Ärztliche Selbstbestimmung im MVZ
Da P. weder kieferorthopädisch interessiert noch fortgebildet ist, verweist er „seine“ kieferorthopädischen Fälle weiter. Einfachere dento-alveoläre Anomalien der Zahnstellung übernimmt seine ebenfalls im ZMVZ tätige Kollegin Dr. K., die sich durch Kurse und Visitationen bei einem befreundeten Kieferorthopäden in diesem Fachgebiet fortgebildet hat. Patienten mit komplexeren Gebissanomalien überweist er an einen niedergelassenen Fachzahnarzt für Kieferorthopädie, von dessen Kompetenz er überzeugt ist.
Aufruf
Schildern Sie Ihr Dilemma!
Haben Sie in der Praxis eine ähnliche Situation oder andere Dilemmata erlebt?
Schildern Sie das ethische Problem – die Autoren prüfen den Fall und nehmen ihn gegebenenfalls in diese Reihe auf.
Kontakt: Prof. Dr. Ralf Vollmuth, vollmuth@ak-ethik.de
Eines Tages bestellt W., Leitender Zahnarzt im ZMVZ, P. zu einem dienstlichen Gespräch ein. Darin wirft er P. geschäftsschädigendes Verhalten vor, da er kieferorthopädische Fälle „außer Haus“ überweist. Die Kollegin K. könne diese Fälle doch therapieren, die Umsätze würden so „im Haus“ bleiben. Für die Zukunft „bittet“ W., dass Überweisungen an den niedergelassenen Kieferorthopäden durch P. unterbleiben.
P. ist sich unsicher, was schwerer wiegt: die Loyalität gegenüber seinem Arbeitgeber oder die Verantwortung gegenüber seinen Patienten. Er bezweifelt, dass K. über die notwendige Erfahrung und Kompetenz zur Therapie komplexer kieferorthopädischer Krankheitsbilder verfügt. Soll er ein klärendes Gespräch gemeinsam mit W. und K. führen oder würde er damit K. kompromittieren? Alternativ überlegt P., seine Patienten so zu beraten, dass sie weiterhin zum niedergelassenen Kieferorthopäden wollen, um dann gegenüber W. auf die Patientenautonomie zu verweisen.
Kommentar 1
Der Zahnarzt sollte seinem ärztlichen Gewissen folgen
Über die hier beschriebene Situation im ZMVZ wird immer wieder berichtet. Das Problem tritt in verschiedenen Facetten – von festgeschriebenen Umsatzzahlen bis zu einer Anzahl jährlich zu setzender Implantate – immer wieder auf. Besonders erschwert wird diese Situation, wenn der Leitende Zahnarzt nicht der Eigentümer ist, sondern Fachfremden wie den Investoren Rechenschaft ablegen muss.
Hier sind drei Zahnärzte mit unterschiedlicher Stellung beteiligt. Der Behandler ist angestellter Zahnarzt, so dass man davon ausgehen muss, dass er mindestens seine Zeit als Ausbildungszahnarzt absolviert hat. Er hat somit schon die eine oder andere Erfahrung bei der zahnärztlichen Therapieplanung und Behandlung gemacht. Der zweite Part ist eine Zahnärztin, die keine Weiterbildung zur Fachzahnärztin für Kieferorthopädie abgeschlossen hat, sondern durch Fortbildungen und Praktika Kenntnisse in dem Fach erlangt hat. Der Dritte ist der fürs ZMVZ verantwortliche Zahnarzt. Er hat vermutlich sowohl Einfluss auf die Patientenpfade als auch die Entscheidungshoheit über Anstellungen und Konditionen der Mitarbeitenden. Es wird von einem guten und kollegialen Betriebsklima berichtet.
Dem Benefizienzgebot folgend möchte der junge Zahnarzt, dass seine Patienten eine einwandfreie kieferorthopädische Therapie durch einen Facharzt für Kieferorthopädie erhalten, wenn diese benötigt wird. Er will, dass seinen Patienten kein Schaden (Non-Malefizienzgebot) durch eine Kollegin im ZMVZ zuteil wird, die keine fachzahnärztliche kieferorthopädische Qualifikation besitzt. Dies ist vollständig nachvollziehbar – und unterstützenswert unter der Voraussetzung, dass der junge Kollege ausreichend in der Lage ist, fachlich eine einfache von einer schwierigen kieferorthopädischen Fehlstellung zu unterscheiden. Zusätzlich ergibt sich für ihn noch ein Loyalitätskonflikt gegenüber dem ZMVZ. Erschwerend kommt hinzu, dass er sich durch das Beibehalten beziehungsweise die Missachtung der Anweisung selbst Schaden zufügen könnte, da ihm gegebenenfalls berufliche Konsequenzen drohen.
Dieses ethische Dilemma könnte wie folgt angegangen werden:
Da das Betriebsklima in der Praxis gut ist, sollte der junge Zahnarzt ein offenes Gespräch mit der Kollegin suchen und ihr von seiner Unsicherheit und seinen Bedenken erzählen. Dieses Gespräch sollte nicht zwischen Tür und Angel mitten im hektischen Praxisalltag stattfinden. Es sollten ein Ort und ein Zeitpunkt gewählt werden, wo beide in der Lage sind, sich ohne Unterbrechungen zu unterhalten. Aus Gründen der Loyalität gegenüber seinem Arbeitgeber sollte ein erstes Gespräch auf ihn und die kieferorthopädisch tätige Kollegin begrenzt sein. Weitere, dort tätige Zahnärzte sollten – um das Betriebsklima zu schützen – primär nicht involviert werden.
Aus dem kollegialen Gespräch könnten sich diese Möglichkeiten ergeben:
Die Kollegin hat eine andere Sichtweise auf die Dinge. Die Patientensituationen, die der junge Kollege mit seiner universitären kieferorthopädischen Ausbildung als schwierig einstuft, werden von ihr nicht so bewertet.
Die Kollegin kennt klar ihre Grenze für kieferorthopädische Behandlungen und überweist die Patienten in der Konsequenz dann auch zu einer kieferorthopädischen Fachpraxis.
Die Kollegin ist froh, dass der Kollege sie anspricht, weil sie den Druck auf ihre Therapieentscheidungen durch den Leiter so erlebt wie er auch. Ihr werden ebenfalls Handlungs- und Behandlungsweisen auferlegt, bei denen sie sich bei der Ausführung unwohl fühlt. Sie weiß, dass sie nicht die Kenntnisse und Erfahrungen hat, schwerwiegende Fälle zu bearbeiten. Vielleicht bringt das Gespräch diesen Umstand zutage.
Abhängig vom Ausgang des Gesprächs sollten diese Handlungen folgen: Als Zeichen der Loyalität zum Betrieb und zur Kollegin sollten bei den beiden letztgenannten Gesprächsoptionen beide zusammen das Gespräch mit dem Leitenden Zahnarzt suchen und ihm das ethische Dilemma aufzeigen. Mit dem Hinweis auf den Ruf des ZMVZ und auf das Gebot des Nichtschadens könnten beide Zahnärzte mit dem Leitenden Zahnarzt sprechen. Eine Verabredung könnte sein, dass der junge Kollege alle Fälle mit der kieferorthopädisch tätigen Kollegin bespricht und in dem Zusammenhang klärt, ob die jeweilige Behandlung ins Spektrum der Kollegin fällt oder nicht. Sie sollte dann aber ohne Mitbestimmung des Leitenden Zahnarztes die Freiheit haben zu entscheiden, ob der Patient einer kieferorthopädischen Fachpraxis zugeführt wird.
Ergibt das Gespräch mit der kieferorthopädischen Kollegin keinen ihn zufriedenstellenden Konsens, sollte der junge Kollege zusammen mit dem Leiter ein weiteres Gespräch mit ihr nicht scheuen und seine Befürchtungen und Argumente klar mitteilen. Der junge Zahnarzt sollte seinem ärztlichen Gewissen folgen, um nicht täglich seinen Beruf mit Repressalien und im Zwiespalt zu erleben. Sollte das Anliegen des Leitenden, auf keinen Fall Umsatz zu verlieren, weiterhin im Vordergrund stehen, sollte sich der junge Zahnarzt eine andere Stelle suchen. Mit seiner abgeschlossenen Zeit als Ausbildungszahnarzt und seinem ethischen Anspruch kann er heutzutage höchstwahrscheinlich eine Anstellung finden, die seinen Ansprüchen mehr genügt, da dort das Patientenwohl im Vordergrund steht.
Dr. Bernd Oppermann und Prof. Dr. Ina Nitschke
Kommentar 2
Zahnärzte sollten die Grenzen ihrer Kompetenz kennen
Der angestellte Zahnarzt P. befindet sich in einem Dilemma, das sich gleich auf drei Ebenen erstreckt: erstens die medizinisch-ethische Ebene, zweitens die rein juristische Ebene und drittens schließlich die psychologische Ebene, die zwar keinen offiziellen Regeln unterliegt, jedoch starke Auswirkungen auf das Vertrauensverhältnis im ZMVZ haben dürfte. Auf der medizinisch-ethischen Ebene können wir, aufbauend auf der Prinzipienethik von Beauchamp und Childress, zu einer differenzierten Analyse gelangen.
Das erste Gebot, die Patientenautonomie, verlangt die absolute Entscheidungsfreiheit des Patienten, seine Einwilligung zu jeder seinen Körper oder seine Seele betreffenden Behandlung zu geben oder zu verweigern, nach erfolgter ergebnisoffener, sachlicher und kompetenter Beratung („informed consent“) durch den überweisenden Zahn-arzt P. Da sich der Patient generell immer für die Überweisung zu einem ausgewiesenen, nicht dem ZMVZ angehörenden niedergelassenen Fachzahnarzt für KFO entscheiden kann, ist die vom Leitenden Zahnarzt W. (der hier als Arbeitgeber fungiert) kommunizierte Direktive, auch komplexe kieferorthopädische Fälle nur an Kollegen innerhalb des ZMVZ zu überweisen, schon grundsätzlich nicht zu akzeptieren.
Der Arbeitgeber verletzt mit seiner Anordnung – und es ist keine „Bitte“, sondern eine ernst gemeinte Anweisung – somit dieses Gebot der Patientenautonomie. Dies ist auch in der Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer in § 2 Absatz 3 explizit geregelt. Dort heißt es: „Der Zahnarzt hat das Recht seiner Patienten auf freie Arztwahl zu achten.“
Auch das zweite Gebot – das Prinzip der Schadensvermeidung – wird damit klar verletzt, weil nach Einschätzung des angestellten Zahnarztes P. seine kieferorthopädisch tätige Kollegin K. bei komplexeren Fällen überfordert ist. Offenbar hat sie für schwierige Fälle nicht die notwendige Expertise, was die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen, die dem Patienten schaden können, deutlich erhöht.
Das dritte Gebot – das Prinzip des Wohltuns und der Fürsorge – wird ebenfalls missachtet, da eine kieferorthopädische Behandlung keinen Notfall darstellt, sondern in der Regel ein elektiver Eingriff ist, der gut geplant und lege artis durchgeführt werden muss, um einen komplikationsfreien Ablauf und ein gutes Ergebnis zu erreichen.
Über das vierte Gebot – das Prinzip der Gerechtigkeit – herrscht bislang noch Unklarheit: Wird die Kollegin K., die innerhalb des ZMVZ leichtere kieferorthopädische Fälle durchführt, überhaupt gefragt, ob sie sich die Behandlung komplexerer Fälle zutraut? Oder bestimmt der Leitende Zahnarzt W. einfach, dass sie diese Fälle auch übernehmen muss? So wie es sich im Kontext darstellt, ist eher Letzteres anzunehmen. Das Prinzip der Gerechtigkeit wird darüber hinaus auch deshalb missachtet, da hier eine unlautere „prätherapeutische“ Selektion betrieben wird. Die Patienten, die zu routinemäßigen Behandlungen ins ZMVZ kommen, können die Komplexität kieferorthopädischer Therapien nicht einschätzen. Sie werden in vielen Fällen froh sein, wenn sie für die KFO-Behandlung ihrer Kinder im ZMVZ bleiben können. So wird ihnen aus ethisch fragwürdigen ökonomischen Gründen die kompetentere Behandlung eines KFO-Spezialisten vorenthalten.
Nach der Prinzipienethik ist also eine Überweisung komplexer kieferorthopädischer Fälle an einen niedergelassenen Fachzahnarzt für KFO eindeutig geboten. Wie sieht es jedoch auf der juristischen Ebene aus? Einerseits ist P. seinem zahnärztlichen Arbeitgeber gegenüber klar weisungsgebunden, was in der Regel im Arbeitsvertrag genau festgelegt ist. Andererseits gibt es nach der Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer die Pflicht zur Sicherstellung der Qualität der zahnärztlichen Tätigkeit (Präambel: Artikel c) sowie die Pflicht, sich gemäß seiner angewandten Behandlungsverfahren angemessen fortzubilden (§ 5: Fortbildung). Wie ein Richter in einem Prozess urteilen würde, ob der Arbeitsvertrag oder die Musterberufsordnung als das höhere Rechtsgut zu bewerten ist, lässt sich schwer abschätzen.
Ungeachtet der ethischen und der juristischen Ebene gibt es noch die psychologische Ebene, auf der der Zahnarzt P. hier seinen Weg finden muss. Ein verantwortungsvolles berufliches Selbstverständnis vorausgesetzt, sollten alle am Patienten tätigen Zahnärzte die Grenzen ihrer Kompetenzen erkennen können und keine Behandlungen durchführen, die sie nicht beherrschen. Falls jedoch der Arbeitgeber W. auf einer ZMVZ-internen Behandlung komplexer kieferorthopädischer Fälle durch die nicht ausreichend dafür fortgebildete Kollegin K. besteht und die Überweisungen zu Fachzahnärzten für Kieferorthopädie explizit verbietet, wird das Vertrauensverhältnis zwischen P. und W. gestört sein, wenn P. seinem Gewissen folgt. Er riskiert eine Abmahnung oder sogar eine Kündigung, und die Arbeitsatmosphäre wird stark belastet sein.
In jedem Fall ist ein klärendes Gespräch zwischen den drei Kollegen P., W. und K. dringend empfehlenswert. Denn es wird auch im Interesse des Leitenden Zahnarztes W. und der Kollegin K. sein, Komplikationen und Misserfolge bei komplexen kieferorthopädischen Behandlungen zu vermeiden, auch im Hinblick auf die Reputation des ZMVZ.
Dr. Stephan Grassl
Die Prinzipienethik
Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkurrierenden, nicht miteinander zu vereinbarenden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instru- menten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzeptionen (wie die Tugendethik, die Pflichtenethik, der Konsequentialismus oder die Fürsorge- Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinter- legt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben.
Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipienethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen als allgemein gültige ethisch-moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander abgewogen.
Drei dieser Prinzipien – die Patienten- autonomie, das Nichtschadensgebot (Non-Malefizienz) und das Wohltuns- gebot (Benefizienz) – fokussieren ausschließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Gerechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personengruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht.
Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbind- liche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Hand- lungen resultieren. Die Prinzipienethik ermöglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Gesamtbeurteilungen und Entscheidungen. Deshalb werden bei klinisch-ethischen Falldiskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen.
Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth