„Praxen sollten weiter Süßstoffe empfehlen!“
Die Richtlinie basiere nicht auf toxikologischen Bewertungen zur Sicherheit einzelner zuckerfreier Süßstoffe, stellt die WHO klar. Sie sei daher nicht dazu gedacht, die von den Vereinten Nationen festgelegten Leitlinien zu sichern oder die maximalen Aufnahmemengen zu aktualisieren oder zu ersetzen.
Gleichwohl deuteten Ergebnisse darauf hin, dass die Verwendung von zuckerfreien Süßungsmitteln (NSS) „keinen langfristigen Nutzen bei der Reduzierung des Körperfetts bei Erwachsenen oder Kindern bringt". Mehr noch: Die Ergebnisse sprechen dafür, „dass die Langzeitanwendung von NSS potenziell unerwünschte Auswirkungen haben könnte, wie etwa ein erhöhtes Risiko für Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Mortalität bei Erwachsenen.“
In der EU seien elf Süßstoffe als Zusatzstoffe durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) zugelassen, die als sicher gelten, schreibt dazu Prof. Dr. Stefan Zimmer, Leiter des Departments für Zahn- Mund- und Kieferheilkunde an der Universität Witten/Herdecke und Vorsitzender der Aktion Zahnfreundlich:
Acesulfam K (E 950),
Aspartam (E 951),
Cyclamat (E 952),
Saccharin (E 954),
Sucralose (E 955),
Thaumatin (E 957),
Neohesperidin DC (E 959),
Steviolglycoside (E 960),
Neotam (E 961),
Acesulfam-Aspartamsalz (E 962)
und Advantam (E 969).
„Die WHO-Richtlinie ändert daran nichts. Da Süßstoffe in der Zahnmedizin zur Kariesvorbeugung empfohlen werden und in vielen zahnfreundlich getesteten Produkten enthalten sind", interpretiert Zimmer die Richtlinie für die Zahnmedizin.
„Der Ersatz von freiem Zucker durch NSS hilft auf lange Sicht nicht bei der Gewichtskontrolle“, heißt es in der Richtlinie. Der WHO zufolge müssten die Menschen darum andere Möglichkeiten in Betracht ziehen, um die Aufnahme von freiem Zucker zu reduzieren. „Etwa den Verzehr von Lebensmitteln mit natürlich vorkommendem Zucker, wie Obst, oder ungesüßte Lebensmittel und Getränke“, sagt Francesco Branca, WHO-Direktorin für Ernährung und Lebensmittelsicherheit. NSS seien keine essenziellen Ernährungsfaktoren und hätten keinen Nährwert. Ihr Tipp: Um die Gesundheit zu verbessern, sollten Menschen schon früh im Leben die Süße ihrer Ernährung reduzieren.
WHO: „Weniger Süße ist gesünder!"
Die Empfehlung der WHO gilt für alle Menschen mit Ausnahme von Personen mit bereits bestehendem Diabetes und umfasst alle synthetischen und natürlich vorkommenden oder modifizierten, nicht nahrhaften Süßstoffe, die nicht als Zucker eingestuft sind und in hergestellten Lebensmitteln und Getränken enthalten sind oder als solche zum Zusatz zu Lebensmitteln verkauft werden.
Die Richtlinie beruht auf einer aktuellen von der WHO beauftragten Metaanalyse von 283 Studien. Im Zentrum steht der Nutzen von Süßstoffen bei der Gewichtskontrolle, aber auch mögliche Risiken, die von deren Konsum ausgehen. „Die Frage einer kariespräventiven Wirkung von Süßstoffen, wenn sie als Ersatz für Zucker eingesetzt werden, wird nur am Rande adressiert“, betont Zimmer und fragt: „Was sind die für die Zahnmedizin wichtigsten Erkenntnisse, welche die Metaanalyse und die Guideline liefern?“
Zimmer: „Die Evidenz ist wenig vertrauenswürdig“
Die WHO empfiehlt, dass Süßstoffe nicht genutzt werden sollten, um eine Gewichtskontrolle zu erreichen oder das Risiko nicht-übertragbarer Erkrankungen zu reduzieren. „Es handelt sich hierbei um eine sogenannte ,bedingte Empfehlung' (conditional recommendation), also eine zurückhaltend ausgesprochene Empfehlung“, erklärt Zimmer. „Es gibt zwar Belege, dass der Konsum von Süßstoffen zu einem reduzierten Körpergewicht und einem niedrigeren BMI führt, allerdings ist die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz niedrig und es konnte kein Einfluss auf andere Messparameter wie Blutglucose, -lipide oder Insulin gefunden werden. Beobachtungsstudien mit einer Laufzeit von bis zu 13 Jahren zeigten sogar eine Assoziation mit erhöhtem BMI sowie einem erhöhten Risiko für Typ-2 Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen. Die Vertrauenswürdigkeit dieser Evidenz war allerdings nur niedrig bis sehr niedrig.“
Zur Erläuterung: Evidenz mit einer niedrigen Vertrauenswürdigkeit sollte nur mit Vorsicht für entsprechende Entscheidungen genutzt werden, eine sehr niedrige Vertrauenswürdigkeit stellt gar keine Entscheidungsgrundlage gar. Evidenz mit sehr niedriger Vertrauenswürdigkeit wurde auch für eine Assoziation zwischen Süßstoffen (vor allem Saccharin) und dem Auftreten von Blasenkrebs gefunden.
„Kaum eine Grundlage für substanzielle Aussagen“
Alles in allem müsse man den Schluss ziehen, dass die 210 Seiten umfassende Metaanalyse und die 90-seitige Guideline der WHO kaum eine Grundlage für substanzielle Aussagen zu Nutzen und Risiken von Süßstoffen in der Ernährungsberatung zulassen, weder in Richtung Empfehlung noch Ablehnung, lautet das Zwischenfazit der Aktion Zahnfreundlich.
Aber wie sieht es mit der Kariesprävention aus? „Die WHO-Guideline trifft dazu keine Aussage, in der Metaanalyse wurden eine Studie bei Erwachsenen und vier bei Kindern bewertet. Vier Studien sind aufgrund einer zu kurzen Laufzeit oder aus methodischen Gründen nicht geeignet, einen direkten Zusammenhang zwischen dem Konsum von Süßstoffen und Karies nachzuweisen. In der fünften Studie, einer prospektiven Kohortenstudie, wurde ein karieshemmender Effekt des Konsums von Süßstoffen gefunden“, bilanziert Zimmer.
Und weiter: „Alles in allem lässt die Metaanalyse aber keine klare Aussage zum Nutzen von Süßstoffen in der Kariesprävention zu. Andererseits ist unbestritten, dass ein Zusammenhang zwischen häufigem Zuckerkonsum und der Entstehung von Karies besteht. Wenn also die Frequenz der Aufnahme von Zucker, insbesondere in Form von zuckerhaltigen Getränken oder Süßigkeiten, durch den Ersatz mit Süßstoffen reduziert werden kann, sollte auf jeden Fall ein kariespräventiver Nutzen für unsere Patientinnen und Patienten resultieren.“
WHO: Politik sollte Verzehr von Süßstoffen bekämpfen
Die WHO-Richtlinie zu NSS ist Teil einer Reihe bestehender Leitlinien für gesunde Ernährung, die darauf abzielen, lebenslang gesunde Essgewohnheiten zu etablieren, die Ernährungsqualität zu verbessern und das Risiko nicht-übertragbarer Krankheiten weltweit zu verringern. Sie richtet sich ausdrücklich an Akteure aus den Bereichen Ernährung und öffentlicher Gesundheit und soll nach Ansicht der WHO von politischen Entscheidungsträgern genutzt werden, um den Gebrauch zuckerfreier Süßstoffe in der Bevölkerung durch politische Maßnahmen und Interventionen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu bekämpfen.
Deshalb empfiehlt die Aktion Zahnfreundlich, in der Ernährungsberatung in der Zahnarztpraxis auf den Nutzen von Süßstoffen, insbesondere zum Süßen von Getränken sowie in Süßigkeiten und Kaugummis hinzuweisen. „Die höchste Sicherheit besteht bei zahnfreundlich getesteten Produkten, die das Logo ,Zahnmännchen mit Schirm' tragen", betont Zimmer.
Use of non-sugar sweeteners: WHO guideline. Geneva: World Health Organization; 2023. Licence: CC BY-NC-SA 3.0 IGO., https://apps.who.int/iris/rest/bitstreams/1501485/retrieve