Von Peinigern und Gepeinigten
Statt LokalanästhesieK.-o.-Hiebe für Häftlinge
Zahnarzt Xavier Riaud nähert sich in „La pratique dentaire dans les camps du IIIe Reich“ den Schicksalen seiner in die Konzentrationslager verschleppten Landsleute. Grundlage seines Buches sind die „Communications personnelles“ von zwölf Zahnärzten, fünf Ärzten und 26 Deportierten. Er versucht, ihr Sklavendasein in 30 „camps“ aufzuhellen. Weitere Unterlagen fand er in den Gedenkstätten Sachsenhausen; in Yad Vashem, Jerusalem; im Panstwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau; im Staatsarchiv Nürnberg; in unveröffentlichten privaten Aufzeichnungen, Nachlässen und in den Archiven der Résistance.
Es stellt sich wieder die Frage, warum auch aus französischer Sicht so spät der Versuch einer zusammenfassenden Darstellung kommt, zumal von einem Autor der jüngeren französischen Zahnärztegeneration, und warum Betroffene erst so spät reden. So spekulativ die Diskussion über Zeitabstand und Quellenqualität sein mag – der Einwand, persönliche Mitteilungen seien unsicherer als schriftliche Dokumente seinerzeitiger geschichtlicher Aktualität, sticht nicht. Nicht nur Psychiater und Seelsorger wissen, dass sich persönliche Erinnerungen so deutlich ins Gedächtnis graben können wie unverwischbare Menetekel. Riauds „pratique“ ist – wieder einmal – eine in siebenjähriger Recherche erarbeitete Chronik von auf den Kopf gestellten Möglichkeiten (un)menschlichen Verhaltens. Es gab tatsächlich eine „pratique“ beziehungsweise ein „cabinet de consultation“ in den Vernichtungs- und Arbeitslagern, die das Regime für die Häftlinge einrichten ließ, aber freilich nicht aus Menschenfreundlichkeit. Die Praxen und die Zahnärzte sollten so lange wie möglich die Arbeitskräfte erhalten, bis die Deportierten als „Muselmanen“ tot zusammenbrachen. Die Widersprüche waren grotesk: Die SS-Wachen legten Wert auf Behandlung durch die gefangenen Zahnärzte, denen die „pratique“ an den „Ariern“ außerhalb des Stacheldrahts streng verboten war.
Zahnärztliche Praxen waren auch begehrt als Druckposten, als Rettungsinseln mit einem Hauch Menschlichkeit zum Anknüpfen wenigstens minimaler Kontakte mit den „ärztlichen“ Peinigern, die sich fast durchweg „als Säufer, teilweise als Rauschgiftsüchtige, Sadisten, Schläger und Misshandler von Häftlingen“ erwiesen (S. 71). Etwa 100 deutsche Zahnärzte gaben sich für den „Dienst“ in den Lagern her, wo die „pratique“ auf infernalische Weise praktiziert wurde. „Experimentiert“ wurde etwa mit den abgeschnittenen Köpfen junger Zigeuner, mit hilflosen Häftlingen, denen man zur „Erforschung“ von Herderkrankungen sämtliche Zähne entfernte. K.-o.-Hiebe ersetzten die Anästhesie (S.181).
Deutsche Zahnärzte „arbeiteten“, ihre inhaftierten Kollegen, meist Osteuropäer, versuchten, für ihre Leidensgenossen eine Spur Humanität zu erhalten. Am schlimmsten wurde es in den letzten Kriegsjahren, als Mangelkrankheiten wüteten, Mundhöhlenkrebs, Hungerödeme, stomatitis ulcerosa und zu Gewebszerfall führende Krankheiten der Mundhöhle, denen die primitiv ausgerüsteten Praxen nicht mehr gewachsen waren. Zahngold und der aus Verzweiflung in der Mundhöhle versteckte Schmuck waren das Edelwild der Leichenräuber. Gold machte alle zu Mördern – Akademiker, Kalfaktoren und SS-Offiziere. Der Weg des auf entsetzlichste Art den Leichen und Lebendigen entzogenen Edelmetalls von der KZ-
Sammelstelle zur Reichsbank, Deutschen und Dresdener Bank, zur Degussa und schließlich zur Schweizer Nationalbank wird genau rekonstruiert. Dieses Raubgold war – neben den anderen jüdischen Plünderungsgütern – Zahlungsmittel der deutschen Rüstungsindustrie, mit dem Erz aus Schweden, Chrom aus der Türkei und Wolfram aus Portugal für die Luft- und Panzerwaffe finanziert wurden. Mit am Tisch dieses ekelhaften Geldkreislaufs saßen auch die Herren von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (IZB), in dessen Direktorium seit Kriegsbeginn auch US-Amerikaner, Schweizer und Briten. Die Sieger agierten kräftig mit, Geschäfte mit dem Feind hüben und drüben wurden gemacht, zu denen eine kriminelle Clique promovierter deutscher Doktoren die niedrigsten Dienste leistete. Es haben sich alle Herz und Hände schmutzig gemacht. Die genaue Menge des geraubten Zahngoldes wird nie exakt fassbar sein, weil zwischen Herausbrechen der Füllungen und Kronen und „praktischer“ Zahlungsanwendung Häftlinge, Ärzte, Zahnärzte, SS-Offiziere, Kuriere, Bankiers und Hehler unterschlugen, stahlen und beiseite schafften. ■
„Biologisch-alternative“ ZahnmedizinÜberfällige Aufräumarbeit
Eine überfällige ideologiegeschichtliche Aufräumarbeit packt Bettina Wündrich in ihrer Dissertation „’Biologische’ Zahnmedizin im Nationalsozialismus – Entwurf und Entwicklung einer ‚neuen deutschen Zahnheilkunde’ zwischen 1933 und 1945 und ihre Beziehung zur alternativ-ganzheitlichen Zahnmedizin von heute“ an. Die Repräsentanten und Autoren der „neuen deutschen Zahnheilkunde“ wie Erich Heinrich, Walther Klussmann, Otto Steiner und Paul Neuhäusser (letzterer noch weit bis in die siebziger Jahre Mitarbeiter in den zm) wandten sich als treue Jünger des NS-Chef-Ideologen Alfred Rosenberg gegen das „zersetzende“ und „Werte verkehrende Judentum“ und plädierten in hunderten von Artikeln, Kommentaren und anderen Veröffentlichungen in der Fachpresse für plattesten Biologismus, wie durch „konstitutionstherapeutische Aufartungsmaßnahmen“ (!) der Gebisszerfall aufzuhalten sei. Es war die Zeit der Vollkornbrot-Apostel und der „nationalsozialistischen Gesundheitsführer“, der Kräutertherapeuten und der Anwälte des „Ungekünstelten“ und „Naturverbundenen“, die auf „jahrhundertelang bewährte“ Volksheilmitel wie „Wasser, Licht, Luft, Erde, Elektrizität und Diät“ schworen und streng darauf achteten, dass die neuen Mitglieder „arischer Abstammung“ entsprachen.
Die Vertreter der „Zahnärztlichen Arbeitsgemeinschaft für medizinisch-biologische Heilweisen“ und ihre geistigen Kalfaktoren postulierten beispielsweise durch „biochemische“ Medikamente einen günstigen Einfluss auf die Dentinbildung und schämten sich nicht, in monatelangen Versuchsreihen wehrlosen Heimkindern mit Fräse und Meißel die bukkalen und lingualen Höcker wegzusprengen und im „Kampf um den Schutz kraftvoller Erbmasse“ den „Erfolg“ ihrer brutalen Quacksalbereien nachzuweisen. Die Ideologen und Anwälte derartiger Menschenversuche à la Dr. Josef Mengele nahmen nach 1945 (!) noch jahrzehntelang die Gelegenheit wahr, sich in der Fachpresse publizistisch zu äußern; sie wurden teilweise mit hohen Ehren bedacht und distanzierten sich zu keinem Zeitpunkt von ihren zwischen 1933 und 1945 präsentierten (pseudo)medizinischen und rassistischen Vorstellungen, geschweige denn drückten sie den Opfern ihrer Ideologie ihre Betroffenheit oder ihr Bedauern aus.
Auch in dieser Arbeit zeigt sich die seltsame Doppelrolle Hermann Eulers, der zwischen allen Schultern und Kräften genau Balance hielt, in diskreter Weise seine Neigung zum NSSystem durchblicken ließ und sich bereits 1933 mit anderen zahnmedizinischen Hochschullehrern in einer Art Ergebenheitserklärung den Gleichschaltungsbestrebungen der neuen Machthaber anschloss. Nicht nur das; durch die Aufnahme der „Zahnärztlichen Arbeitsgemeinschaft für medizinischbiologische Heilweisen“ in die DGZMK und durch seine Mitgliedschaft in dieser Organisation wertete er ihre Bedeutung stark auf. Die ideologischen Entwicklungsphasen dieser Richtung sind in den entsprechenden Ausgaben der zm und der anderen damaligen Fachzeitschriften genau nachzulesen. ■
Zahnmedizin in BreslauEin langer Weg zur Freiheit
Der deutsch-polnische Transplantationsmediziner und Chirurg Professor Dr. Waldemar Kozuschek rückt mit seiner Geschichte der Medizinischen Fakultäten der Universität Breslau (Wroclaw), die 2002 ihr 300-jähriges Bestehen feierte, die Leistungen dieser lange im Schatten der Trennung von Deutschland stehenden Bildungsstätte neu ins Licht.
Der prachtvoll ausgestatte doppelsprachige Band mit vielen informativen Fotos, Grund- und Aufrissen, zeichnet detailliert die zahlreichen Umstrukturierungen der Breslauer Zahnmedizin von ihrer Lemberger Tradition bis zur Gegenwart auf: Professor Antoni Cieszynski, am 4. Juli 1941 zusammen mit zehn anderen Kollegen von einem SSKommando erschossen, NS-Diktatur, sich mühsames Herausschälen aus mancherlei Druck und Beschattung in der Nachkriegs-Ära, bis zum 12. September 1989, als sich die ärztliche Selbstverwaltung in Form der Niederschlesischen Ärztekammer durchringen konnte. „Menschliche“ Demütigungen ergänzten politische Pressionen und Gewaltherrschaft, als ärztliche Kollegen 1945 bei der Disskussion über die Gründung einer zahnmedizinischen Fakultät meinten, Zahnärzte seien lediglich „halbgebildete Ärzte“. Vorsichtig deutet Kozuschek die Schatten an, unter denen Wissenschaft in Breslau auch im Kalten Krieg stand.
Deutsche Gelehrte haben sich in der Geschichte der Universität Breslau festgeschrieben: Da sind in erster Linie der sportiv und musikalisch begabte vielseitige Gründungsdirektor des dortigen zahnärztlichen Instituts Carl Partsch (1854-1932) und der nicht ganz unumstrittene Hermann Euler (1874-1961), Dekan der medizinischen Fakultät und DGZMK-Chef zur NS-Zeit. Kein Zweifel an dessen wissenschaftlichen Leistungen, aber über dessen politischem Weg zwischen allen Kräften stehen graue Schatten. Die Rolle seiner „Säuberungsarbeiten“ in den dreißiger Jahren ist bis heute nicht geklärt.
Dr. Ekkhard HäussermannGreifswalder Str. 950737 Köln