Prolongierte Nachblutung nach Zahnextraktion
Ein 82-jähriger Patient stellte sich mit ausgeprägter Nachblutung nach alio loco erfolgter Extraktion mehrerer Seitenzähne im ersten Quadranten unter Apixaban-Therapie vor. Seit der drei Tage zuvor durchgeführten Zahnextraktion war es zu rezidivierenden Blutungsereignissen gekommen, die initial von der Hauszahnärztin versorgt wurden, zuletzt von ihr aber nicht mehr kontrollierbar waren, weshalb der Patient überwiesen wurde. Hier konnte die Blutung nach der Durchführung der Wundrevision und der lokalen Anwendung hämostyptischer Maßnahmen vorerst gestoppt werden.
Aufgrund des bis dahin aufgetretenen Blutverlusts und des reduzierten Allgemeinzustands wurde der Patient zur weiteren Überwachung stationär aufgenommen. Es präsentierte sich ein multimorbider Patient mit 3-Gefäß-KHK und Zustand nach multipler Stentimplantation (RCA, RIVA, RPDL) sowie anamnestisch bekanntem Aneurysma der Aorta ascendens, Vorhofflimmern, Tinnitus und Glaukom. Zusätzlich zeigten sich in der körperlichen Untersuchung ausgeprägte faziale und cervikale Hämatome (Abbildung 1).
Bereits im Aufnahmelabor ließ sich eine ausgeprägte Thrombozytopenie mit einer Thrombozytenanzahl von gerade einmal 1.000/µL nachweisen. Unter Einbeziehung der Kollegen der Hämatoonkologie wurde die Verdachtsdiagnose einer Immunthrombozytopenie gestellt. Nach der Transfusion eines Thrombozytenkonzentrats und der Einleitung einer Hochdosis-Glukokortikoid-Therapie mit Prednison (100 mg/d) zeigte sich ein suffizienter Anstieg der Thrombozytenzahl auf über 20.000/µL.
Nach wiederholter Anwendung hämostyptischer Maßnahmen ließ sich auch die intraorale Wundsituation stabilisieren (Abbildung 2), so dass im weiteren stationären Verlauf keine erneuten Blutungsereignisse auftraten. Weiterhin ließ sich anhand des Blutbilds des Patienten eine Anämie (Hb 10,2 g/dL) nachweisen, allerdings ohne Manifestation klinischer Symptome. Aufgrund des Verdachts einer autoimmunhämolytischen Anämie wurden zwei Erythrozytenkonzentrate auf Abruf bereitgehalten, mussten aber bei stabilem Verlauf ohne weitere HB-Abfälle nicht transfundiert werden.
In enger Zusammenarbeit mit den Kollegen der Hämatoonkolgie besserte sich der Allgemeinzustand des Patienten, so dass er nach einer Woche mit einer stabilen und zeitgerechten Wundsituation entlassen werden konnte.
Folglich wurde die Abklärung der Grunderkrankung im ambulanten Rahmen weitergeführt. Ohne wegweisende autoimmunologische Diagnostik mit negativen Antinukleären, CCP-, Cardiolipin-IgM-, Cardiolipin-IgG- und Doppelstrang-DNS-Antikörpern sowie negativen pANCA, cANCA und Rheumafaktor erfolgte außerdem der radiologische Ausschluss eines Lymphoms. Eine paroxysmal nächtliche Hämoglobinurie wurde mittels Durchflusszytometrie ebenso ausgeschlossen.
Insgesamt zeigten sich alle durchgeführten Untersuchungen ohne pathologischen Befund, auch Auto-Antikörper konnten im mehrfach durchgeführten Coombs-Test nicht nachgewiesen werden. Hepatitis B und C sowie die HIV-Serologie zeigten sich negativ und alle Schilddrüsenparameter normwertig. Bei simultan erfolgtem Ausschluss eines myelodysplastischen Syndroms oder Non-Hodgkin-Lymphoms durch Knochenmarkspunktion präsentierte sich altersbezogen deutlich hypozelluläres Knochenmark mit einer trilineär gesteigerten, atypiefreien Hämatopose bei geringgradiger Lymphoplasmozytose, vereinbar mit einem erhöhten peripheren Verbrauch wie bei chronischen entzündlichen oder immunologischen Grunderkrankungen üblich (Abbildung 3).
Anhaltspunkte für eine Lymphominfiltration oder Hinweise auf ein myelodysplastisches Syndrom ergaben sich histopathologisch nicht, so dass schlussendlich die Ausschlussdiagnose einer Immunthrombozytopenie bestätigt wurde.
Zwei Wochen nach Therapiebeginn war die Thrombozytenzahl wieder auf 142.000/µL angestiegen, die LDH laborchemisch fallend und auch der Hb im Aufwärtstrend, so dass die Antikoagulation mit Eliquis nun in gewohnter Dosierung fortgeführt wurde. Aufgrund der Vereinbarkeit des beschriebenen Krankheitsbilds mit dem Evans-Syndrom, einer äußerst seltenen Autoimmunerkrankung unklarer Genese mit einer Prävalenz von circa 1:1.000.000, stehen aktuell noch weitere diagnostische Verfahren aus.
Diskussion
Die Immunthrombozytopenie (ITP) ist eine durch wiederholt auftretende Thrombozytenzahlen unter 100.000/µL charakterisierte, erworbene Thrombozytopenie, der pathogenetisch eine Autoantikörperbildung gegen Thrombozyten und Megakaryozyten zugrunde liegt [Tărniceriu et al., 2022]. Die im früheren Sprachgebrauch verwendete Bezeichnung „Idiopathische thrombozytopenische Purpura“ ist aktuell nicht mehr gebräuchlich. Mit einer Inzidenz von zwei bis vier Neuerkrankungen pro 100.000/Jahr bei Erwachsenen und drei bis fünf Neuerkrankungen pro 100.000/Jahr bei Kindern ist es zwar ein selten auftretendes Krankheitsbild, aber trotzdem die häufigste Ursache einer gesteigerten Blutungsneigung bei Kindern [D'Orazio et al., 2013; Moulis et al., 2014].
Auf den zeitlichen Verlauf bezogen unterscheidet man eine akute und selbstlimitierende Form der ITP von der chronischen Verlaufsform. Die letztere tritt bevorzugt bei älteren Patientinnen und Patienten (> 60 Jahre) auf, während bei Kindern nur circa 20 Prozent der Erkrankungen chronisch verlaufen. Eine Chronifizierung liegt bei einer länger als ein Jahr nach Diagnosestellung weiterhin bestehenden Thrombozytopenie vor. Innerhalb der ersten drei Monate nach Diagnosestellung wird die ITP als neu aufgetretene, im Zeitraum von drei Monaten bis ein Jahr als persistierende ITP klassifiziert [Audia et al., 2021].
Weiterhin lässt sich unter Berücksichtigung der Ätiologie die häufige (80 Prozent) primäre Form ohne erkennbar auslösende Ursache von der selteneren (20 Prozent) sekundären Form differenzieren. Der sekundären Form zugrunde liegen beispielsweise Autoimmunerkrankungen wie der systemische Lupus erythrematodes oder das Antiphospholipidsyndrom, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, hämatologische Neoplasien wie das myelodysplastische Syndrom, Malignome oder Virusinfektionen [Tărniceriu et al., 2022; Rajan et al., 2005].
Bei simultan auftretender autoimmunhämolytischer Anämie spricht man vom Evans-Syndrom. Weiterhin wurde außerdem eine Assoziation der ITP mit einer Helicobacter-pylori-Infektion beschrieben, die vor allem bei Patienten in Asien beobachtet wurde. Auch wenn die pathogenetische Bedeutung hiervon nicht abschließend geklärt ist, wird bei gleichzeitigem Auftreten eine Eradikationstherapie des Erregers empfohlen [Stasi und Provan, 2008].
Die im Rahmen der ITP auftretende Reduktion der Thrombozytenzahl beruht auf einer Autoimmunreaktion mit der Bildung von Antikörpern gegen Thrombozyten und Megakaryozyten, die einerseits zum Untergang der vorhandenen Thrombozyten führt, andererseits auch die Bildung neuer Thrombozyten beeinträchtigt.
Dementsprechend geht der Nachweis von freien Antikörpern gegen Thrombozyten sowie an Thrombozyten gebundene Antikörper mit einer hohen Sensitivität sowie Spezifität einher [Tărniceriu et al., 2022; Curtis, 2014; van Leeuwen et al., 1982], stellt allerdings aufgrund einer hohen Anzahl an Patienten (40 Prozent) ohne Antikörpernachweis kein entscheidendes Diagnosekriterium dar. Bereits in den 1950er-Jahren wurde ein Antikörper-vermittelter Zelluntergang im Rahmen der ITP nachgewiesen [Harrington et al., 1951]. Neben IgG wurden auch IgA und IgM gegen die Glykoproteine GPIIb/IIIa, GPIb/IX/V, GPIa/IIa, IV und VI nachgewiesen [van Leeuwen, 1982; He et al., 1994], die als Opsonine über die Bindung ihrer Fc-Region an die FcγRIIa- und FcγRIIIa-Rezeptoren zur Phagozytose der Thrombozyten durch Makrophagen führen [Marini und Bakchoul, 2019]. Über die direkte Antikörper-vermittelte Zerstörung hinaus wird durch die Fc-Region weiterhin das Komplementsystem aktiviert und somit die Zelllyse initiiert [Audia et al., 2021; Marini und Bakchoul, 2019].
Es wurden außerdem bereits Fc-unabhängige Mechanismen des Zelluntergangs – über eine ITP-Autoantikörper vermittelte Modifizierung der Oberflächenglykane von Thrombozyten und damit einhergehendem Zellabbau über Ashwell-Morrell-Rezeptoren in der Leber – beschrieben [Li et al., 2015].
Während die ITP einerseits durch einen erhöhten Untergang von Thrombozyten charakterisiert ist, trägt gleichzeitig eine gestörte Thrombozytenbildung zur Thrombozytopenie bei. Im Rahmen der im Knochenmark stattfindenden und durch Thrombopoetin vermittelten Megakaryopoese kommt es während der Zelldifferenzierung zur Expression der Glykoproteine GPIb und GPIIb/IIIa, die als Zielstruktur von ITP-Autoantikörpern gebunden werden und damit in einer beeinträchtigten Zellreifung und Thrombozytenbildung resultieren [Tărniceriu et al., 2022; Audia et al., 2021].
Klinisch manifestiert sich die ITP in der Regel durch eine gesteigerte Blutungsneigung und damit einhergehend Petechien, Schleimhautblutungen, urogenitale Blutungen oder verlängerte Blutungszeiten und ausgedehnter Hämatombildung bei Verletzungen. Gravierende intrazerebrale Blutungen sind nur selten zu beobachten [Tărniceriu et al., 2022]. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei der ITP nicht um eine ausschließlich hämorrhagische Erkrankung, denn gleichzeitig besteht auch ein erhöhtes Risiko der Thrombose.
In einem Kollektiv von 186 erwachsenen IPT-Patienten hatten zehn Patienten insgesamt 18 thromboembolische Ereignisse [Aledort et al., 2004]. Als Ursache hierfür wird die erhöhte Anzahl junger Thrombozyten beschrieben, die ein größeres thrombogenes Potenzial aufweisen [Tărniceriu et al., 2022]. Weiterhin scheint die Bildung von platelet microparticles (PMP) eine entscheidende Rolle bei der gesteigerten Aggregation im Rahmen der ITP zu spielen [Jy et al., 1992].
Außerdem wird eine zelluläre Komponente im Rahmen der Pathogenese der ITP vermutet, denn es konnte bereits eine verringerte Anzahl an regulatorischen T-Lymphozyten (TREGs) nachgewiesen werden, die mit einer Immundysregulation einhergeht [Tărniceriu et al., 2022].
Diagnostisch handelt es sich bei der ITP um eine Ausschlussdiagnose. Es existiert kein laborchemisches Verfahren, mit dem sich die ITP beweisen lässt. Das Hauptaugenmerk liegt demzufolge darauf, Differenzialdiagnosen sowie Ursachen einer sekundären ITP zu identifizieren beziehungsweise auszuschließen. Wie im Fallbericht dargestellt, kann die Diagnosestellung erst nach abgeschlossener ausführlicher Diagnostik erfolgen [Tărniceriu et al., 2022; Curtis, 2014].
Fazit für die Praxis
Die Immunthrombozytopenie ist eine seltene Erkrankung, die sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern auftritt und durch Thrombozytenzahlen unter 100.000/µL charakterisiert ist.
Neben der Antikörper-vermittelten Zerstörung von Thrombozyten spielen eine Aktivierung des Komplementsystems sowie T-Zellen und die Beeinträchtigung der Thrombozytenbildung bei der Pathogenese eine entscheidende Rolle.
Prolongierte und im ambulanten Setting nur schwer kontrollierbare Nachblutungen können auch aufgrund von seltenen Erkrankungen wie der ITP auftreten und eine stationäre Behandlung sowie Diagnostik erforderlich machen.
Als Ausschlussdiagnose steht bisher kein Nachweisverfahren für die ITP zur Verfügung.
Aufgrund der autoimmunen Genese basiert die Erstlinientherapie auf der Immunsuppression mit Glukokortikoiden, während für therapierefraktäre Verlaufsformen beispielsweise Thrombopoietin-Rezeptor-Agonisten zur Verfügung stehen.
Die Therapieindikation wird individuell gestellt und ist abhängig von der Thrombozytenzahl, der Blutungsneigung, dem Krankheitsstadium und -verlauf, wobei jedoch keine festen Schwellenwerte als absolute Therapieindikation definiert sind. Die Erstlinientherapie erfolgt dabei mit Glukokortikoiden aufgrund der immunsupprimierenden Wirkung. Insbesondere bei schweren Blutungen kann die Intervention zusätzlich mit intravenösen Immunglobulinen, Anti-D-Immunglobulin oder Rituximab erfolgen.
Bei frustranem Ergebnis besteht die Möglichkeit zur Einleitung einer Zweitlinientherapie mit Thrombopoietin-Rezeptor-Agonisten, dem SYK-Inhibitor Fostamatinib oder der nur selten durchgeführten Splenektomie [Audia et al., 2021; Neunert et al., 2019].
Literaturliste
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