Neue S3-Leitlinie

Zahnimplantatversorgungen bei multiplen Zahnnichtanlagen und Syndromen

Jan Tetsch
,
Hendrik Terheyden
In der Implantologie gilt die allgemeine Regel, Implantate erst nach dem Abschluss des Wachstums zu setzen. Dennoch kann es im Fall von Zahnnichtanlagen Gründe geben, die für eine frühzeitige kaufunktionelle Rehabilitation sprechen - auch unter Verwendung von Implantaten. Die am 22. März veröffentlichte Leitlinie enthält Empfehlungen für die Abwägung der verschiedenen Therapieoptionen bei Zahnnichtanlagen.

Zahnnichtanlagen sind mit einer Prävalenz von 5,5 Prozent die häufigste Fehlbildung des Menschen. Der Schweregrad variiert von Einzelzahnaplasien bis hin zum kompletten Fehlen aller Zähne (Anodontie). Das Fehlen von weniger als sechs bleibenden Zähnen ist als Hypodontie und von sechs und mehr fehlenden bleibenden Zähnen als Oligodontie definiert. Zahnnichtanlagen können isoliert non-syndromal oder im Rahmen von syndromalen Erkrankungen auftreten, von denen die ektodermale Dysplasie am häufigsten ist.

In der vollen Ausprägung der ektodermalen Dysplasie fehlen den betroffenen Menschen Schweißdrüsen (sie können nicht schwitzen), sie haben schütteres Haar, deformierte Nägel und plumpe zapfenförmige Zähne (Taurodontismus) sowie eine typische Physiognomie mit reduzierter Untergesichtshöhe. Auch wenn das Vollbild nicht ausgeprägt ist, können Patienten mit multiplen Zahnnichtanlagen durch gentechnische Abklärung an einem humangenetischen Institut häufig dem Formenkreis der ektodermalen Dysplasie zugeordnet werden.

Die Nichtanlagen treten meistens im Wechselgebiss, also in der Kindheit vor dem 12. Lebensjahr ins Bewusstsein  der Kinder und Eltern. Die Kinder haben in dieser Phase ohnehin Zahnlücken und sind an den Zustand fehlender Zähne gewöhnt, weil sie nie etwas anderes kennengelernt haben. Der Leidensdruck ist häufig anders gelagert als bei Erwachsenen, denen Kaueinheiten aus dem vorhandenen Bestand verloren gegangen sind. Andererseits ist eine frühe kaufunktionelle und ästhetische Rehabilitation aus funktionellen und entwicklungspsychologischen Gründen spätestens in der Pubertät anzustreben.

In Deutschland besteht eine Ausnahmeregelung, dass Zahnimplantate nach §28 SGB V unter bestimmten Bedingungen von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden können. Nach der Richtlinie gemäß §92 SGB V des Gemeinsamen Bundesausschusses ist dies als seltene Ausnahmeindikation in besonders schweren Fällen vorgesehen, zu denen im Wortlaut die „generalisierte genetische Nichtanlage von Zähnen“ bei Fehlen einer konventionell prothetischen Alternative gehört. Die Interpretation dieser Richtlinien und die Empfehlung zur Genehmigung der Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen erfolgt stets nach Prüfung des Einzelfalls durch Gutachter der kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung.

Therapieoptionen bei Nichtanlagen

Die therapeutischen Mittel des Zahnersatzes bei Zahnnichtanlagen umfassen unter anderem Zahnimplantate, die Erhaltung persistierender Milchzähne (das Milchgebiss ist kaum von Nichtanlagen betroffen), die Autotransplantation von Zähnen, die konventionelle Prothetik ohne Zahnimplantate (inklusive Klebebrücken) und den kieferorthopädischen Lückenschluss.

Invasive zahnprothetische Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter sind aus verschiedenen Gründen schwieriger als bei Erwachsenen, zum Beispiel weil kindliche Zähne wegen der noch ausgedehnten Pulpenhöhlen und der noch weiten Dentintubuli kaum und nur unter Risiko als prothetische Pfeiler zur Aufnahme von Zahnkronen beschliffen werden können und weil sich die Kieferform durch das Wachstum ständig ändert.

Unter den Therapieoptionen sticht die Autotransplantation heraus, weil sie ohne prothetische Fremdmaterialien und deren Kosten und Wartungsaufwand auskommt. Der kieferorthopädische Lückenschluss und die Milchzahnerhaltung kommen zusätzlich sogar ohne operative Interventionen aus und verursachen ebenfalls keine geplanten Folgekosten.

Das Problem der Infraokklusion von Zahnimplantaten und persistierenden Milchzähnen

Zahnimplantate heilen ankylotisch ein und geraten, wenn in der Wachstumsphase gesetzt, in Infraokklusion relativ zu natürlichen Nachbarzähnen. Dies hat nicht nur ästhetische und funktionelle Folgen, durch Infraokklusion kann ein irreversibler Schaden an den Nachbarzähnen mit Knochenabbau und Attachmentverlust eintreten. Dasselbe Problem kann an persistierenden Milchzähnen auftreten, die dann entfernt werden sollten.

Untersuchungen zufolge kann die Infraokklusion bei Implantation im Kindesalter bis 12 Jahre im Schnitt 14mm bei Frauen und 17mm bei Männern und im Maximum bis 20mm betragen. Bei Implantation in der Adoleszenz nach dem pubertären Wachstumsschub sind es im Schnitt noch 3mm und bis zu 7mm. Selbst bei jungen Erwachsenen ab dem 18. Lebensjahr sind noch im Mittelwert 1,7mm und im Maximum über 5mm Infraokklusion beobachtet worden.

Die scharfe Grenze des tradierten Gebotes, nicht vor dem 18. Lebensjahr zu implantieren, ist fragwürdig, denn das Wachstum der Alveolarfortsätze endet zu diesem Zeitpunkt nicht schlagartig. Eine differenziertere Betrachtung der Indikationen für Zahnimplantate in den drei Altersgruppen bis 12 Jahre, Adoleszenz 12 bis 18 Jahre und junge Erwachsene ab 18 Jahre ist unter anderem Gegenstand der Leitlinie.

Literaturdaten der Therapieoptionen nach objektiven und patientenzentrierten Parametern

Die Literaturrecherche für die S3 Leitlinie wurde durch ein Team an der Universität Kiel nach dem Muster einer PICO Frage (Population, Intervention, Control, Outcomes) geleistet: “Hat  bei Patienten mit  angeborenem Fehlen von bleibenden Zähnen (P) die frühe kaufunktionelle Rehabilitation mit Zahnimplantaten (I) Vorteile gegenüber der dauerhaften Erhaltung von    Milchzähnen, Zahntransplantaten, konventionellem Zahnersatz, kieferorthopädischem Lückenschluss, Therapieverzicht (C) in Bezug auf die allgemeinen Ergebnisparameter Implantat/Zahnüberleben und -erfolg und die speziellen patientenzentrierten  Ergebnisparameter Lebensqualität, Selbstbewusstsein, Zufriedenheit und Kaufunktion (O)?“.

Die Literaturrecherche wurde in Form eines systematischen Reviews in einem Peer Review Journal vor Leitlinienerstellung publiziert. Beispielhaft ergaben sich in der Synthese aller Studienergebnisse folgende Überlebensraten für Therapiealternativen bei Zahnnichtanlagen: Zahnimplantate 95,3 Prozent, Zahnautotransplantate 94,4 Prozent, Erhalt persistierender Milchzähne 89,6 Prozent, Konventionelle Prothetik ohne Zahnimplantate 60,2 Prozent (Abbildung 1).

Das Überleben der Zahnimplantate war altersabhängig mit 72,4 Prozent bei Kindern, 93 Prozent bei Adoleszenten und 97,4 Prozent bei  jungen Erwachsenen (Abbildung 2). Im direkten Vergleich zeigten Patienten mit syndromalen Oligodontien mit 89,6 Prozent ein etwas schlechteres Implantatüberleben als Patienten mit nicht syndromalen Oligodontien 97,2 Prozent.

Die Daten zum Einzelzahnersatz von Klebebrücken konnten nicht explizit von Studien an Populationen mit Zahnnichtanlagen entnommen werden, sie lagen im Schnitt für einflügelige Klebebrücken bei 94 Prozent und für mehrflügelige Klebebrücken bei 81 Prozent. Die Ergebnisparameter in den inkludierten Studien umfassten auch patientenzentrierte und patientenberichtete Messwerte.

Im Mittelwert der Studien lag der OHIP 49 (Oral Health Impact Profile) Wert bei Erwachsenen mit multiplen Zahnnichtanlagen vor Behandlung bei  27,8 (14,1 Prozent des Maximums von 196 Punkten) was zeigt, dass die Patienten (eventuell durch die frühe Gewöhnung) durch die Zahnnichtanlagen vergleichsweise nicht sehr stark beeinträchtigt sind. Andererseits ließ sich der Effekt einer kaufunktionellen und ästhetischen Rehabilitation mit einer Verbesserung von 14,9 Punkten auch aus subjektiver Patientensicht gut nachweisen.

Die gemessene Patientenzufriedenheit war bei Versorgung mit Zahnimplantaten mit 93,4 Prozent am höchsten, gefolgt von konventioneller Prothetik mit 76 Prozent, Zahnautotransplantaten mit 75 Prozent und kieferorthopädischem Lückenschluss mit 66,5 Prozent. Nach kaufunktioneller Versorgung mit Zahnimplantaten stieg die Kaufähigkeit an, messbar anhand des MFIS (masticatory function impairment questionnaire) und anhand objektiver Messgrößen wie Kaukraftmessung und Farbumschlag von Kauproben.

Empfehlungen und Statements der Leitlinie

Die Erarbeitung dieser Leitlinie erfolgte im Rahmen der 2. DGI e.V.  Konsensuskonferenz in einer Arbeitsgruppe, an der Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden (LL-Koordinator und federführender Autor der LL), Prof. Dr. Florian Breuer, Prof. Dr. German Gómez Román, Prof. Dr. Dr. Jürgen Hoffmann, Dr. Stefan Liepe, Prof. Dr. Christopher Lux, Priv. Doz. Dr. Christian Mehl, Dr. Joachim Schmidt, Dr. Mathias Sommer, Dr. Jan Tetsch, Prof. Dr. Dr. Frank Palm beteiligt waren.

Erhaltung des Milchzahns

Ersatz durch Zahnautotransplantation

Konventioneller prothetischer Zahnersatz

Implantatprothetischer Zahnersatz

Kieferorthopädischer Lückenschluss

Prof. Dr.med. Dr.med. dent. Hendrik Terheyden, Chefarzt

Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, DRK Kliniken Nordhessen, Standort Wehlheiden

Hansteinstr. 29, 34121 Kassel

Dr. med dent.  Jan Tetsch, M.Sc.

Praxis Scharnhorststraße 19, 48151 Münster

Jan Tetsch

Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden

Helios Kliniken Kassel
Klinik für Mund-, Kiefer- und
Plastische Gesichtschirurgie
Hansteinstr. 29, 34121 Kassel

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