Tiefgreifende Pläne für das Gesundheitswesen
Präventive Maßnahmen sollen gefördert werden, Patientenakten in einem Zentralcomputer gespeichert, die zahnärztliche Ausbildung verkürzt und – für die Kolleginnen und Kollegen auf der Insel besonders wichtig – das Honorarsystem grundlegend überholt werden. Die zahnärztlichen Berufsverbände sehen die Reformen mit gemischten Gefühlen, sind sich allerdings mit der Regierung einig, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann.
Gegenwärtig werden die mehr als 20 000 Zahnärzte in Großbritannien vornehmlich für die Behandlungen bezahlt, die sie im Rahmen des staatlichen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) vornehmen. Für einen Check-up gibt es rund fünf Pfund (7,50 Euro), eine Füllung wird mit umgerechnet rund 17 Euro honoriert.
Neues Honorarsystem
Damit soll es freilich schon bald vorbei sein. Das neue Honorarsystem, welches laut Gesundheitsministerium Anfang April 2004 in Kraft treten soll, honoriert den staatlichen Zahnarzt grundlegend anders: Pro eingetragenem Stammpatient erhält der Kollege zukünftig eine Kopfpauschale. Wie hoch diese ist, steht noch nicht fest, wird sich aber unter anderem nach dem Alter des Patienten und dem Zustand seiner Zähne richten. Andere Faktoren, wie geografische Lage der Praxis, dürften ebenfalls mit ins Kalkül gezogen werden, wenn es daran geht, den Honorarsatz festzulegen.
Bereits in Kürze soll nach Angaben des Londoner Gesundheitsministeriums landesweit mit zehn Pilotprojekten begonnen werden, um das neue System zu testen. Stichwort Prävention. Präventive Maßnahmen, wie Zahnhygiene und Aufklärung des Patienten über die optimale Gebisspflege, werden nach Angaben von Gesundheitsminister Alan Milburn zukünftig stärker gefördert. Konkret heißt das: Zahnärzte erhalten mehr Honorar für derartige Serviceleistungen. NHS-Patienten haben in Zukunft Anspruch auf eine regelmäßige 25-minütige Behandlung beim Zahnhygieniker. Dafür entfällt für die meisten NHS-Patienten der automatische Anspruch auf routinemäßige Checkups durch den Zahnarzt. Die Reformpläne der Regierung Blair sind in einem Papier mit dem Titel „NHS Dentistry: Options for Change“ zusammengefasst.
Zentrale Datenspeicherung
Wichtige Neuerungen gibt es auch bei der Art und Weise, wie Patienteninformationen gespeichert und zwischen einzelnen Zahnarztpraxen und anderen Gesundheitsberufen ausgetauscht werden können. Alle Unterlagen sollen zukünftig in elektronischer Form in einem NHS-Zentralcomputer gespeichert werden. Bislang werden die Unterlagen in der Regel auf Papier beim Zahnarzt verwahrt. Dementsprechend häufig kommt es vor, dass Patienten überflüssigerweise mehrfach geröntgt werden, vor allem dann, wenn der Patient die Praxis wechselt und seine Unterlagen nicht schnell genug von der alten zur neuen Praxis geschafft werden können. Das Gesundheitsministerium schätzt, dass überflüssige Diagnostik den Steuerzahler jährlich mehrere Millionen Pfund kostet.
Patienten erhalten außerdem die Möglichkeit, einen Termin beim Zahnarzt über die telefonische Hotline „NHS Direkt“ zu buchen. Das ist vor allem für solche NHS-Patienten interessant, die Probleme haben, in der Nähe ihres Wohnortes einen NHSZahnarzt zu finden. Der britische Zahnärztebund (British Dental Association, BDA) schätzt, dass landesweit zehntausende Patienten Schwierigkeiten haben, einen NHSZahnarzt zu finden (die zm berichteten).
Das Londoner Gesundheitsministerium hat inzwischen offenbar erkannt, dass der staatliche Zahnarztsektor einer Änderung bedarf. Landesweit fehlen tausende NHSZahnärzte. Schlechte Verdienstmöglichkeiten und skandalös schlechte Arbeitsbedingungen sowie miserable Materialien und Praxisausstattungen verderben die Freude am Beruf. Seitdem die konservative Regierung unter Premierminister John Major im Jahre 1992 die letzte große NHSReform startete, haben nach Schätzung der BMA rund 25 Prozent aller NHS-Kolleginnen und Kollegen dem Staatssektor den Rücken gekehrt, um Privatpatienten zu behandeln.
Die private Zahnmedizin boomt. In Städten wie London und Manchester gibt es heute hunderte Privatpraxen, die nur noch Privatpatienten behandeln. Kosmetische Behandlungen, wie das chemische Aufhellen von Zähnen (Bleaching), werden für die privat praktizierenden Kolleginnen und Kollegen immer wichtiger. Großbritannien folgt nach Einschätzung gesundheitspolitischer Beobachter in dieser Hinsicht immer mehr den USA, wo kosmetische zahnärztliche Behandlungen schon länger sehr beliebt sind.
Und: Immer mehr britische Patienten reisen für ihre aufwändigeren Behandlungen, wie Implantationen, ins europäische Ausland. Deutsche Zahnarztpraxen sind dabei besonders beliebt. Ein relativ hoher Wechselkurs des britischen Pfund Sterlings gegenüber dem Euro machen die Behandlung für die Briten relativ preiswert.
Das Londoner Gesundheitsministerium strebt an, die zahnärztliche Ausbildung um zwei Jahre zu verkürzen. Die „Dentistry Degree Courses“, die derzeit fünf Jahre dauern, sollen zukünftig nur noch drei Jahre betragen. So soll der Beruf für junge Hochschulabsolventen attraktiver gemacht werden. Doch diese Strategie ist innerhalb der Zahnärzteschaft umstritten, könnte sie doch leicht zu Lasten der Qualität gehen.
Die British Dental Association BDA beobachtet die Reformbestrebungen von Gesundheitsminister Alan Milburn mit Interesse. „Fest steht, dass das gegenwärtige System nicht funktioniert und dringend verändert werden muss“, so BDA-Chairman Dr. John Renshaw in London. „Das wird aber nur gelingen, wenn die Regierung bereit ist, mehr Geld in den staatlichen Zahnarztsektor zu stecken.“
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