Studie aus Portugal erklärt Zahnverschleiß

Eiszeitmenschen trugen schon als Kinder Wangenpiercings

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Gesellschaft
Warum Menschen aus dem mittleren Oberpaläolithikum in Mitteleuropa oft unter heftigem Zahnverschleiß litten, war für die Forschung ein Rätsel. Jetzt hat ein Anthropologe die Erklärung dafür gefunden.

Die Molaren, Prämolaren und Eckzähne weisen einzigartige bukkale Abnutzungsfacetten auf. Bisher ging man davon aus, dass die Menschen damals kleine Steine im Mund hin- und herbewegten, um ihren Durst zu stillen, oder dass ein unbekanntes Essverhalten für die atypische Abnutzung verantwortlich sein könnte.

„Es gab seit Langem Diskussionen über die seltsame Abnutzung der Eck- und Backenzähne dieser Individuen“, bestätigte Studienleiter John Willman, Anthropologe an der Universität Coimbra in Portugal, gegenüber dem Magazin Live Science, „aber niemand wusste wirklich, was den Verschleiß verursacht hat.“

Seine Untersuchung paläolithischer Skelette aus Mitteleuropa zeigt nun, dass die Zähne der Menschen deshalb so abgenutzt und verschoben waren, weil sie Wangenpiercings trugen. In seiner Arbeit untersuchte Willman Dutzende Skelette von Menschen, die vor etwa 25.000 bis 29.000 Jahren in Mitteleuropa gelebt hatten. Dabei konzentrierte er sich vor allem auf die Abrasion der Zähne.

Das Labret-Piercing

Ein Labret-Piercing (lateinisch labrum, Lippe) bezeichnet ein Piercing, das in die Unterlippe oder den Wangenbereich einer Person eingeführt wird. Die Verwendung ist Willman zufolge sowohl in modernen als auch in antiken Kulturen bekannt. Bis heute wurden jedoch in Eiszeit-Gräbern keine Artefakte gefunden, die als Labrets identifiziert wurden, möglicherweise weil sie aus vergänglichen Materialien wie Holz oder Leder hergestellt wurden und daher nicht erhalten geblieben sind.

Um einen möglichen Zusammenhang zwischen Zahnverschleiß und Labret-Einsatz zu untersuchen, untersuchte Willman die in den Zähnen entstandenen Muster genauer.

„Das erste Labret scheint in der Kindheit entstanden zu sein, da Abnutzungserscheinungen bei einigen Milchzähnen dokumentiert sind“, sagte Willman. Darüber hinaus stellte er fest, dass Erwachsene einen höheren Grad an Zahnschmelzabnutzung im Wangenbereich an mehr Zähnen aufwiesen als Kinder, was mit dem Einsetzen größerer Labrets im Laufe der Zeit zusammenhängen könnte.

Mit dem Alter wurden die Labrets größer

Die am deutlichsten durch bukkale Abnutzung veränderten Zähne sind die ersten Oberkiefermolaren (M1), dabei strahlt die Abnutzung mesial und distal vom M1 aus und bildet häufig zusammenhängende Abnutzungsebenen über den dritten Prämolaren bis zum zweiten Molaren (P3-M2) und seltener bis zum Eckzahn und dritten Molaren (C1 und M3) des Oberkiefers. Außerdem scheint es eine starke altersbedingte Progression zu geben. Die Verschleißfacetten treten bei jüngeren Menschen einseitig auf. Bei älteren Menschen sind die Muster häufig beidseitig, wobei eine Asymmetrie des Abnutzungsgrads feststellbar ist.

„Das Tragen von Labrets scheint mit der Gruppenzugehörigkeit in Verbindung zu stehen“, vermutet Willman. "Und die Unterschiede im Zahnverschleiß könnten mit individuellen Ereignissen zusammenhängen, mit denen man sich im Laufe des Lebens Labrets ‚verdiente‘, Beispiele sind die Pubertät oder die Heirat.“

Wie eine umgekehrte Zahnspange

Obwohl die Verwendung von Labrets als sicher gilt, können sie bei falscher Anwendung Schäden an Zähnen und Zahnfleisch verursachen. „Piercings können dazu führen, dass sich ein Zahn bewegt – fast wie eine ‚umgekehrte‘ Zahnspange“, sagte Willman. „Bei manchen Menschen kommt es zu Zahnengstand, was ich als Folge davon interpretiert habe, dass die Labrets über längere Zeit an den Zähnen anliegen.“

Willman, J.C. Probable Use of Labrets Among the Mid Upper Paleolithic Pavlovian Peoples of Central Europe. J Paleo Arch 8, 6 (2025). https://doi.org/10.1007/s41982-024-00204-z

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