Wie aus dem Handicap eine Chance werden kann

Legasthenie am Arbeitsplatz

Ella Levene bekam ihre Legasthenie-Diagnose erst im Alter von fast 20 Jahren – und das auch nur, weil sie auf einen Tipp hin einen Psychotherapeuten aufsuchte. Damals stand sie am Ende ihres ersten Semesters Zahnmedizin am King's College London und drohte zu scheitern. Heute praktiziert sie in Chigwell und versucht, Kollegen und Praxen für das Thema zu sensibilisieren – und gibt Tipps, wie aus dem Handicap eine Chance werden kann.

Durch die Lese- und Rechtschreibstörung kann es zur Fehlinterpretation von Informationen kommen. In einer Zahnarztpraxis reichen die dadurch möglicherweise entstehenden Probleme von der falschen Aussprache eines Patientennamens über Schwierigkeiten bei der Anamnese, die falsche Identifizierung von Medikamenten bis zur Erstellung fehlerhafter Berichte, schreibt Levene in einem Online-Artikel der British Dental Association. „Diese Probleme können sich negativ auf die Qualität der Versorgung auswirken, wenn sie unbemerkt bleiben und nicht gegengesteuert wird.“

Ein offenes Umfeld ist entscheidend

Zuallererst sei es wichtig, ein integratives Umfeld zu schaffen, das frei von Diskriminierung ist, schreibt die Zahnärztin. Erst dies ermögliche es Betroffenen, ihre Legasthenie-Diagnose und die Folgeimplikationen offenzulegen. Ihnen rät Levene, offen auf die Praxisleitung zuzugehen – nur dann könne das Team die notwendige Unterstützung bieten. Für zahnmedizinische Ausbilder und Arbeitgeber wiederum sei wichtig, verfügbare Unterstützungsangebote zu kennen und zu wissen, wie man sie nutzen kann. Denn Mitarbeiterschulungen, Unterrichtshilfen und entsprechende Technologien können aus der Erfahrung von Levene einen großen Unterschied machen.

Betroffene müssen offen auf die Praxisleitung zugehen – nur dann kann das Team die notwendige Unterstützung bieten.

Ella Levene

Dabei gebe es mehrere Möglichkeiten, Legasthenie am Arbeitsplatz in den Griff zu bekommen, schreibt sie – etwa mit Anpassungen, wie sie seit 2010 für Arbeitgeber in Großbritannien verpflichtend sind, seit Legasthenie dort als Behinderung anerkannt ist. „Anstatt sich ausschließlich auf schriftliche Informationen zu verlassen, können verbale Anweisungen und Speech-to-Text-Tools Legasthenikern helfen, Informationen leichter zu behalten“, führt die Zahnärztin aus. Dazu gehöre auch, Betroffenen in den Arbeitsabläufen Zeit und Raum zu geben, sich die Notizen selbst noch einmal laut vorzulesen.

Betroffene sind häufig überdurchschnittlich kreativ

Neben Herausforderungen birgt das Handicap aber auch Chancen, betont die Britin Claire Bennett. Als mehrfach prämierte Dental-Therapeutin ist sie seit mehr als 27 Jahren in der Zahnmedizin tätig, Fachautorin und selbst von Legasthenie betroffen. Häufig treten die Einschränkungen in Kombination mit ausgeprägten Stärken in anderen Bereichen auf, bilanziert sie.

Dazu gehörten etwa eine überdurchschnittliche Begabung zum kreativen Denken und zur Fehlerbehebung, ein intuitives Verständnis von Systemen sowie eine ausgeprägte emotionale Intelligenz. Um der Behinderung ihren Makel zu nehmen, verweist Bennett noch darauf, dass einige der erfolgreichsten Menschen der Welt Legastheniker waren oder sind. Albert Einstein, Cher, François Mitterrand, Jamie Oliver und Mark Zuckerberg zum Beispiel.

Wie viele Beschäftigte in der Zahnmedizin von Legasthenie betroffen sind, ist ungeklärt. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht im November 2023 klargestellt, dass es sich bei Legasthenie um eine Behinderung handelt und die Betroffenen damit einen Anspruch auf Nachteilsausgleich haben. Daraus folgt nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz auch, dass ihre Rechtschreibleistungen nicht bewertet werden. Grundsätzlich werden Zeugnisvermerke über die Nichtbewertung einzelner Leistungen aber als geboten erachtet. Bis das umgesetzt ist, bedeutet das für Praxisinhaber, dass sie sich bei Bewerberinnen und Bewerbern nicht durch schlechte Schulnoten in Rechtschreibung und Deutsch abschrecken lassen sollten.

Zur Prävalenz von Legasthenie

Belastbare Zahlen zur Prävalenz von Legasthenie zu finden, ist schwierig, denn sie sind maßgeblich von der Untersuchungsmethodik und dem gewählten diagnostischen Kriterium abhängig, schreibt das Deutsche Ärzteblatt. Deshalb variieren die Angaben international zwischen 3 und 20 Prozent. Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) geht für Deutschland von einer Prävalenz von 10 bis 12 Prozent aus. Eine Analyse von 58 zwischen 1950 bis 2021 erschienenen Studien zu Legasthenie bei Grundschulkindern wiederum errechnete eine weltweite Prävalenz von 7,1 Prozent – diese war bei Jungen mit 9,22 Prozent signifikant höher als bei Mädchen mit 4,66 Prozent.

„Legastheniker kämpfen sich, trotz guter Begabung, mühevoll durch unser Schulsystem. Durch die Fokussierung auf die Schwächen erfahren die Kinder dabei bereits mit Schulbeginn viel seelisches Leid, da sie in den Basisfertigkeiten des Lesens und/oder Rechtschreibens eingeschränkt sind, was sich auf alle Schulfächer auswirkt“, heißt es vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie. Der Verband stellt auch Arbeitgebern von Legasthenikern umfangreiches Informationsmaterial auf seiner Website zur Verfügung.

Arbeitgeber tun sich oftmals schwer

„Obwohl Legasthenie eine der häufigsten Behinderungen in der Zahnarztpraxis ist, wird sie von Arbeitgebern nur unzureichend verstanden und übersehen“, stellt Bennett fest. Viele erwachsene Legastheniker hätten in ihrer Schul- und/oder Studienlaufbahn Diskriminierung erfahren und sich minderwertig gefühlt, weshalb sie geschickt darin seien, das Problem zu verschleiern oder zu verbergen.

Ein erhöhtes Bewusstsein für Legasthenie in der Zahnmedizin sei notwendig, um das zahnärztliche Team darin zu schulen, wie auch Zahnärzte mit dieser Erkrankung unterstützt werden können. bekräftigen zwei Zahnärztinnen aus Bradford in einer weiteren Studie zum Thema: „Es ist wichtig, dass sich Zahnärzte mit Legasthenie darin unterstützt fühlen, ihren Zustand am Arbeitsplatz und in der Hochschulbildung offenzulegen.“

Bennett rät Arbeitgebern,

  • Anweisungen nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich zu erteilen.

  • sicherzustellen, dass Dokumente oder Handouts für Meetings immer im Voraus verteilt werden, um Betroffenen die Zeit zum Lesen zu geben.

  • den Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie Digitalrekordern oder Smartphones aktiv zu unterstützen.

  • gedruckte Exemplare der Arbeitsanweisungen auf farbigem Papier zur Verfügung zu stellen.

  • die Standardeinstellungen des Computers so zu ändern, dass Texte keinen weißen, sondern einen farbigen Hintergrund haben.

  • Arbeitsbereiche so zu organisieren, dass wichtige Gegenstände immer am selben Ort sind und keine textlichen Hinweise gelesen werden müssen.

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