Bündnis Gesundheit 2000

Menschlichkeit statt Ökonomie

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Mit der Forderung nach „mehr Menschlichkeit statt Durchökonomisierung des Gesundheitswesens“ haben sich Vertreter des „Bündnis Gesundheit 2000“ am 12. September in der Bundespressekonferenz den Fragen der Journalisten gestellt. Ihren Appell, dokumentiert in einem „Positionspapier für ein patientengerechtes Gesundheitswesen“, richtete das 4,2 Millionen Beschäftigte repräsentierende Bündnis an politische Entscheider der neuen Legislaturperiode – egal welchen Partei-Kolorits.

Es geht darum „Schlimmstes zu verhindern, damit wir nicht wieder auf den Gendarmenmarkt müssen“, erläuterte Bundesärztekammerpräsident Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe mit Blick auf die im September 2000 durchgeführte Protestkundgebung der Heilberufe in Berlin die Gründe für den Zeitpunkt der Pressekonferenz in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes. Hoppe betonte, dass man sich nicht passiv in die für diese Auseinandersetzung typische „Ethik-Falle“ drängen lasse. Die Politik habe zwar angekündigt, dass die Misere im Gesundheitswesen ein wichtiges Wahlkampfthema werde, habe aber keine konstruktiven Aussagen gemacht.

Erforderlich sei ein Richtungswechsel in der Gesundheitspolitik. „Wenn eine gute Gesundheitsversorgung erhalten bleiben soll, dann brauchen wir Veränderungen der wirtschaftlichen und beruflichen Rahmenbedingungen, die wieder Zuwendung möglich machen, wo Zuteilung droht“, forderten die 38 dem Bündnis angeschlossenen Verbände in ihrem Positionspapier. Wichtig sei, so Hoppe, vor allem die „Beendigung der ‘Verschiebebahnhofpolitik’ zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung“: „Wir sprechen hier nicht von ‘Peanuts’. Etwa 30 Milliarden Euro sind den Krankenkassen in den letzten acht Jahren verloren gegangen, um andere Bereiche, wie die Renten- und Arbeitslosenversicherung, zu entlasten und den Bundeshaushalt zu schonen. Die ohnehin schon dramatische Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherungen wird durch solche Manöver noch weiter verschärft und eine Defizitentwicklung offenkundig bewusst in Kauf genommen“, so Hoppe.

Denn nicht die Auszehrung der GKV, sondern Ausgabensteigerungen in einzelnen Versorgungsbereichen bestimmten die gesundheitspolitische Diskussion. Das wirkliche Problem seien die erodierenden Finanzierungsgrundlagen der GKV und die durch den medizinischen Fortschritt gewachsenen Möglichkeiten. Was von manchen als Leistungsexplosion verurteilt werde, sei nichts anderes als die Grundlage unserer „Gesellschaft des langen Lebens“. Hoppe: „Wenn die Segnungen der Spitzenmedizin weiterhin allen Menschen unabhängig von ihrem Alter zur Verfügung stehen sollen, bedarf es einer wegweisenden Diskussion darüber, was solidarisch zu finanzieren ist und was die Bürger selbst tragen können.“

Alternative für die Zahnmedizin

Für die zahnmedizinische Versorgung sei die Alternative, so Hoppe, das Modell der befundorientierten Festzuschüsse mit Kostenerstattung: „Die Zahnärzte setzen mit dem Modell konsequent auf eine präventionsorientierte Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, die das medizinisch Notwendige über befundorientierte Festzuschüsse abdeckt.“

Im Bereich der Prävention werde die Zahnheilkunde, so bestätigte auch der zahnärztliche Vertreter und Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer Dr. Dietmar Oesterreich, als Vorzeigeobjekt geführt. Das therapiebezogene zahnärztliche Konzept fördere die Eigenverantwortung der Patienten und unterbinde die Zwei-Klassen-Medizin, eröffne damit unter Wahrung des befundorientierten Festzuschusses allen Patienten den Zugang zu sämtlichen Möglichkeiten der Zahnmedizin. Die von der Politik propagierte Mobilisierung von so genannten Wirtschaftlichkeitsreserven wird, so der Präsident der Bundesärztekammer, „nur vorübergehend zur Kostendämpfung beitragen können, an den Ausgaben steigernden Ursachen ändert sie nichts“. Die gesetzliche Krankenversicherung werde mit ihrer erodierenden Einnahmebasis kaum in der Lage sein, ausreichend Mittel bereit zu stellen, so dass allen Versicherten die medizinischen Neuerungen der nächsten 20 Jahre zugute kommen.

Zeitdruck und Hektik

Viel Zeit zum Handeln bleibt ohnehin nicht mehr: In Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern und ambulanten Praxen herrscht, so warnte Sabine Rothe, Präsidentin des Berufsverbandes der Arzt- und Zahnarzthelferinnen, Zeitdruck und Hektik: „Die tägliche Konfrontation mit unausweichlichem Leid, fehlende Anerkennung durch die Gesellschaft und dazu die körperliche Belastung zeigen bei überdurchschnittlich vielen Beschäftigten im Gesundheitswesen Symptome des Burn-out-Syndroms“. Ohne die Millionen unbezahlter Leistungen und Überstunden gäbe es kein hochwertiges Gesundheitswesen mehr in Deutschland. Egal, ob im stationären, ambulanten Bereich oder in der Altenpflege: die Zahl der bezahlten und unbezahlten Überstunden wachse, der Arbeitsumfang nehme permanent zu. Die Gehälter seien im volkswirtschaftlichen Vergleich niedrig. Hinzu kämen immer neue demoralisierende pauschale Betrugsvorwürfe von Seiten der Politiker und der Medien.

Die Folgen für die Betroffenen und damit auch das Gesundheitswesen: Die Zahl der Medizinstudenten habe in den letzten sieben Jahren um elf Prozent abgenommen, die der Absolventen sogar um 23 Prozent. Assistenzärzte werden mit aufgezwungenen Verträgen faktisch geknebelt, Ärzte geben zunehmend vorzeitig ihre Praxen auf, junge Ärzte wandern vermehrt ins Ausland ab.

Bei nichtärztlichen Berufen herrsche, so Sabine Rothe, eine außerordentlich hohe Fluktuation: Laut Berufsbildungsbericht 2000 steige zum Beispiel bei Arzthelferinnen etwa die Hälfte der beschäftigten Frauen nach vierjähriger Berufstätigkeit wieder aus. Allein in der Alten- und Krankenpflege sei ein Bewerberrückgang von rund 40 Prozent festgestellt worden.

„Das Gesundheitswesen droht aus den Fugen zu geraten“, bestätigte auch Gertrud Stöcker als Vertreterin der Pflegeberufe: „Das liegt vor allem daran, dass die Politik die zunehmenden Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zum großen Teil ignoriert und nach wie vor zu wenig in diesen volkswirtschaftlich höchst bedeutsamen Bereich investiert wird.“

Aber der Trend steht eher Richtung „Sparen“. Und gespart werde, so die Erfahrung von Ute Repschläger als Vertreterin der Heilmittelerbringer, in erster Linie im Bereich der Prävention. Dabei könnten viele Erkrankungen vermieden oder frühzeitig erkannt werden, wenn die Bereitschaft zu Eigenverantwortung, Prävention und Individualvorsorge noch größer wäre: „Wer hier spart, spart am falschen Ende. Gesundheitsförderung und Prävention sind wichtige Voraussetzungen einer umfassenden Gesundheitsversorgung, müssen aber unbedingt professionell durchgeführt werden und wissenschaftlich nachprüfbaren Kriterien genügen. Marketingmaßnahmen zur Mitgliederwerbung, wie es sie früher schon einmal gab, lehnen wir ab“, betonte Repschläger mit Blick auf die Usancen der Krankenkassen.

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