage aktuell eher diffus, erklärte Dörfer. Negative Treiber seien größere Kohlenhydrat-Mengen sowie weitere Faktoren, die eine Anfälligkeit für Parodontitis begünstigen. Ein reduzierter Speichelfluss und langfristige Entzündungen – einhergehend mit morphologischen Veränderungen – gehörten zu den entschiedensten Faktoren für nachhaltige Veränderungen des Mikrobioms. Hinzu komme der Einfluss des Rauchens und der Blutzuckerspiegel.

Das Mikrobiom könne sich sowohl bei systemischen Erkrankungen als auch unter Medikationen verändern. Dörfer berichtete, dass vor allem Stoffwechsel-Erkrankungen wie Diabetes mellitus diskutiert werden sowie alle Erkrankungen und Medikationen, die Einfluss auf das Immunsystem haben.

Karies und Parodontitis seien mit Veränderungen des Mikrobioms verbunden, obgleich die Kausalität noch ungeklärt sei. Die Frage danach hält Dörfer allerdings auch nicht für zielführend. Hier liege eine Feedbackschleife vor, in der sich die Entitäten gegenseitig hochschaukeln würden.

Im Mund nimmt die Vielfalt bei Erkrankung zu

Dörfer berichtete, dass bei oralen Erkrankungen nicht nur die Vielfalt des oralen Mikrobioms, sondern gleichzeitig auch die Interaktion zwischen Bakterienspezies in Umfang und Komplexität zunehme. Dies sei überraschend, da sonst alle Informationen darauf hinweisen, dass bei Erkrankungen die Vielfalt des Mikrobioms abnehme. Ökosysteme stünden bei einer Abnahme der Diversität grundsätzlich schlecht da, denn durch Veränderung gehe Stabilität verloren. Warum es dennoch im Mund zu einer zunehmenden Vielfalt kommt, bleibe aktuell Spekulation.

Das Mikrobiom beeinflusse die oralen Erkrankungen und umgekehrt die Erkrankungen das orale Mikrobiom. Dörfer erklärte, der Virulenz der einzelnen Bakterien komme keine so entscheidende Rolle zu wie einst geglaubt. Deren Aktion im Gesamtkontext und dessen Veränderung seien entscheidender für den Verlauf einer Erkrankung.

Auch bei Karies gebe es eine höhere Diversität bei hohem Erkrankungsrisiko. Bei Beseitigung von (Mikro-)Nischen werde auch Einfluss auf das Mikrobiom genommen. Eine Beteiligung des oralen Mikrobioms werde überdies auch bei Mundschleimhauterkrankungen wie beispielsweise beim oralen Lichen planus oder bei oralen Karzinomen vermutet.

Das orale Mikrobiom stehe erwiesenermaßen im Austausch mit dem Darmmikrobiom. Das Darmmikrobiom werde auch mit neurodegenerativen Erkrankungen in Verbindung gebracht und man vermute, dass auch das orale Mikrobiom dabei eine gewisse Rolle spielt. Wenn das orale Mikrobiom mit dem Organismus im Sinne einer Symbiose agiert, dann bestehe im Idealfall die Chance, dieses auch über die Mundhöhle zu beeinflussen. Über beeinflussbare und nicht beeinflussbare Faktoren bestehe dann aber auch die Gefahr des Entstehens einer Dysbiose und damit der Startpunkt einer pathogenen Feedback-Schleife. Über beeinflussbare Risikofaktoren könne versucht werden, wieder eine Symbiose zu erwirken, resümierte Dörfer. Dabei funktionierten unspezifische Ansätze scheinbar am besten. Dazu gehöre vor allem die mechanische Biofilm-Kontrolle, aber auch die Rauchentwöhnung und die Diabeteskontrolle.

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