Oralmedizin – immer wieder missverstanden
deutschen Schrifttum zunehmend der Begriff „Oralmedizin“. Darüber hinaus ändern wissenschaftliche Gesellschaften ihre Bezeichnungen und führen den Begriff „Oralmedizin“ ein. Zuletzt las man in den zm Nr. 8/2002, Seite 18, von dem Deutschen Kollegium für Psychosomatische Medizin, deren Arbeitsgruppe bisher AG Zahnmedizin hieß, nun aber den Begriff Arbeitsgruppe Oralmedizin angenommen hat.
Ein neueres Beispiel einer falschen Anwendung des Begriffes „Oralmedizin“ ist ein Artikel von Karlheinz Kimmel mit dem Titel „Infektionsschutz und Oralmedizin – neue Regelwerke und ihre Konsequenzen“ (ZWR, 111, 2002: 547-552).
Immer wieder Diskrepanzen
Der Arbeitskreis Oralpathologie innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) ergänzte seine Namengebung nach einigen Diskussionen im Jahre 1998 mit dem Begriff „Oralmedizin“, so dass die Bezeichnung nun lautet: „Arbeitskreis für Oralpathologie und Oralmedizin“. Eine Reihe von internationalen Gesellschaften, wie die American Academy of Oral Medicine oder die European Association of Oral Medicine, vertreten dieses klar definierte Fach der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Dagegen führt die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mundund Kieferheilkunde (DGZMK) auf ihrer Internetseite die englische Übersetzung „German Society of Dentistry and Oral Medicine“.
Oralmedizin = Zahnmedizin
Mit dieser Bezeichnung ist allerdings etwas ganz anderes gemeint, als für die Oralmedizin eigentlich definiert worden ist. Es gehen einige grundsätzlich davon aus, dass Oralmedizin die gesamte Zahnmedizin umfasst und nur ein anderes Wort, eben ein umfassenderes, für die Zahnmedizin ist. Tatsächlich ist aber die Oralmedizin eine in vielen Ländern der Welt lange etablierte Spezialdisziplin. In Deutschland allerdings ist diese bisher unter diesem Begriff kaum bekannt, obwohl hier lange der Begriff der Stomatologie eingeführt war. Stomatologie und Oralmedizin sind identisch und klar definiert.
Geschichtlicher Rückblick
Die Oralmedizin geht auf das Jahr 1926 zurück und wurde von William Giess, Columbia University, USA, eingeführt. Bereits 1945 wurde die American Academy of Oral Medicine gegründet und existiert bis heute. Die Bedeutung der Oralmedizin wurde durch mehrere World Workshops on Oral Medicine bestätigt, die in Chicago 1988 erstmalig und dann in einem fünfjährigen Rhythmus abgehalten wurden.
Dort wurde die Definition der Oralmedizin wie folgt festgelegt: „Die Oralmedizin ist ein Spezialgebiet der Zahnheilkunde und beschäftigt sich vorwiegend mit Erkrankungen oraler und paraoraler Strukturen. Die Oralmedizin bezieht die Prinzipien der Medizin auf die Mundhöhle und widmet sich der Beforschung biologischer, pathologischer und klinischer Aspekte. Die Oralmedizin beschäftigt sich insbesondere mit der Diagnose und Therapie von Erkrankungen orofazialer Strukturen und oraler Manifestationen von Systemerkrankungen. Darüber hinaus widmet sie sich dem Management von Verhaltensstörungen sowie der Therapie medizinisch kompromittierter Patienten.“
Umfangreiche epidemiologische Studien konnten zeigen, dass sich die Zukunft des klassischen zahnärztlichen Berufes ändern wird, wobei eine Vielzahl von Erkrankungen der Mundhöhle, des Kopf- und Halsbereiches zu diagnostizieren und zu therapieren sein werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in einer Studie bereits 1989 darauf hingewiesen („Trends in oral health care: global perspectives“), dass zukünftig erheblich mehr Oralmediziner benötigt werden.
Damit ist die Oralmedizin vorwiegend mit der Diagnose und der Therapie medizinisch Kompromittierter beschäftigt, mit der Behandlung primärer Mundschleimhauterkrankungen, sowie oraler Manifestationen, die durch medizinische Behandlung entstanden sind.
Der Blick über „den Tellerrand“
Aus diesen Gründen muss der Oralmediziner besondere Erfahrung bei der Therapie von Patienten mit endokrinen, neuromuskulären, hämatopoetischen, kardiovaskulären, renalen, durch Geschlechtsverkehr übertragenen Erkrankungen haben und mit respiratorischen und gastrointestinalen Krankheiten vertraut sein. Darüber hinaus werden Oralmediziner häufig konsultiert bei Patienten vor, während oder nach Radiotherapie, Chemotherapie, Organtransplantationen und Dialyse, Bypass- Chirurgie, sowie bei Ersatz großer Gelenke. Sie sind in der Lage, Therapieprotokolle zu erstellen und Empfehlungen zu geben für Patienten mit Diabetes, Schilddrüsenerkrankungen, Leukämie, Blutungsübeln, Hochdruck, Hepatitis, HIV-Infektion, Emphysemen und kongestiven Herzerkrankungen, sowie Zuständen nach Myokardinfarkt. Oralmediziner sind spezialisiert auf die Therapie des oralen Herpes, der chronisch rezidivierenden Aphthen, des oralen Lichen planus, der oralen Candidiasis, des Pemphigus und der Pemphigoide, des Erythema multiforme sowie anderer vesikulobullöser Erkrankungen der Haut und Schleimhäute. Oralmediziner haben darüber hinaus Erfahrungen mit Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten für eine Vielzahl medizinischer Probleme. Sie sind darüber unterrichtet, wie diese Medikamente orale Gewebe beeinflussen und wie Medikationen umgestellt werden können, um entsprechende Mund- und zahnärztliche Therapien durchzuführen.
Damit weist sich der Oralmediziner als Therapeut oraler, nicht chirurgischer Erkrankungen aus. Eine Vielzahl von Patienten wird heute noch von Dermatologen, Hals- Nasen-Ohrenärzten, Internisten und anderen wegen oralmedizinischer Probleme behandelt, wobei oft festgestellt werden muss, dass insbesondere bei verhaltensgestörten Patienten („burning mouth syndrome“ und Ähnliches) die Expertise selten ausreicht. In Deutschland ist in den letzten 40 bis 50 Jahren auf dem Gebiet der Oralmedizin wenig gearbeitet worden. In einem Editorial des Autors diesen Beitrages wurde schon vor Jahren (DZZ 1997; 52:307) darauf hingewiesen, dass die Zahl der Publikationen mit oralmedizinischen Themen deutscher Kliniken für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde in deutschen Organen wie der DZZ nur einen Anteil von vier Prozent ausmacht.
Da, wie bereits zitiert, die WHO und die FDI (Fédération Dentaire Internationale) schon seit Jahren darauf hinweisen, dass sich weltweit gewisse Änderungen im Berufsbild ergeben, müsste auch in Deutschland dem Gebiet der Oralmedizin erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Es gibt noch Vieles zu tun
Die Vernachlässigung des Gebietes der Oralmedizin hat sicherlich viele Gründe, wobei eine Schwerpunktausbildung bereits während des Studiums an den meisten Universitätskliniken kaum oder nur marginal erfolgt. Daraus ergibt sich für die praktizierenden Zahnärztinnen und Zahnärzte aufgrund mangelnder Ausbildung eine große Unsicherheit gegenüber ihren Patienten, die sie dann meist überweisen, häufig zu chirurgisch tätigen Kollegen, die mit den entsprechenden Problemen solcher Patienten meist nicht richtig umgehen können. Schließlich muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Abrechnungsmöglichkeiten von Patienten mit oralmedizinischen Erkrankungen bisher ungenügend sind.
Die deutsche Zahn-, Mundund Kieferheilkunde muss sich auf die Oralmedizin zukünftig mehr konzentrieren, da davon auszugehen ist, dass andere Disziplinen, insbesondere die Dermatologie, zunehmend auch die Mundschleimhaut für sich als Arbeitsgebiet entdecken wird.
Situation in Europa
Umliegende europäische Länder, auch in Südeuropa, haben längst nationale Gesellschaften für Oralmedizin gegründet. Der Arbeitskreis für Oralpathologie und Oralmedizin versucht seit Jahren, die Bedeutung des Faches Oralmedizin voranzutreiben, bisher allerdings ist das Echo aus den Universitäten und der Praxis leider kaum hörbar.
Professor Dr. Peter A. ReichartZentrum für ZahnmedizinAbteilung für Oralchirurgie und zahnärztlicheRöntgenologieFöhrer Straße 1513353 Berlin