Gastkommentar

Ohne Mut und Phantasie

Im Wahlkampf hatte der Kanzler immer wieder die Notwendigkeit einer großen Gesundheitsreform betont. Doch die Koalitionsvereinbarungen zeigen, dass Rot-Grün den notwendigen Kurswechsel scheut.

Dr. Dorothea Siems
Wirtschaftskorrespondentin im Parlamentsbüro der Welt, Berlin

Der alte und neue Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte im Wahlkampf immer wieder die Gesundheitspolitik als eines der wichtigsten Felder der künftigen Regierungszeit hervorgehoben. Doch wer hoffte, SPD und Grüne würden in ihren Koalitionsverhandlungen ein gesundheitspolitisches Kaninchen aus dem Hut zaubern, sieht sich getäuscht. Die Vereinbarungen enthalten nichts Überraschendes – und leider auch nichts Überzeugendes. Zwar stehen im Koalitionsvertrag noch keine Eckpfeiler der angekündigten Gesundheitsreform, sondern in erster Linie Maßnahmen, mit denen kurzfristig die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung stabilisiert werden sollen. Doch schon diese ersten Weichenstellungen lassen befürchten, dass die Koalitionäre lieber die ausgetretenen Pfade weitergehen wollen, anstatt den Kurswechel zu wagen.

Wieder einmal nimmt die Politik die Leistungserbringer ins Visier, um Einsparungen zu erzwingen. Und wieder einmal verspricht sie den Patienten, sie vor Mehrbelastung oder Leistungseinschränkung zu verschonen. Vom medizinischen Fortschritt soll jeder profitieren – nur mehr zahlen soll niemand. Von mehr Eigenverantwortung ist nicht länger die Rede. Dabei hatte nicht nur die Ökopartei, sondern auch der Kanzler noch vor nicht langer Zeit selbst gefordert, dem Einzelnen mehr abzuverlangen, um das System bezahlbar zu halten und das Kostenbewusstsein der Patienten zu stärken. Doch statt den Versicherten mehr Wahlfreiheit bei den Kassenleistungen einzuräumen und die Selbstbeteiligung der Patienten an den Kosten sozialverträglich auszuweiten, greifen die Koalitionäre zu den alten Rezepten. So soll ein Sparpaket geschnürt werden, das im Arzneimittelsektor durch mehr staatliche Kontrolle auf die Preisgestaltung, Zwangsrabatte und andere wettbewerbswidrige Methoden mehr als eine Milliarde Euro einspart. Vergessen scheint, dass das letzte derartige Notprogramm vor nicht einmal einem Jahr von den selben Parteien auf den Weg gebracht worden ist – auf die versprochenen Entlastungen warten die Kassen bis heute.

Nicht mehr Freiheiten, sondern im Gegenteil noch mehr Zwang verordnet die Regierung den Versicherten. Der Wechsel in die private Krankenversicherung wird erschwert. Die Versicherungspflichtgrenze soll für Berufseinsteiger um ein Drittel heraufgesetzt werden. Damit verringert sich der Wettbewerbsdruck, unter dem AOK, Barmer & Co. stehen, ein weiteres Mal. Diese Strategie führt mit Sicherheit nicht zu einer Effizienzsteigerung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung – im Gegenteil. Billigend nimmt die Koalition außerdem eine Schwächung, möglicherweise gar eine Zerschlagung der privaten Kassen in Kauf. Für die niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte, aber auch für Kliniken und andere Leistungserbringer wäre eine solche Entwicklung fatal. Für viele bedeuten die Einnahmen aus der Behandlung der Privatversicherten ein zweites Standbein, das oftmals das wirtschaftliche Überleben unter den immer schwieriger gewordenen Bedingungen überhaupt erst ermöglicht.

Die schon in der ersten Regierungszeit der rot-grünen Koalition zu beobachtende schleichende Verstaatlichung des Gesundheitssystems droht sich auch in den kommenden vier Jahren fortzusetzen. Ein Ausweg aus der Misere steigender Beitragssätze und zunehmender Rationierung von Gesundheitsleistungen bietet diese Politik nicht. Dabei müsste allen Verantwortlichen klar sein, dass angesichts der demographischen Entwicklung ein „Weiter so“ verantwortungslos ist. Doch vor dem Hintergrund des äußerst knappen Wahlsieges scheuen die beiden Parteien offenbar vor unpopulären Maßnahmen zurück. Die Zeche für mangelnden Mut und Phantasielosigkeit werden Patienten, Beitragszahler und Leistungserbringer zu zahlen haben.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.