Erste gemeinsame Jahrestagung von DGPro und DGZ

Substanzschonung als gemeinsamer Nenner

Kerstin Albrecht
Wie löst ein Vertreter der Zahnerhaltung, wie eine Vertreterin der Prothetik und wie ein niedergelassener Zahnarzt ein zahnmedizinisches Problem? Dieser Herangehensweise aus verschiedenen Richtungen war die (erstmalig) gemeinsame Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Zahnerhaltung (DGZ) und der Deutschen Gesellschaft für Prothetische Zahnmedizin und Biomaterialien (DGPro) gewidmet. Der Kongress, der vom 13. bis zum 15. Juni 2024 unter der Leitung von Prof. Rainer Haak und Prof. Sebastian Hahnel stattfand, lockte rund 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Leipzig.

Die beste Herangehensweise an das Thema „Große Rehabilitationen“ aus prothetischer Sicht sah Prof. Dr. Fabian Hüttig, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik in Tübingen, in der Reduktion von Risikofaktoren. Als „must haves“ bezeichnete er den Erhalt der Funktion und einen stabilen Workflow in der Umsetzung – mit möglichst wenig Kompromissen.

Dr. Martin Butz, niedergelassen in München und am Universitätsklinikum Regensburg tätig, sprach sich bei großen Rehabilitationen dafür aus, „den Elefanten in Scheiben zu schneiden“. Ziel sei es, einen Patientenfall noch vor der Rehabilitation in weniger komplizierte Teilabschnitte zu gliedern. Dabei sollten sich die Kolleginnen und Kollegen fragen, welchen Part sie als Behandler selbst übernehmen können.

Prof. Dr. Thomas Attin, Direktor der Klinik für Zahnerhaltung und Präventivzahnmedizin in Zürich, erläuterte, dass sich bezüglich der Materialauswahl Komposit versus Keramik bei Gesamtsanierungen aus seiner Sicht keine klare Überlegenheit eines Materials oder einer bestimmten Technik ausmachen lässt. Laut eines Reviews über direkte Komposit-Versorgungen bei Zahnhartsubstanzverlust im Front- und Seitenzahnbereich [Kassardjian et al., 2020] ergaben sich bei einem Nachuntersuchungszeitraum von bis zu sieben Jahren durchschnittlich 11,7 Prozent erforderliche Interventionen bei 3.540 Restaurationen – eine praktikable Option also, wenn ein gewisser „Wartungsaufwand“ für Patient und Behandler in Ordnung ist.

Keine Implantation unter 30 – bei Zahntrauma

In der Session „Dentales Trauma – Grenzen der Zahnerhaltung und prothetische Optionen“ stellte Prof. Dr. Gabriel Krastl, Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie in Würzburg, die chirurgische Extrusion als eine Therapieoption nach Kronen-Wurzel-Fraktur vor. Das Vorgehen ist indiziert bei tiefem Frakturverlauf im palatinalen Bereich, wenn keine Vitalerhaltung des Zahnes möglich oder sinnvoll ist. Nach schonender Extrusion (zum Beispiel mit einem Benex-II-Extractor, Helmut Zepf GmbH; Easy X-Trac System, A.Titan Instruments) wird die Wurzel um 180 Grad gedreht und replantiert. Danach erfolgen eine Schienung in koronalerer Position und eine Wurzelkanalbehandlung, später die Restauration. Elf klinische Studien berichten über positive Ergebnisse in Bezug auf die parodontale Einheilung ohne Anzeichen einer Ankylose in 95 bis 100 Prozent der Fälle, so Krastl. Für die Prognose des Ankylose-Risikos empfahl Krastl den „Ankylose-Rechner“ in der Trauma-App „AcciDent“.

Die Sicht der Prothetik auf Unfall-Zähne vertrat Prof. Dr. Florian Beuer, Direktor der Abteilung für Zahnärztliche Prothetik, Alterszahnmedizin und Funktionslehre an der Berliner Charité. Er stellte die Sofortimplantation als eine Therapieoption vor. Dabei müsse der bukkale Spalt zwischen Implantat und Alveolenwand beispielsweise mit Knochenersatzmaterial augmentiert werden. Eine Sonderform sei das patientenindividuelle Implantat, wofür er ermutigende klinische 18-Monats-Daten präsentierte [Böhse et al., 2020]. Derzeit hätten diese Implantate allerdings schlechtere Erfolgsaussichten als die klassischen.

Prof. Dr. Stefan Fickl vertrat die Sicht des Niedergelassenen. Er sprach sich für eine Sofortimplantation nach Trauma nur bei intakten Alveolen und einem Patientenalter von über 30 Jahren aus. Bei jüngeren Patienten sollten semi-definitive Lösungen gefunden werden, zum Beispiel die Fragmentbefestigung (wenn möglich) oder die Extraktion mit Augmentation und ein Langzeitprovisorium.

Nach den drei Vorträgen entspann sich eine engagierte Diskussion mit Prof. Dr. Matthias Kern, der im Auditorium saß. Kern, Direktor der Klinik für Zahnärztliche Prothetik, Propädeutik und Werkstoffkunde in Kiel, fragte nach den Langzeitergebnissen für die Implantat-Lösungen. Für die von ihm propagierte Klebebrücke (einflügelig) gebe es diese erfolgreichen Langzeitdaten. Die Gefahr einer Infraokklusion des Implantats über die Zeit, sieht er bei einem Millimeter pro Lebensjahrzehnt.

Tag der Wissenschaft

Den traditionell der DGZ-Haupttagung vorgelagerten Tag der Wissenschaft begingen die beiden Fachgesellschaften in diesem Jahr ebenfalls gemeinsam. Nachwuchswissenschaftler der DGZ und der DGPro stellten den rund 250 Teilnehmenden 37 Kurzvorträge vor.

Dr. rer. nat. Katharina Nikutta-Doll vom Niedersächsischen Zentrum für Biomedizintechnik, Implantatforschung und -entwicklung (NIFE) in Hannover stellte eine In-vitro-Studie vor, bei der Titanimplantate eine Lubrikant-beschichtete Oberfläche namens SLIPS (Slippery liquid-infused porous Surfaces) erhielten, um die Adhäsion von Bakterien zu erschweren. Das Prinzip ist den Oberflächen der Blüte der fleischfressenden Kannenpflanze nachempfunden. Diese weist eine poröse, mit einer Flüssigkeit überzogene Oberfläche auf, an der weder Wasser noch Öl oder Blut haften bleiben. Das realitätsnahe In-vitro-Modell der Arbeitsgruppe bestätigte einen starken anti-adhäsiven Effekt ohne Beeinträchtigung des umliegenden Weichgewebes. Die Forschenden sehen in den biokompatiblen SLIPS auf Titan eine vielversprechende Implantatmodifikation für eine mögliche, zukünftige klinische Anwendung.

PD Dr. Philipp Kanzow, Oberarzt in der Klinik für Präventive Zahnmedizin, Parodontologie und Kariologie in Göttingen, untersuchte mit seiner Arbeitsgruppe die Speichel- und Pellikelzusammensetzung von mundgesunden Rauchern und Nichtrauchern. Sie fanden heraus, dass deren Proteom-Profile Unterschiede zeigten: Eine funktionale Analyse der Speichelproteine ergab einen deutlichen Einfluss des Rauchens auf wichtige biologische Prozesse wie Koagulation, Immunmodulation sowie Hinweise auf Karzinogenese durch reaktive Sauerstoffspezies.

Alte Dogmen hinterfragen beim Ersatz von Seitenzähnen

Die Session: „Ersatz von Seitenzähnen – wann nötig, wie lösen?“ bestritten drei Expertinnen und Experten, die allesamt möglichst substanzschonende Therapien vorstellten. Prof. Dr. Diana Wolff, Direktorin der Heidelberger Poliklinik für Zahnerhaltungskunde, stellte verschiedene minimal- und non-invasive Methoden für den Ersatz von einzelnen Seitenzähnen vor. Bei kleineren Lücken könnten beispielsweise eine Kompositverbreiterung eines Nachbarzahns oder ein kleiner Kompositanhänger direkt im Patientenmund modelliert werden. In Bezug auf glasfaserverstärkte Brücken im Seitenzahnbereich „bin ich etwas geerdet“, sagte Wolff, denn diese Non-Prep- oder FRC-Brücken (Fiber-Reinforced-Composite) hielten fünf bis sechs Jahre, „danach geht die Überlebenskurve in den Keller“, zitierte Wolff aus einer Studie [Vallittu et al., 2017], die ihre eigene Erfahrung widerspiegelt.

„Auch in der Prothetik geht der Trend zu minimal-invasiven Versorgungsmöglichkeiten“, sagte Prof. Dr. Nicole Passia, Direktorin der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik am Universitätsklinikum Dresden. Eine gute Möglichkeit zur Zahnhartsubstanzschonung sei beispielsweise, divergierende Pfeilerzähne bei der Brückenpräparation in ihrer ursprünglichen Achsrichtung zu belassen. Für das lange propagierte Dogma der „gemeinsamen Einschubrichtung aller Pfeiler“ werde noch oft viel gesunde Zahnhartsubstanz geopfert. Das Vorgehen bei divergenten Pfeilern ist von Passia 2019 publiziert worden [Passia et al., 2019] und geht auf von Willem Boer und Sohn zurück [Boer und Boer, 2019]. Immer wenn Pfeiler nach bukkal und oral divergent sind, könne die gegebene Achsrichtung der Pfeilerzähne bei der Präparation durchaus beibehalten werden. Die Brücke wird anschließend leicht rotierend eingesetzt (nicht senkrecht von oben) und erreicht so ihre definitive Position. Approximal dürfe es für diese Methode allerdings keine Divergenz geben, so Passia.

Jahrestagung DGZMB: Engagement und Kompetenz

Die Deutsche Gesellschaft Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung oder besonderem medizinischem Unterstützungsbedarf (DGZMB), deren dritte Jahrestagung in den DGPro/DGZ-Jahreskongress integriert war, hat eine enorme Kompetenz in der Behandlung von Menschen mit Behinderungen aufgebaut, daneben ein breites Fachwissen über teilweise sehr seltene Syndrome. In diesem Jahr widmete sich PD Dr. Peter Schmidt, Oberarzt im Bereich Behindertenorientierte Zahnmedizin der Universität Witten/Herdecke, zusammen mit Prof. Dr. med. Andreas Merkenschlager, Neuropädiater aus Leipzig, dem Angelman-Syndrom – einer mit einer Prävalenz von 1:12.000 bis 1:20.000 Personen vorkommenden Entwicklungsstörung. Die Betroffenen weisen eine starke Sprachbehinderung mit häufigem Lächeln und Lachen auf. Weitere orale Besonderheiten sind etwa eine vorverlagerte Zunge, ein weiter Zahnabstand und der Mundkontakt zu (nicht-essbaren) Objekten.

Dr. Marc Auerbacher, Oberarzt der zahnärztlichen Ambulanz für Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf innerhalb der Abteilung für Zahnerhaltung und Parodontologie in München, gab ein seinem Vortrag Tipps für die Behandlung von Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen. Er empfahl die Honeymoon-Phase der Erkrankung für notwendige zahnmedizinische Therapien zu nutzen. Das ist die Zeit, nachdem die Diagnose gestellt ist, aber noch keine größeren Beeinträchtigungen aufgetreten sind.

Die Sicht des niedergelassenen Zahnarztes repräsentierte Dr. Ulf Krueger-Janson aus Frankfurt. „Ich komme aus einem Ballungsgebiet“, sagte er. „Eine Brücke ist nicht mehr erwünscht.“ Sobald gesunde Zahnhartsubstanz an (nahezu) restaurationsfreien Pfeilerzähnen geopfert werden muss, entschieden sich seine Patienten für ein Implantat oder adhäsive Möglichkeiten, zum Beispiel für eine Marylandbrücke.

Endodontie – Alternative oder Ergänzung zur Implantologie?

In der Session „Wurzelgefüllter Zahn versus Implantat – wann ist was riskanter?“empfahl Dr. Raphael Borchard aus Münster, sich als niedergelassener Zahnarztes kritisch zu fragen: „Was kann ich selber leisten?“ Obwohl der Münsteraner Oralchirurg ist, priorisiert er den Zahnerhalt über eine endodontische Therapie, gegebenenfalls eine Revision und/oder internes Bleichen. Die Implantation sieht er als Ergänzung – wenn man anders nicht zum Ziel komme. Insbesondere von zwei nebeneinander stehenden Implantaten im Frontzahnbereich (beispielsweise 11 und 12 oder 21 und 22) riet er dringend ab, da eine Papille dazwischen in der Regel verschwinde. Zwei Implantate in Regio der beiden mittleren Inzisivi seien besser möglich.

Die Endodontie habe gegenüber der Implantologie den Vorteil, dass sie kein Weichgewebsmanagement brauche und keiner Altersgrenze unterliege, erläuterte Prof. Dr. Christian Gernhardt von der Universitätspoliklinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie in Halle. Ein Pluspunkt – vor dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft und der damit zunehmenden Operationsrisiken in der Implantologie. Insgesamt sieht er die Endodontie und die Implantologie zusammen als „gutes Team“, das kumulativ dazu führen sollte, Patienten festsitzend, funktionell und ästhetisch anspruchsvoll zu versorgen.

Prof. Dr. Matthias Karl, Direktor der Klinik für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde in Homburg/Saar, stellte in seinem Vortrag klar, dass es nicht die eine richtige Antwort auf die Frage Implantat oder Wurzelbehandlung gibt. Eine Wurzelkanalbehandlung sei in aller Regel gegenüber einem Implantat noch immer die kostengünstigere Variante. „Je länger ich im Bereich der Implantologie unterwegs bin, desto mehr Respekt bekomme ich vor dem natürlichen Pfeiler“, sagte er. Er hält es mit einer isländischen Studie, die besagt, dass Implantate und implantatgetragene Restaurationen eine hervorragende Behandlungsmethode darstellen, die jedoch mit dem Risiko von biologischen und technischen Komplikationen verbunden ist [Pjetursson und Heimisdottir, 2018]. Implantate sollten also fehlende Zähne ersetzen – sie sollen nicht Zähne ersetzen.

Zusammenfassend lagen die Meinungen der Vertreter der Zahnerhaltung, der Prothetik und der Niederlassung gar nicht so weit auseinander. Jede Seite ist um Substanzschonung bemüht. Unter dieser Prämisse wählten die Vortragenden in ihren Fallvorstellungen die Therapie, die sie für die individuelle Patientensituation als die am besten geeignete hielten. Die Vorgehensweise richtete sich nicht zuletzt danach, was der jeweilige Behandler gut und sicher beherrscht.

Literaturliste

  • Boer W, Boer M. The Helix Bridge. A Fixed Bridge on Undercut Abutments. www.thehelixbridge.com. Accessed August 13, 2019.

  • Böse MWH, Hildebrand D, Beuer F, Wesemann C, Schwerdtner P, Pieralli S, Spies BC. Clinical Outcomes of Root-Analogue Implants Restored with Single Crowns or Fixed Dental Prostheses: A Retrospective Case Series. J Clin Med. 2020 Jul 23;9(8):2346. doi: 10.3390/jcm9082346.

  • Kassardjian V, Andiappan M, Creugers NHJ, Bartlett D. A systematic review of interventions after restoring the occluding surfaces of anterior and posterior teeth that are affected by tooth wear with filled resin composites. J Dent. 2020 Aug;99:103388. doi: 10.1016/j.jdent.2020.103388.

  • Passia N, Schmidt M, Kern M. Rotational Path of Insertion in Fixed Prosthodontics when Abutment Axes Do Not Match: A Case History Report. Int J Prosthodont. 2019 Sep/Oct;32(5):444-447. doi: 10.11607/ijp.6139, Youtube-Video „Das Dogma der gemeinsamen Einschubrichtung - was Generationen von Zahnärzten falsch gelehrt wurde“, www.youtube.com/watch

  • Pjetursson BE, Heimisdottir K. Dental implants - are they better than natural teeth? Eur J Oral Sci. 2018 Oct;126 Suppl 1:81-87. doi: 10.1111/eos.12543.

  • Vallittu PK, Shinya A, Baraba A, Kerr I, Keulemans F, Kreulen C, Lassila L, Malmstrom H, Novotny R, Peumans M, Van Rensburg J, Wolff D, Özcan M. Fiber-reinforced composites in fixed prosthodontics-Quo vadis? Dent Mater. 2017 Aug;33(8):877-879. doi: 10.1016/j.dental.2017.05.001

52934-flexible-1900

Dr. Kerstin Albrecht

Medizin-/Dentaljournalistin, 1995 – 2001: Studium der Zahnheilkunde (Hannover/Gießen) 2001 – 2008: Assistenz- und angestellte Zahnärztin in Zahnarztpraxen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abteilung für Zahnerhaltung, Präventive Zahnheilkunde und Parodontologie, Georg-August-Universität Göttingen 2006: Promotion 2008 – 2010: Zusatzstudium Journalismus, Freie Journalistenschule Berlin 2009 – 2018: PR-Beraterin in Healthcare-Agenturen, PR-Referentin bei der Initiative proDente e.V., freie Autorin von medizinischen und zahnmedizinischen Artikel seit 2019: freiberufliche Medizin- und Dentaljournalistin

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.