Sonst wird das Implantat halt wieder rausgedreht
Dutzende Millionen Amerikaner leiden unnötig, weil sie sich die notwendige zahnärztliche Versorgung nicht leisten können“, schrieb Bernie Sanders, US-Senator des Bundesstaats Vermont auf X. „Im reichsten Land der Weltgeschichte sollte niemand wegen Zahnschmerzen in die Notaufnahme gehen müssen.“
Der Vorschlag von US-Präsident Joe Biden adressiert ein anderes Problem. Er könnte medizinische Schulden aus den Kreditauskünften von mehr als 15 Millionen Amerikanern entfernen, was deren Kreditwürdigkeit erhöhen und zur Genehmigung von etwa 22.000 weiteren Hypotheken pro Jahr führen würde, zitiert CNN aus einem Merkblatt des Büros von Vizepräsidentin Kamala Harris. Der Vorstoß ist in der Bewertung des Nachrichtensenders der Versuch, „den Menschen zu helfen, mit den höheren Lebenshaltungskosten fertig zu werden“. Die Motivation ist für die Journalisten auch klar: Umfragen zeigten, dass die Wähler etwa ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen mit Bidens Wirtschaftspolitik unzufrieden sind.
„Es werden nur die Symptome bekämpft, nicht die Ursachen“
Die vorgeschlagene Regel – die frühestens 2025 in Kraft treten könnte – würde es Kreditgebern auch verbieten, medizinische Geräte wie Rollstühle oder Prothesen als Sicherheit für Kredite zu verwenden und diese zurückzufordern, wenn Patienten die Kredite nicht bedienen können. Nach Ansicht der New York Times kann die neue Politik allerdings nicht alle aggressiven Inkassotaktiken verhindern, die scheinbar an der Tagesordnung sind.
„Und es beseitigt nicht die zugrunde liegenden medizinischen Schulden, die die Verbraucher haben“, sagte Fredric Blavin, ein leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des sozialpolitischen US-Thinktanks Urban Institute. „Diese Politik bekämpft eher das Symptom als die eigentliche Ursache“. Blavin rechnet damit, dass die Regel zwar ihren eigentlichen Zweck erfüllen wird, aber auch unbeabsichtigte Folgen haben könnte. Zum Beispiel, dass Krankenhäuser künftig Schulden auf andere Weise eintreiben, als sie Kreditbüros zu melden – etwa indem sie Patienten verklagen, deren Lohn pfänden lassen oder die Versorgung aussetzen, bis aufgelaufene Rechnungen bezahlt sind.
Glaubt man Sanders, verhindert die mangelnde Liquidität schon heute bei Millionen von Amerikanern, dass sie eine adäquate zahnmedizinische Versorgung bekommen. Nach einem Aufruf seines Büros seien mehr als 500 E-Mails mit Leidensgeschichten von Betroffenen eingegangen, erklärte der Senator in einer öffentlichen Anhörung, deren Videoaufzeichnung er später bei X verbreitete. Dieser Aspekt sei viel zu selten Gegenstand der öffentlichen Diskussion um die Krise des US-Gesundheitswesens, befand der Politiker.
In der Folge herrsche im ganzen Land „weit verbreitetes Leid, weil Menschen sich zahnmedizinische Versorgung entweder nicht leisten könnten, oder aber keinen Zugang dazu haben“, so Sanders. „Man könnte meinen, dass wir in einem sehr armen Land leben – aber das ist nicht der Fall.“
45 Prozent machen sich große Sorgen wegen Zahnarztkosten
Eine im Mai 2024 erschienene Studie der Universität Michigan zeigt die Dimension auf, wie sehr gesundheitsbezogene Kosten ältere Amerikaner beschäftigen [Ayanian et al., 2024]. Landesweit nahmen an der repräsentativen Umfrage mehr als 3.300 Erwachsene über 50 Jahre teil. Ergebnis: Unter den Top Sechs der besorgniserregendsten Themen bezogen sich fünf auf Gesundheit, darunter auch die Sorge um die Kosten für zahnmedizinische Behandlungen.
Die Teilnehmenden konnten die Themen in der Umfrage in drei Stufen emotional klassifizieren: „sehr besorgt“, „etwas besorgt“ oder „nicht besorgt“. Die beiden Topthemen, über die sich 56 Prozent der über 50-jährigen sehr besorgt zeigten, waren die Kosten der medizinischen Versorgung in ihrer Gemeinde sowie für häusliche Pflege, betreutes Wohnen oder Langzeitpflege. Fast ebenso viele gaben an, dass sie sehr besorgt sind wegen der Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente (54 Prozent), Opfer von Betrug zu werden (53 Prozent) und hohe Kosten für die Krankenversicherung oder Medicare zahlen zu müssen (52 Prozent).
Fast die Hälfte (45 Prozent) nannte die Kosten für die zahnärztliche Versorgung sehr besorgniserregend.
Auf die finanziellen Sorgen vor der Behandlung folgen oft die Schulden nach dem Eingriff. Das erschwere es „Millionen von Amerikanern, einen Autokredit, einen Wohnungsbaukredit oder einen Kredit für kleine Unternehmen zu erhalten“, was es wiederum schwieriger macht, „einfach über die Runden zu kommen, geschweige denn voranzukommen“, sagte Vizepräsidentin Harris gegenüber CNN. „Und es ist einfach nicht fair“, erklärte sie den Reportern, „besonders weil wir wissen, dass Menschen mit medizinischen Schulden einen Kredit nicht weniger wahrscheinlich zurückzahlen als Menschen ohne medizinische Schulden.“
Harris forderte darum auch Bundesstaaten, Kommunen und Gesundheitsdienstleister auf, zusätzliche Schritte zur Beseitigung medizinischer Schulden zu unternehmen, und wies darauf hin, dass sieben Milliarden US-Dollar aus Mitteln des American Rescue Plan Act verwendet werden, um die Schulden von bis zu drei Millionen Menschen bis Ende 2026 zu tilgen.
Vizepräsidentin Harris: „Es ist einfach nicht fair“
Harris Plan ist auch, mit der Streichung von medizinischen Schulden in den Kreditauskünften Inkassounternehmen deren wirksamstes Druckmittel zu nehmen, um Verbraucher zu zwingen, fragwürdige Rechnungen zu bezahlen. Viele Gesundheitsrechnungen enthielten Fehler, die zu längeren Kämpfen zwischen Verschuldeten, Krankenversicherern und medizinischen Dienstleistern führen, berichtet das US-Verbraucherschutzbüro für Finanzfragen. Nicht selten geben Betroffene auf und zahlen auch ungerechtfertigte Rechnungen, berichtet dessen Chef Rohit Chopra, „nur um etwas Ruhe zu bekommen und mit ihrem Leben weitermachen zu können“.
CNN zitiert aus einem im August 2023 veröffentlichten Bericht des Thinktanks Third Way, nach dessen Einschätzung selbst die Mittelschicht in den USA von dem Problem betroffen ist. Fast ein Viertel der Menschen mit einem Jahreseinkommen von 50.000 bis 100.000 US-Dollar hatte demnach 2020 unbezahlte Schulden, die sich aus Gesundheitsdienstleistungen ergaben. Ihr Anteil ist damit sogar geringfügig größer als bei Menschen mit geringem Einkommen (unter 50.000 US-Dollar jährlich), von denen 22 Prozent betroffen sind. Und selbst bei Amerikanern mit hohem Einkommen sind Schulden aus Gesundheitsausgaben keine Seltenheit, meldet der Thinktank: 13 Prozent der Amerikaner mit einem Jahreseinkommen über 100.000 Dollar berichten davon.
Die Schuldenkosmetik sollte schon 2022 einsetzen
Die US-Regierung hatte schon 2022 und 2023 verschiedene Regelungen erlassen, die die Verbraucher besser vor dem Abschluss insuffizienter Zusatzversicherungen, undurchsichtiger Abrechnungspraktiken und überhöhter Kosten für verschreibungspflichtige Präparate schützen sollten. In der Folge kündigten 2022 die drei größten US-Kreditauskunfteien Equifax, Experian und TransUnion an, dass sie fast 70 Prozent der medizinischen Schulden aus ihren Datensätzen entfernen würden, erinnert CNN. Die Agenturen wollten demnach außerdem die Frist für die Aufnahme unbezahlter medizinischer Inkassoschulden von sechs auf zwölf Monate erhöhen, „um den Menschen mehr Zeit zu geben, mit ihren Krankenkassen oder Anbietern zusammenzuarbeiten, um die Rechnungen zu begleichen“. Und medizinische Inkassoschulden von weniger als 500 US-Dollar sollten in den Kreditauskünften gar nicht mehr auftauchen.
Das Programm nimmt offenbar Fahrt auf. Nach den letzten verfügbaren Zahlen hatten 2022 noch rund 15 Millionen US-Amerikaner offiziell gemeldete Schulden, die auf Gesundheitsausgaben zurückzuführen sind. Zwei Jahre zuvor waren es mehr als dreimal so viele.
Literaturliste
Ayanian, J, Hutchens L, Singer D, Solway E, Kirch M, Box N, Roberts S, Smith E, Kullgren J. On Their Minds: Older Adults’ Top Health-Related Concerns. University of Michigan National Poll on Healthy Aging. May/June 2024. Available at dx.doi.org/10.7302/22628