Zuckerreduktionsgipfel

Schluss mit Süß!

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"Süß war gestern" - unter diesem Motto veranstaltete der AOK-Bundesverband seinen ersten Zuckerreduktionsgipfel in Berlin. Dass es der erste ist verwundert - andere Nationen sind den Deutschen in Sachen Zuckerreduktion um Einiges voraus.

Während der Gesetzgeber in vielen Bereichen regulierend eingreift, hält er sich beim Zucker erstaunlich zurück. Es gibt in Deutschland weder eine Zuckersteuer, noch eine Ampel, noch verpflichtende Vorgaben an die Industrie. Da sind andere Länder deutlich weiter. Auf dem ersten Zuckerreduktionsgipfel in Berlin, veranstaltet vom AOK-Bundesverband am 29. Juni 2017, wurde dies deutlich.

So hat Frankreich im Frühjahr 2017 seinen Nutri-Score eingeführt. Eine Farbscala -  ähnlich wie bei Elektrogeräten  - die anzeigt, ob die Zutaten eines Produktes insgesamt gesund (grün) oder ungesund (rot) sind. Ziel der Kennzeichnung: stärker abgesetzt werden sollen jene Produkte, die weniger Fett, Salz und eben auch Zucker enthalten. Nach Großbritannien ist Frankreich das zweite Land in Europa, in dem die Lebensmittelkennzeichnung mit einer einfachen Farbskala von der Regierung empfohlen wird. Eine Zuckersteuer auf Süßgetränke gibt es bereits.

Luxemburg steht kurz vor der Einführung einer solchen. Mit den Einnahmen will das Gesundheitsministerium einen Fonds speisen, mit dessen Mitteln in weitere Projekte zur Prävention und Gesundheitsförderung investiert werden könnte. Darüber hinaus gibt es für Schulen Quiz-Spiele, wo Kinder und Jugendliche raten müssen, wie viele Stück Zucker in verschiedenen Lebensmitteln und Getränken enthalten sind.

Deutsche Eltern unterschätzen Zuckergehalt von Lebensmitteln

Dass viele Eltern den Zuckergehalt in Lebensmitteln notorisch unterschätzen, zeigte auf dem Zuckerreduktionsgipfel in Berlin Mattea Dallacker vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. So ergab eine Umfrage unter 305 Familien, dass 90 Prozent der Teilnehmer den Zuckergehalt eines konventionellen Erdbeerjoghurts drastisch unterschätzten. Dabei hängt die elterliche Zuckereinschätzung mit einer doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit von Übergewicht bei den Kindern zusammen. Die Studienergebnisse sind laut Dallacker alarmierend, wenn man bedenke, dass Eltern 70 Prozent der Nahrungsmittel steuern, die Kinder konsumieren. So liege der Verzehr in Deutschland bei durchschnittlich 28 Zuckerwürfeln pro Tag - die WHO-Empfehlung spricht von maximal 16 Zuckerwürfeln pro Tag.

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Kinder werden von der Industrie umgarnt 

Neben dem Unwissen der Eltern stelle die Werbemacht der Nahrungsmittelindustrie ein weiteres Risiko dar, so der Tenor der Veranstaltung. Welche Strategien die Firmen dafür nutzen, hat PD Dr. Tobias Effertz (Uni Hamburg) im Auftrag des AOK-Bundesverbands erforscht und auf dem Zuckerreduktionsgipfel vorgestellt. Das Geheimnis liege seiner Meinung nach in der emotionalen Ansprache, auf die das kindliche Gehirn mit „haben wollen“ reagiert, weil das Entscheidungsverhalten in der Entwicklungsstufe unter anderem durch fehlerhafte Wahrnehmung, Impulsivität und Informationsverarbeitung ohne Erfahrungskorrektur charakterisiert ist. Die Industrie sieht Kinder als die Konsumenten von morgen und geht nach dem Motto vor „krieg sie jung, krieg sie für immer.“

Effertz konnte zeigen, dass das Groß der Internetseiten der 300 wichtigsten Lebensmittel in Deutschland klassisches Kindermarketing beinhalten, darunter auch solche Firmen, die sich öffentlich dagegen ausgesprochen haben, de facto aber dennoch damit werben. Insgesamt würden Kinder pro Jahr mit circa 12.000 bis 19.000 Lebensmittelwerbespots konfrontiert. Eine Folge sei die erhöhte Kalorienaufnahme. Effertz kritisiert, dass nur Verhältnisprävention gegen Adipositas wirkt und nennt als mögliche Maßnahmen für Deutschland Steuern auf adipogene Lebensmittel, Steuervergünstigung auf Obst und Gemüse, Zugangsbeschränkungen und Werbebeschränkungen.

Totalausfall im Landwirtschaftsministerium?

Angesiedelt ist das Thema Zuckerreduktion grundsätzlich im Bundeslandwirtschaftsministerium. Dem attestierte Kordula Schultz-Asche (MdB Bündnis 90/ Die grünen Bundestagsfraktion) auf dem Zuckerreduktionsgipfel einen „Totalausfall“ und ergänzte: „Die letzten Jahre sind verlorene Jahre.“ Nötig seien „massivere Maßnahmen“. Ihre Partei setze sich bereits seit Jahren für eine Lebensmittelampel ein. Zustimmung kam von Elvira Drobinski-Weiß (MdB SPD Bundestagsfraktion):  Im Landwirtschaftsministerium tue sich "nichts - in diesem Punkt sind wir ein Entwicklungsland“. Nötig sei jetzt Engagement von allen. „Der Ansatz über die Freiwilligkeit ist gut, aber nicht ausreichend. Ohne gesetzliche Maßnahmen werden wir nicht weiterkommen“, ergänzte Dietrich Monstadt (MdB CDU/CSU Bundestagsfraktion) und bekennender Diabetiker.

Zuckerindustrie negiert die Folgen

Günter Tissen, Hauptgeschäftsführer Wirtschaftliche Vereinigung Zucker e.V. (WVZ) versuchte die Gäste des Zuckerreduktionsgipfels zu überzeugen, dass nicht der Zucker der Übeltäter für Adipositas und weitere Erkrankungen sei, sondern die Kalorien. Bevor über Zuckerreduktion und Zuckeralternativen diskutiert werde, müsse man medizinisch prüfen, wie gesund der Ersatz sei.

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Freiwillige Zuckerreduktion in der Industrie

Es gibt Firmen, die auch ohne gesetzliche Vorgabe handeln. Dazu zählt Kraft Foods – fünftgrößter Lebensmittelproduzent der Welt. Bereits vor zehn Jahren hat der Global Player begonnen, an einer zuckerreduzierten Variante seines Ketschups zu forschen. Eine Dekade später gibt es nun das Produkt mit 50 Prozent weniger Zucker. Der Konzern registriert das Interesse der Kunden über beobachtete Google-Suchen. Die Schlagwortsuche „Zucker und Ketschup“ habe sich in den letzten Jahren verdreifacht, berichtete Michael Lessmann, Marketingchef für Europa auf dem Zuckerreduktionsgipfel.

Ohne dass der Kunde es merkt, reduzierte der Discounter Lidl zudem sukzessive seine Produkte hinsichtlich des Zuckergehaltes. Im Rahmen der Lidl-Reduktionsstrategie 2025 soll der durchschnittliche Gehalt an zugesetztem Zucker und auch Salz im Eigenmarkensortiment um 20 Prozent reduziert werden. Dass das schon bei den Cerealien funktioniert, zeigte in Berlin Jan Bock, Geschäftsleiter Einkauf bei Lidl. Seit 2008 wurde der zugesetzte Zucker hier sogar um 23 Prozent reduziert. Beim Zweikammerfruchtjoghurt sind es 16 Prozent seit 2016. Lidl ist übrigens gegen eine Ampel, weil die die Komplexität der Inhaltsstoffe nicht wiedergeben könne, so Bock.

Was wir allein nicht schaffen, muss Merkel richten

"Wenn die zuständigen Ministerien schlafen, braucht es ein 'highest political commitment' von der Kanzlerin", konstatierte auf dem Zuckerreduktionsgipfel die weltweit anerkannte Public-Health-Expertin, Prof. Ilona Kickbusch. Und wenn Drohungen keinen Einfluss auf das industrielle Handeln hätten, müsse man letztlich regulieren. Wichtig sei, signifikante Ziele anzusetzen, nicht nur „Prozentchen.“ Hier könne man viel aus der Anti-Tabak-Kampagne lernen.

Prof. Graham MacGregor (Queen Mary University of London) hat in Großbritannien die Nationale Kampagne zur Zuckerreduktion "Consensus Action on Sugar and Health (CASH)" geleitet. Er empfiehlt den Deutschen, Politiker so lange penetrant anzusprechen, bis das Thema fruchtet und bis dahin die Öffentlichkeitsarbeit massiv auszubauen. Schließlich müsse man immer im Dialog mit der Industrie bleiben. So sei Nestlé in Großbritannien an Zuckerreduktion interessiert, wolle aber im Sinne des fairen Wettbewerbs Ziele, die für alle gelten.

Der 1. Zuckerreduktionsgipfel ist der Start für die Kampagne „süß war gestern“ vom AOK-Bundesverband.

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