Blind Founding – Praxisgründung mit einem Fremden
Vorher, im Angestelltenverhältnis, konnten sich beide mit keinem ihrer Kollegen eine gemeinsame Praxis vorstellen. Nach ihrem ersten Treffen hatten Hinderer und Heinrich aber direkt ein gutes Bauchgefühl. Das war der Unterschied! Aber reicht das auch?
Der Wunsch nach einer eigenen Praxis hatte beide Zahnärzte unabhängig voneinander in die Gegend um Ravensburg geführt – auserkoren als künftiger Heimat- und Familienort. Und der Standort der Praxis, na ja, der sollte halt irgendwie in der Nähe liegen. „Ich habe fast drei Jahre gesucht und klar, spielt man irgendwann im Kopf durch, den Radius zu erweitern. Für mich stand aber fest: Wenn die Distanz zwischen Wohnort und Praxis nicht mehr pendelbar ist, auch den Kindern zuliebe, dann wird das langfristig nicht klappen“, erklärt Hinderer.
Und dann standen sie beide irgendwann vor der Praxis im oberschwäbischen Baindt. „Ganz ehrlich, wenn man nicht aus der Region kommt, würde man hier nicht unbedingt hin wollen“, scherzt Hinderer. Die Übernahme ist eine einmalige Gelegenheit – trotz des 80er-Jahre-Charmes. Doch die Praxis ist zu groß für einen alleine. Was nun?
Sympathie und ähnliche Zielvorstellungen
Die einzige Möglichkeit: Verantwortung teilen und gemeinsam gründen. Doch wie? Mit wem? Über den alten Praxischef finden die beiden Zahnärzte zueinander und sind sich auf Anhieb sympathisch. Entscheidend war, erinnern sie sich im Rückblick, dass sie beide dieselben Ansprüche und Zielvorstellungen an die Selbstständigkeit hatten. „Schon nach dem ersten Treffen spürte ich Kirstens Willensstärke und Entschlossenheit. Wir hatten beide genug Berufserfahrung, um unsere Vorstellungen einer eigenen Zahnarztpraxis zum Ausdruck zu bringen. Dabei gab es eine große Schnittmenge. Unterschiedliche Ansichten wandelten wir als willkommene Details in der Praxis um“, erklärt Heinrich.
Die beiden gingen gemeinsam das Wagnis in der Heimat ein: Praxisübernahme mit einem (fast) fremden Partner. Doch wie kann so etwas funktionieren? „Wir ergänzen uns vor allem gut. Ich habe meine Schwerpunkte Endodontie, Parodontologie und Kinderzahnheilkunde, mein Kollege macht vorrangig Prothetik, Implantologie und Chirurgie“, berichtet Hinderer, die im nächsten Jahr noch eine Fortbildung zum Thema Umweltzahnmedizin absolvieren wird.
„Look and Feel“ fanden beide cool
Beim Abklopfen der Vorstellungen und Konditionen half eine gemeinsame Beraterin. Und so stellte sich heraus: Beide Visionen passten zueinander und waren gut kombinierbar. Genau das ist zu ihrem Alleinstellungsmerkmal geworden: Zusammen decken sie fast das komplette Leistungsspektrum ab. „Außerdem haben wir unser eigenes Labor und garantieren damit Arbeit made in Germany“, ergänzt Heinrich. Im Alltag teilen sie sich nun die Aufgaben: Er übernimmt alle anfallenden Aufgaben im IT- und Technikbereich, sie kümmert sich vorrangig um Personalangelegenheiten und die Buchhaltung.
Um parallel das Familienleben und die Work-Life-Balance unter einen Hut zu bekommen, entschieden sich Hinderer und Heinrich, das alte Schichtsystem weiterzuführen. Sie arbeiten im Wechsel von 7 bis 20 Uhr. In der Tagesmitte gibt es eine Stunde Überschneidung für die Übergabe. Die langen Öffnungszeiten kommen gut an. Nach der Übernahme vom ehemaligen Praxisinhaber Dr. Rainer Assfalg sind die meisten von ihnen geblieben, denn der alte Chef arbeitet immer noch mit und konnte „die Neuen“ so nach und nach vorstellen. Außerdem macht er die Urlaubsvertretung. Die Praxis muss also nie schließen. Die beiden Gründer freut das: „Das Heranführen und Kennenlernen der Stammpatienten, die ja zum Teil schon seit Jahrzehnten ihrem Zahnarzt treu sind, hat uns unheimlich geholfen, sie zu übernehmen und halten zu können. Es war für alle Beteiligten so weniger der Sprung ins kalte Wasser. Sie können sich vorstellen, wenn der etablierte Behandler sagt ‚Die Neuen sind auch super nett und gut in dem, was sie tun‘, dann hat das eine positive Wirkung und unterstützt die Akzeptanz.“
Gleichzeitig kommt auch das neue Konzept gut an. Nach all den Dekaden haben die beiden eine Kernsanierung und Modernisierung veranlasst und staunen bis heute selbst noch über die gelungene Transformation. Die Räume waren vorher zum Teil holzvertäfelt, das Licht war gedämpft und das Interieur wirkte eher massiv und gedrungen. Insgesamt hat der Umbau aber nur zwei Monate gedauert, obwohl die Pandemie-Situation die Arbeiten nicht gerade erleichtert hat.
Gemeinsam mit dem befreundeten Architekt Marius Mager und der Praxisberaterin Stephanie Schrade haben sie sich für ein Raumgestaltungskonzept entschieden, das dem Ansatz „Look and Feel“ folgt. „Weniger Zahnarztpraxis, mehr Wohnzimmer-Charakter mit Lounge-Möbeln und Musik sollte die neu gestaltetet Praxis haben“, erklärt Heinrich. Das hat einen Marketing-Effekt, aber vor allem soll es Patienten ein Stück weit die Angst vor der Praxis nehmen. „Sie kommen rein und stellen fest, dass es hier wenig steril, aber dafür sehr gemütlich ist.“ Die verwendeten Farben sollen den Effekt unterstützen und beruhigend wirken. Jeder Raum hat eine eigene, nur weiß gibt es wenig. Ohne die Unterstützung der Niederlassungsberaterin sei die Übernahme aber nicht möglich gewesen, meinen beide: „Sie hat uns durch den Dschungel des ganzen Prozesses geschleust, sodass wir innerhalb von viereinhalb Monaten die Praxisübernahme durchführen konnten.“
Die Übernahme und den Komplett-Umbau hat das alte Team fast vollständig mitgemacht – fast alle sind geblieben. Nach einer Phase des „Einruckelns“ haben das alte Team und die neue Praxisführung sich bald eingespielt. Die Fluktuation sei gering, berichten die beiden Zahnärzte. Das zeige ihnen, dass sie es trotz der ganzen neuen Umstände geschafft haben, den Mitarbeitern das Gefühl zu geben, wieder ankommen zu können und eine Perspektive zu bekommen. Inzwischen sind sie ein Team aus 15 Personen, darunter drei Behandler. Zu ihrer Vision gehört auch die vollständige Digitalisierung der Praxisorganisation. Davon waren zwar am Anfang nicht alle Angestellten angetan, aber inzwischen zählt für sie die große Zeit- und Platzersparnis, zum Beispiel mit den digitalen Karteikarten oder dem digitalen Bestellbuch.
Herzblut, Toleranz und Kompromissbereitschaft
„Sicher haben wir uns aneinander gewöhnen müssen. Aber wir haben es bislang geschafft, immer einen Konsens zu finden. Und wir können uns aufeinander verlassen. Jeder von uns gibt eben alles und das schätzen wir“, sagt Hinderer. Zudem haben die vielen Hürden auf der Wegstrecke in die Selbstständigkeit auch einen verbindenden Effekt – sie schweißen über die Erfahrungen quasi zusammen. Es sei ein erleichterndes Gefühl gewesen, jemanden an seiner Seite zu haben, der mit genau so viel Herzblut an der Sache arbeitet, wie man selbst. Da gehe man auch gerne Kompromisse ein, so ihr Fazit.
Überhaupt, wer an einer Kooperation Freude haben möchte, sollte eine gewisse Flexibilität und Offenheit mitbringen. Wenn man verinnerlicht hat, dass man gemeinsam an einem Strang zieht, ist es erstaunlich, wie viel überlegener und leichter Ziele erreicht werden können, lautet der Rat für alle, die mit einem (fast) fremden Partner in die Niederlassung starten. „Natürlich ist dieser Schritt auch mit einem gewissen Risiko verbunden, andererseits gibt einem dieses Wissen vielleicht gerade das ‚Quäntchen mehr‘ an Toleranz und Kompromissbereitschaft. Ob die Sache auch in künftigen Jahren unter Praxisbedingungen funktioniert, wäre auch bei einer Kooperation mit einem guten Freund nicht zweifelsfrei zu beantworten. Im Gegenteil, durch freundschaftliches Schweigen und Hinnehmen könnten schon zu Anfang falsche Grundsteine gelegt werden“, so Heinrich.