Okklusion, Kiefergelenk und Wirbelsäule
Im Rahmen der Diagnostik und Therapie dysfunktionsbedingter Erkrankungen des Kauorgans wird zunehmend die funktionelle Abhängigkeit zwischen der Kopf- und Körperhaltung und der intermaxillären Kieferrelation und damit der okklusalen Abstützung der Mandibula gegenüber dem Schädel diskutiert und im therapeutischen Gesamtmanagement berücksichtigt.
Ob Erkrankungen oder Störungen im muskuloskelettalen Halteapparat, der sich im Wesentlichen aus der Wirbelsäule und den sie verzurrenden Ligamenten und Muskeln zusammensetzt, auch zu dysfunktionsbedingten Erkrankungen des Kauorgans führen können und vice versa, liegt auf Grund klinischer Beobachtungen und Erfahrungen nahe (Abbildungen 1 und 2 ). Auch eine kritische Bewertung der Literatur lässt durchaus den Schluss zu, dass es eine wechselseitige Beeinflussung von Dysfunktionen des Kauorgans und der Wirbelsäule gibt [Carrosa et al. 1993, Smith 1993, De Wijer et al. 1996, Dvorak und Walchli 1997, Sondermeier 2001].
Diese Abhängigkeit scheint aber in kraniokaudaler Richtung an Bedeutung zu verlieren. Je weiter kaudal die Störung im muskuloskelettalen Apparat liegt, desto geringfügiger sind vermutlich die Auswirkung auf das Kauorgan [Michelotti et al. 1999].
Aber nicht nur aus biomechanischer und muskelfunktioneller Sicht sind Abhängigkeiten zwischen der Wirbelsäule und dem Kauorgan offensichtlich. Gerade für den Bereich der Halswirbelsäule sind es vor allem die neuroanatomischen Verflechtungen, die für Störungen und Schmerzen im Kopf- und Gesichtsbereich bedeutsam sein können.
So können Nacken- und Stirnkopfschmerzen, vegetative Symptome, Schmerzen im Ausbreitungsgebiet des Nervus trigeminus, Störungen im Schluck- und Stimmbereich sowie Tinnitus in Zusammenhang mit der oberen Halswirbelsäule stehen [Wolff 1996]. Die hierfür verantwortlichen strukturellen und neurophysiologischen Verbindungen werden allerdings noch kontrovers diskutiert [Graf-Baumann und Lohse-Busch 1997].
Die aufrechte Körperhaltung
Die neuromuskuläre Regulation des aufrechten Stehens (Orthostasis) zielt im Wesentlichen darauf ab, den in Höhe von S1/S2 (Sakralgelenke 1 und 2)liegenden Schwerpunkt des Körpers über einer relativen kleinen Standfläche auszubalancieren.
Die Lotlinie verläuft in aufrechter Körperhaltung nahezu durch die Wirbelsäule, deren charakteristisch gekrümmte Form und funktionelle Eigenschaften einen bedeutsamen Einfluss auf die Körperhaltung ausüben. Durch die ligamentären und muskulären Strukturen ist sie so verflochten, dass sie die auftretenden Kräfte und Momente dynamisch kompensieren kann. Die auf den Körper einwirkende Schwerkraft wird so von der Wirbelsäule in Kompressions- und Biegekräfte umgewandelt und über das Becken auf die unteren Extremitäten übertragen.
Das Verhältnis von geringer Standfläche zur relativen großen Distanz des Körperschwerpunktes zur Basis bedingt ein labiles Gleichgewicht des Körpers, dessen Aufrechterhaltung eine fortwährende neuromuskuläre Steuerung erfordert. Als Folge resultieren charakteristische Körperschwankungen, die in ausgeprägten Fällen leicht visuell und messtechnisch präzise mit Hilfe der Posturographie erfasst werden können.
Elektromyographische Untersuchungen zeigen, dass die muskuläre Aktivität immer nur dann deutlich zunimmt, wenn die Körperschwankungen, die etwa allein durch das Atmen ausgelöst oder verstärkt werden können, die durch den Schwerpunkt des Körpers fallende Lotlinie an die Grenzen der Standfläche führen [Basmajian 1967]. Die Skelettmuskulatur versucht demzufolge die Orthostasis mit einem minimalen Energieaufwand aufrecht zu halten.
Bei dem durch die aufrechte Haltung bedingten labilen Kräftespiel können nach Steindler [1970] zwei Arten des Gleichgewichtes differenziert werden: Das innere Gleichgewicht wird durch die auftretenden Kräfte und Momente definiert, welche die Wirbelsäule als Träger verspannen und funktionstüchtig halten.
Jeder Wirbelkörper befindet sich zu seinem Nachbarn in einem Kräfte- und Drehmomente-Gleichgewicht.
Das äußere Gleichgewicht ist durch jene Kräfte gekennzeichnet, welche durch das Gewicht der verschiedenen Körpersegmente und durch die muskulären Verspannungen auf die gesamte Wirbelsäule wirken. Die jeweilige Haltung ist schließlich Ergebnis der Koordination des inneren und äußeren Gleichgewichtes.
Kraniales Endglied der Muskelkette
Da die Wirbelsäule im Becken verankert ist, liegt es nahe, dass Fehlhaltungen der Füße und Beine, welche zu einer Kippung des Beckens führen, neuromuskuläre Ausgleichsmechanismen im Bereich der Rumpfmuskulatur auslösen können. Diese haben primär zum Ziel, die Wirbelsäule gegen das schief stehende Becken zu korrigieren und aufgerichtet zu halten. Die damit verbundenen lokalen muskulären Hyperfunktionen können im Sinne von Kettenverspannung von kaudal nach kranial aufsteigen und in die Kaumuskulatur hineinwirken. Über das tatsächliche Ausmaß und die klinische Relevanz dieses Effektes auf das Kauorgan gibt es allerdings noch unterschiedliche Auffassungen.
Dass Tonusänderungen der Nackenmuskulatur in die Kau- und Halsmuskulatur hineinwirken und gegebenenfalls auch die Kieferrelation beeinflussen können, soll mit Abbildung 3 illustriert werden. In Bezug auf die Halswirbelsäule (HWS) steht die Nackenmuskulatur als dorsale Muskelkette der Kaumuskulatur sowie der supra- und infrahyoidalen Muskulatur als ventrale Muskelkette gegenüber. Das aufeinander abgestimmte Muskelspiel dieser Funktionsketten ermöglicht das gezielte Balancieren und Ausrichten des Kopfes auf der Wirbelsäule.
Klinisch kann dieser Zusammenhang eine besondere Bedeutung gewinnen, wenn bei bestehender HWS-Symptomatik (Nackenschmerzen, Bewegungseinschränkung des Kopfes) eine definitive Kieferrelationsbestimmung oder Okklusionskorrektur durchgeführt werden soll. Eine Dysfunktion der Wirbelsäule kann im Einzelfall über induzierte Tonusveränderungen des Kaumuskulatur zu ausgeprägten Veränderungen der Kieferrelation führen (Abbildung 4). Eine Fehlregistrierung oder okklusale Fehljustierung wäre dann die Folge.
Dieser Einfluss von Störungen aus dem Halswirbelsäulenbereich auf die physiologische Kieferrelation scheint zwar auf Grund einer klinisch-experimentellen Studie von Sondermeier [2001] nicht zwingend zu sein, doch muss auf Grund der klinischen Erfahrung vor definitiven okklusalen Maßnahmen bei bestehender HWS-Symptomatik gewarnt werden. Generell gilt ohnehin, dass definitive Kieferrelationsbestimmungen und okklusale Kontrollen sowie Korrekturen nur am beschwerdefreien Patienten durchgeführt werden sollten.
Die Mandibula als Spielball der Muskulatur
Abbildung 3 macht auch deutlich, dass die gleichsam in einer Muskelschlinge hängende Mandibula in ihrer räumlichen Ausrichtung zur Maxilla nicht nur vom Kräftespiel der Kaumuskulatur, sondern auch von der Aktion der supra- und infrahyoidalen, und über die Veränderung der Kopfhaltung auch von der Aktivität der Hals- und Nackenmuskulatur, abhängig ist.
Strenggenommen kann so jede lokale oder generelle Tonusänderung der Kau-, Halsund Nackenmuskulatur zu einer Veränderung der Kieferrelation führen. Auf die Tatsache, dass die Unterkieferlage auch von der Kopfhaltung abhängig ist, wies bereits 1925 Fabian hin. Die daraus resultierenden Veränderungen der okklusalen Kontaktpunktlage kann der Leser im Eigenversuch schnell nachvollziehen.
Dazu steht oder sitzt man aufrecht. Der Unterkiefer liegt in der Ruhelage, die (eigenen) Lippen berühren sich leicht und die Zähne haben keinen Kontakt. Aus dieser entspannten Unterkieferposition schließt man nun den Mund mit minimalem Kraftaufwand bis zum ersten Zahnkontakt. Wiederholt man dieses Vorgehen, nunmehr aber unter Veränderung der Kopfhaltung, werden die okklusalen Verschiebung sofort spürbar.
So resultiert aus einer Retroflexion des Kopfes über die Anspannung der Zungenbeinmuskulatur eine Retralverlagerung des Unterkiefers, die okklusalen Kontakte verlagern sich auf die Retrusionsfacetten, dies zumeist im Prämolarenbereich. Der gleiche Effekt tritt auf, wenn der Kopf nach anterior geschoben wird. Wird der Kopf nach vorne geneigt (Ventroflexion) oder nach hinten verschoben, verlagert sich der Unterkiefer nach anterior. Die okklusalen Kontakte wandern entsprechend aus der maximalen Interkuspidation auf die Protrusionsfacetten oder Inzisalflächen der Frontzähne.
Wird der Kopf zur Seite geneigt (Lateroflexion), verstärkt sich der okklusale Kontakt auf der Seite, zu welcher der Kopf geneigt wurde. (Cave: Kommt es zum Kontakt auf der Gegenseite, liegt ein Mediotrusionsvorkontakt (=Hyperbalance) vor). Wird der Kopf zur Seite gedreht (Rotation), verlagert sich der Kontakt in der Regel ebenfalls auf die Seite, zu welcher der Kopf gedreht wurde.
Je weiter der Unterkiefer durch eine veränderte Kopf- und Körperhaltung von seiner Neutralposition verschoben ist, desto mehr Muskelarbeit muss geleistet werden, um den Unterkiefer in die maximale Okklusion zu steuern und dort zu halten.
Es liegt nahe, dass dieser energetische Mehraufwand im Einzelfall myogene Beschwerden auslösen, unterhalten oder verstärken kann.
Okklusion und Kopfhaltung
Dass nicht nur die Kopfhaltung Einfluss auf die Kieferrelation ausübt, sondern okklusale Veränderungen insbesondere während anhaltender Pressphasen in maximaler Interkuspidation zu Veränderungen der Kopfhaltung führen können, ist in klinisch-experimentellen Studien belegt [Lotzmann et al. 1989, Rodrigues et al. 1990, Lotzmann 1991]. So ist bereits bei einer beidseitigen geringfügigen Reduktion der posterioren Stützzonen in willkürlichen okklusalen Pressphasen eine Retroflexion oder Vorverlagerung des Kopfes zu beobachten. Hingegen neigt/und oder dreht sich der Kopf bei einseitiger Infraokklusion in der Regel zur Seite der insuffizienten Seitenzahnabstützung (Abbildungen 5 und 6).
Auf Grund einer bilateral oder unilateral auftretenden Infraokklusion, wie sie leicht auch durch Zahnverlust, Attrition, Zahnkippungen, Absinken von Prothesensätteln, Überkonturieren von Palatinalflächen oberer Frontzähne, selektives Einschleifen oder Rekonstruktionen von Seitenzähnen in einer retralen Unterkieferposition verursacht werden kann (Abbildungen 7 und 8), kommt es beim Pressen in der maximalen Okklusion zu einer Hypervalenz der Retraktoren sowie erhöhter Anspannung der Nacken- und Rückenmuskulatur.
Andererseits kann eine protrusive Unterkieferlage, welche auch zur Entlastung komprimierter Kiefergelenkstrukturen (zum Beispiel: Repositions- oder Protrusionsschiene) oder im Rahmen der funktionskieferorthopädischen Behandlung gezielt eingestellt wird, unter Dehnung der Nackenmuskulatur zu einer Aufrichtung des Kopfes und Steilstellung der Halswirbelsäule führen.
Diese Veränderungen der Kopfhaltung können als Versuch des Organismus interpretiert werden, der Kaumuskulatur das Einnehmen und Halten des Unterkiefers in der maximal möglichen Okklusion kurzfristig zu erleichtern. Die durch Eingriffe in die Okklusion zu erwartenden Tonusänderungen der Hals-, Nacken- und Rückenmuskulatur gewinnen gerade vor dem Hintergrund der HWS-Symptomatik klinisch an Bedeutung, denn vorwiegend muskuläre Fehlfunktionen im Nacken- und Schulterbereich gelten als ein wesentlicher Faktor in der multikausalen Pathogenese der degenerativen HWS-Schädigungen. Im Vordergrund der klinischen Symptomatik steht vorwiegend der Spannungskopfschmerz, insbesondere der Hinterkopf-Nacken-Schmerz, gelegentlich auch Gleichgewichts- und Sehstörungen sowie Paresen und Hyposowie Hyperästhesien.
Klinisch auffällig ist, dass Patienten mit einoder beidseitigem posterioren Stützzonenverlust neben Schmerzen im Bereich der Kaumuskeln und/oder Kiefergelenke häufig auch ausgeprägte Muskelverspannungenund Druckdolenzen im Halswirbelsäulenund Schulterbereich aufweisen.
Ob okklusale Störungen in jedem Fall auch mittel- und langfristig zu einer permanenten Veränderung der Kopfhaltung und Schädigung der HWS führen, kann jedoch noch nicht abschließend beurteilt werden.
Unabhängig von der vom Behandler gewählten Technik zur Kieferrelationsbestimmung sowie der Lagerung des Patienten bei okklusalen Korrekturen, sollte die Qualität der maximalen Okklusion immer bei entspannter aufrechter Körper- und gerader Kopfhaltung geprüft werden. Dem Patienten muss es in dieser Referenzposition möglich sein, bei nahezu kraftlosem Anheben des Unterkiefers aus der Ruhelage sofort und reproduzierbar in eine stabile Okklusion zu gelangen (Abbildung 9).
Hinsichtlich der geraden Kopfhaltung orientiert man sich an der Frankfurter Horizontalen und der Bipupillarlinie. Es ist darauf zu achten, dass Patienten, die von lateral, aus der Sicht des normalerweise neben dem Patienten sitzenden Behandlers den Kopf scheinbar gerade halten, von frontal betrachtet durchaus eine geneigte Kopfhaltung haben können (Abbildung 10). Eine unter diesen Umständen scheinbar gleichmäßige Okklusion zeigt bei tatsächlich gerader Kopfhaltung häufig einen deutlichen Verlust der okklusalen Abstützung.
Bei der okklusalen Kontrolle ist auch zu beachten, dass der Patient beim Öffnen des Mundes in aller Regel als unterstützende Bewegung den Kopf nach retral neigt, um dann mit unnötig großer Kaukraft auf die Okklusionsfolie zu beißen (Abbildungen 11 bis 13). Bei einseitiger Okklusionskontrolle wird zudem meist die kontrollierte Seite unter asymmetrischer Aktivierung der Elevatoren stärker betont. Mit Okklusionskorrekturen, die darauf abzielen unter diesen Bedingungen simultanen Zahnkontakt zu erreichen, schafft man in Wirklichkeit einen iatrogenen Stützzonenverlust.
Okklusale Kontrollen sollten daher bevorzugt unter Zuhilfenahme von zwei Okklusionspinzetten bei gerader Kopfhaltung durchgeführt werden. Der Patient schließt bei jedem Markierungsvorgang jeweils nur einmal in seine muskulär geführte Okklusionsstellung (Abbildung 14).
Okklusion und Körperhaltung
Dass eine Infra- oder Supraokklusion zumindest kurzfristig, das heißt unter isometrischer Anspannung der Elevatoren bei Einnahme der maximal möglichen Okklusion zu einer Veränderung der Körperhaltungführen können, ist klinisch-experimentell belegt [Lotzmann und Steinberg 1993, Nobili und Adversi 1996] (Abbildungen 15 bis 17). Eine Verbesserung der okklusalen Abstützung sowie Normalisierung des Muskeltonus können im individuellen Fall zu einer deutlich sichtbaren Abnahme der Körperschwankungen führen.
Kurzzeitige okklusale Veränderungen zeigen hingegen keinen eindeutigen Einfluss auf die Becken- und Schulterstellung [Sato et al. 2000].
Letztlich fehlen noch verlässliche Hinweise über den Langzeiteinfluss einer gestörten Okklusion auf die Körperhaltung.
Therapeutisches Gesamtmanagement
Im Rahmen der klinischen Funktionsanalyse des Kauorgans erscheint es durchaus sinnvoll, die habituelle Körper- und Kopfhaltung des Patienten zu beurteilen und zudem eine Funktionsprüfung der HWS durchzuführen.
Hierbei sollte sich der in der Manualdiagnostik der Halswirbelsäule Unerfahrene allerdings auf die aktive Überprüfung der Kopfbeweglichkeit beschränken. Der Patient führt also selbständig folgende Kopfbewegungen aus:
Maximale Rotation nach rechts und links, maximales Neigen nach dorsal in den Nacken, maximales Neigen nach ventral auf die Brust, maximales Vor- und Zurückschieben sowie maximales Seitwärtsneigen nach rechts und links (Abbildungen 18 bis 20). Alle Bewegungen müssen schmerzfrei, symmetrisch und ohne Einschränkung auszuführen sein.
Passive, weiterreichende Untersuchungstechniken der Wirbelsäule, die unter Manipulation die Gewebestrukturen gezielt belasten, setzen profunde Kenntnisse, insbesondere bezüglich der Kontraindikationen dieser Belastungstests, voraus.
Bei Auffälligkeiten (fehlerhafte Kopf- und Körperhaltung, anamnestische und klinische Hinweise auf eine gestörte HWS-Funktion) sollte der Patient ohnehin an einen Orthopäden oder Physiotherapeuten (gegebenenfalls mit Zusatzbezeichnung „Manuelle Therapie“) zur weiteren kompetenten Abklärung und Abstimmung des therapeutischen Vorgehens überwiesen werden (Abbildung 21).
Eine gezielte Therapie erfordert im Einzelfall eine enge Zusammenarbeit von Orthopäde, Physiotherapeut und Zahnarzt.
Hierbei besteht die eigentliche Aufgabe des Zahnarztes darin, die Okklusion der sich aus einer Normalisierung der Muskelfunktion und einer Verbesserung der Körper- und Kopfhaltung ergebenden Änderung der Oberkiefer- und Unterkieferrelation anzupassen.
Die Effizienz und klinische Bedeutung physiotherapeutischer Maßnahmen zur Normalisierung des Muskeltonus und Mobilisierung von Gelenken ist unbestritten.
Es muss aber ausdrücklich davor gewarnt werden, Fehlhaltungen des Körpers voreilig und ohne strenge Indikationsstellung durch okklusale Veränderungen, das heißt durch eine Neueinstellung des Unterkiefers zum Oberkiefer, therapieren zu wollen (Abbildung 22). Jede Änderung der intermaxillären Relation ist streng genommen eine orthopädische Maßnahme, weil die Stellung von Körpergelenken verändert wird.
Die Entscheidung des orthopädisch-physiotherapeutischzahnmedizinischen Behandlerteams über die medizinische/zahnmedizinische Notwendigkeit einer Neueinstellung des Unterkiefers, etwa als flankierende Maßnahme zur Verbesserung der Körperund Kopfhaltung, setzen profunde diagnostische und therapeutische Kenntnisse und Fertigkeiten voraus. Unter anderem muss eine klare Vorstellung darüber bestehen, in welcher Stellung die Kondylen bei Einnahme der maximalen Interkuspidation stehen und um welchen Betrag und um welche Richtung die therapeutische Position hiervon abweicht. Ein anderer wesentlicher Aspekt ist die Mitarbeit des Patienten und die langfristige Prognose des initial erreichten Behandlungsergebnisses.
In diesem Zusammenhang muss auch betont werden, dass Okklusionsschienen, die gegebenenfalls vorwiegend aus orthopädischen Gründen über mehrere Monate zur Positionierung des Unterkiefers eingesetzt werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu strukturellen, zumeist irreversiblen Veränderungen im Kauorgan führen können. Für den Patienten bedeutet dies dann in der Regel den Verlust seiner habituellen, maximalen Interkuspidation. In der Konsequenz ist eine definitive Stabilisierung der Okklusion in der vermeintlich therapeutisch sinnvollen Position meist nur noch durch aufwändige kieferorthopädische und/oder prothetisch-restaurative Maßnahmen zu leisten. Über diese möglichen Konsequenzen muss der Patient vor Behandlungsbeginn aufgeklärt werden.
Ein häufig vernachlässigtes Problem, das mit der Ventralverlagerung des Unterkiefers einhergeht, ist der gegenüber einem gesunden Kiefergelenk deutlich vergrößerte retrusive Bewegungsbereich der Kondylen (Abbildungen 23 und 24). Unter physiologischen Bedingungen kann ein Kondylus aus seiner durch die maximale Okklusion definierten Position etwa einen Millimeter nach retral forciert werden. Bezogen auf die Kondylenstellung in maximaler Okklusion besteht also ein eng umschriebener Retrusionsbereich. Bewegt sich der Kondylus unter Zahnkontakt in diesen Bereich, so übernehmen in einer intakten Okklusion die Retrusionsfacetten der ersten Prämolaren die Führung und helfen Muskel aktivierende okklusale Interferenzen im posterioren Seitenzahnbereich zu vermeiden.
Mit der artifiziellen Vorverlagerung des Unterkiefers um beispielsweise drei Millimeter und anschließender Neueinstellung der maximalen Okklusion würde sich der nach retral gerichtete Bewegungsraum des Kondylus um den gleichen Betrag auf insgesamt vier Millimeter vergrößern. Es ist leicht ersichtlich, dass die Okklusion in diesem deutlich vergrößerten retralen Bereich nicht mehr im gewünschten Maße kontrollier- und korrigierbar ist. Erhöhte parafunktionelle Tätigkeit könnte als Folge nicht nur den Therapieerfolg ernsthaft in Frage stellen, sondern irreversible Schäden setzen.
Abschließend sei noch einmal nachdrücklich auf die wertvolle, im Praxisalltag leider häufig noch unterschätzte Bedeutung einer sachgerechten Physiotherapie, insbesondere der kraniozervikalen Region zur erfolgreichen Behandlung von Kaufunktionsstörungen, hingewiesen [Meyer und Lotzmann 1995, Bumann und Lotzmann 2001].
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Prof. Dr. Ulrich Lotzmann
Georg-Voigt-Str. 3
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