Ein GKV-Mitglied zahlt 740 Euro im Jahr für versicherungsfremde Leistungen!
Die GKV muss zunehmend versicherungsfremde Leistungen bezahlen, die eigentlich aus dem Steueraufkommen finanziert werden müssten. Dies ist das Ergebnis einer Studie des Leipziger Forschungsinstituts für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung WIG2 im Auftrag der IKK gesund plus.
Der Verschiebebahnhof kostet zwei Beitragspunkte
Bei den 305,3 Milliarden Euro umfassenden Ausgaben des Gesundheitsfonds schlagen die versicherungsfremden Leistungen 2023 mit 59,8 Milliarden Euro zu Buche. Dies entspricht 2 Beitragssatzpunkten bei einem durchschnittlichen Beitragssatz von 16,3 Prozentpunkten. Für Versicherte mit durchschnittlichem Einkommen werden dafür 740 Euro ihrer Beiträge pro Jahr verbraucht.
Ein „ungenierter Zugriff“ auf Versichertengelder
Das Gutachten belege zwei Entwicklungen, kritisiert Uwe Deh, Vorstandsvorsitzender der IKK gesund plus: „Die Ausgaben für versicherungsfremde Leistungen sind stark gestiegen und der Fantasie beim ungenierten Zugriff auf Versichertengelder sind keine Grenzen gesetzt. Das treibt die Zusatzbeiträge in ungekannte Höhen, ist ordnungspolitisch unsauber, volkswirtschaftlich gefährlich und gegenüber den Mitgliedern der GKV ungerecht.“
Allein im Zeitraum von 2016 bis 2023 seien die Belastungen der GKV für die nicht von den Ländern übernommene Refinanzierung der Investitionen in die Krankenhäuser um rund 45 Prozent von 2,6 Milliarden auf 3,8 Milliarden Euro gestiegen. Für die Bezuschussung von Bürgergeldempfängern durch die GKV identifizierten die Forschenden 2022 einen Betrag von 9,2 Milliarden Euro. Zu den versicherungsfremden Aufgaben, die seit 2016 dazu gekommen sind, zählen die Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems sowie auch die Aus- und Weiterbildung von Pflegefachkräften.
Die GKV muss immer stärker infrastrukturelle Aufgaben stemmen
Damit setzt sich der Studie zufolge ein Trend fort: Die GKV wird immer stärker für infrastrukturelle, gesamtgesellschaftliche Aufgaben herangezogen, die der Allgemeinheit zugutekommen. Allein die Einrichtung und der Betrieb der staatlichen Telematikinfrastruktur, die elektronische Gesundheitskarte sowie die elektronische Patientenakte werden demnach mit 1,3 Milliarden Euro pro Jahr von der Versichertengemeinschaft der GKV finanziert.
„Die gematik als verantwortliche Gesellschaft vereint dabei viele Akteure und hat eine Schlüsselrolle bei der Digitalisierung inne“, heißt es in der Studie. Doch trotz ihrer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe werde sie fast ausschließlich aus GKV-Mitteln finanziert. "Die Finanzierungslast verteilt sich dabei zu 93 Prozent auf die GKV, während die PKV die übrigen 7 Prozent der entstehenden Kosten trägt“, berichten die Autoren.
Weitere von ihnen angeführte Beispiele sind die Bereitstellung von Mitteln für die Förderung der Versorgungsforschung durch den Innovationsfonds (200 Millionen Euro), den Ausbau der notdienstärztlichen Strukturen (37 Millionen Euro) oder pauschale Zuschläge für bedarfsnotwendige Krankenhäuser im ländlichen Raum (68 Millionen Euro).
Der Staat belastet mit dieser Praxis die arbeitende Mitte
Der Bundeszuschuss halte dabei mit dem Zuwachs an Aufgaben nicht Schritt und sei dieses Jahr sogar auf 14,5 Milliarden Euro abgesenkt worden. Wie WIG2-Geschäftsführer Dr. Thomas Höpfner ausführt, wurde mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2003 erstmals ein pauschaler Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen eingeführt, der die Kosten zumindest teilweise kompensieren sollte.
Höpfner: "Wir zeigen mit unserer Untersuchung, dass der Bundeszuschuss bei weitem nicht reicht. 16,6 Milliarden pauschaler Bundeszuschuss für das Versicherungsjahr 2023 stehen Ausgaben an versicherungsfremden Leistungen von 59,8 Milliarden gegenüber. Damit ergibt sich eine Unterfinanzierung von 2,54 Beitragssatzpunkten, was einem Betrag von 43,2 Milliarden Euro entspricht – Tendenz zunehmend.“
Deh ergänzt: „Wenn der Staat seine Aufgaben immer mehr auf die Krankenkassen abwälzt, dann belastet das die arbeitende Mitte, also Menschen mit unterem und mittlerem Einkommen. Menschen mit höherem und hohem Einkommen werden verhältnismäßig wenig herangezogen. Die hohen Sozialabgaben mutieren so zum Stimmungskiller für die Konjunktur am Standort Deutschland."
Deswegen sollte dringend wieder eine ordnungspolitisch korrekte Ausgabenfinanzierung angestrebt werden. Die richtige Finanzierungquelle für Staatsaufgaben ist und bleibt der Bundeshaushalt, aber auch Länderhaushalte und die Gemeinden stehen mit ihren Steuermitteln in der Pflicht. Die Beitragsgelder der Krankenversicherung müssen wieder originär für Gesundheits- und Versorgungsleistungen verwendet werden.“
Berndt, B., Urukova, I., Böttcher, R., Wedekind, L. & Höpfner, T. (2024). Identifikation versicherungsfremder Leistungen und Quantifizierung der damit verbundenen Ausgabenanteile am GKV-Beitragssatz. Eine Expertise der WIG2 GmbH. In Auftrag gegeben von der ikk gesund plus. Wissenschaftliches Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung (WIG2 GmbH) (Hrsg.).