Spontaner Wachstumsverlauf eines Ameloblastoms über sechs Jahre
Kasuistik
Bei einem 27-jährigen Patienten wurden in der Vorgeschichte, von 1993 bis 1998, alio loco insgesamt vier Orthopantomogramm-Aufnahmen angefertigt und damit, unter Verkennung der Dignität des Befundes, der spontane Wachstumsverlauf eines Ameloblastoms im linken Kieferwinkel über einen Zeitraum von annähernd sechs Jahren radiologisch dokumentiert (Abb. 1 A-D) Die Ausdehnung der Osteolyse im OPG vergrößerte sich von vier mal zehn Millimetern in 1993 auf schließlich 42 mal 26 Millimeter in 1999. Die Wurzellänge der mesialen Radix 37 lag 1993, noch ohne Kontakt zum Ameloblastom bei 20 Millimetern (Apex bis Schmelz-Zement-Grenze), 1995 bei 16 Millimetern, 1998 bei 14 Millimetern und 1999 bei zehn Millimetern. Der Kanalis mandibularis wurde 1995 durch den Tumor bereits erreicht, erst in 1998 ist die Kompakta des Kanals weitgehend, in 1999 vollständig destruiert. In 1995 war alio loco eine „Zystostomie“ durchgeführt worden. Der zur histopathologischen Untersuchung eingesandte Gewebsanteil wurde zu dieser Zeit als parodontale Zyste befundet. Nach der Vorstellung des Patienten in der eigenen Klinik wurde umgehend eine erneute Biopsie veranlasst, diese führte schließlich zur Sicherung der Diagnose eines Ameloblastoms.
Therapeutisch erfolgte eine Unterkieferkontinuitätsresektion mit simultaner Beckenkamm-Ersatzosteoplastik. Nach der knöchernen Einheilung wurde der ersetze Unterkieferabschnitt zum Ausgleich eines resorptionsbedingten Defizits durch vertikale Kallusdistraktion mittels enossalen Distraktoren konturiert. Abgeschlossen wurde die prothetische Wiederherstellung mit einer implantatgetragenen Brücke von 34 bis 37.
Diskussion
Diese Falldarstellung zeigt zum einen die Wachstumsdynamik eines unbehandelten Ameloblastoms über viele Jahre und verdeutlicht zum anderen die Problematik einer histopathologischen Diagnosestellung aus einem nicht repräsentativen Untersuchungsmaterial. Andere typische Befundkonstellationen in diesem Sinne entstehen beispielsweise durch Biopsien aus der Randzone maligner Tumoren (histologisch eventuell nur Dysplasien und Entzündungszellinfiltrate) aber auch durch Biopsien aus primär inhomogenen pathologischen Läsionen (Aneurysmatische Knochenzysten, pleomorphe Adenome).
Im Zusammenhang mit einer partiellen Rückbildung des Befundes von 1/1995 bis 6/1995 nach „Zystostomie“ führte die vermeintliche histopathologische Absicherung im vorliegenden Fall zu einer längerfristigen Fehlinterpretation des Befundes und damit zur Verzögerung der Therapie. Zum Zeitpunkt der Resektion war das Ameloblastom bereits in die linguale Weichteilmanschette des Unterkiefers eingebrochen (Abb. 2). Für die zahnärztliche Praxis zeigt dieser Fall, dass auch eine histologisch vermeintlich „abgesicherte“ Diagnose dann hinterfragt und in Zweifel gezogen werden muss, wenn andere Untersuchungsergebnisse oder auch der klinische Verlauf durch die bisherige histologische Arbeitsdiagnose nicht zu erklären sind. Im vorliegenden Fall wiesen beispielsweise die Wurzelresorptionen auf ein lokal aggressives Wachstum hin. Gerade bei den klinisch und auch histopathologisch oft schwer differenzierbaren odontogenen Tumoren [Scholl et al. 1999, Phlippsen und Reichart 2002] sollte daher die vollständige Entfernung und Aufarbeitung des pathologischen Gewebes primäres Behandlungsziel sein.
PD Dr. Dr. Martin KunkelPD Dr. Dr. Torsten E. ReichertKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieJohannes-Gutenberg-UniversitätAugustusplatz 2, 55131 Mainz