Prüfende Blicke von Patienten und Ärzten
Neun von zehn Bundesbürgern sind mindestens einmal jährlich beim Arzt. Und acht von ihnen suchen dabei ihren „Hausarzt“ auf, also den Mediziner, zu dem sie „gewöhnlich gehen, wenn sie krank sind oder einen ärztlichen Rat benötigen“. Bei Frauen ist die Frequenz der Konsultationen leicht höher als bei Männern – ab einem Alter von rund 55 Jahren steigt die generelle Häufigkeit von zwei bis drei auf bis zu zwölf Praxisbesuche.
Ob hierin aber bereits eine „Überversorgung“ zu erkennen ist, wie sie vom Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen konstatiert wurde, ist für den „Gesundheitsmonitor“ nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Die Datenlage ist schwierig, internationale Vergleichszahlen fehlen und auch Zeiträume und Intervalle von Hausarzt-Kontakten lassen sich kaum nebeneinander stellen oder gegeneinander abwägen. Jedoch zeige eine englische Patientenbefragung – der „NHS Patient Survey aus dem Jahr 1998“ – dass auch im Vereinigten Königreich mehr als 80 Prozent der Bevölkerung den Praktischen Arzt aufsuchen. Auch sei die Quote bei Frauen bis zu einem Alter von zirka 65 Jahren höher als bei Männern.
Interessant ist ein Blick auf die Anlässe und Gründe, die einen Patienten zu seiner Hausarztpraxis führen. Während akute und schwere Erkrankungen weniger als zehn Prozent der Behandlungen ausmachen, nehmen leichte oder chronische Erkrankungen, Vorsorgen oder Impfungen mit rund 70 Prozent den größten Teil ein. „Hier bestätigt sich die zum Allgemeinplatz gewordene Feststellung einer Strukturverschiebung innerhalb des Krankheitsspektrums“, so Waldemar Streich, Diplom-Soziologe an der Universität Bremen, welche den „Gesundheitsmonitor“ erstellt (siehe Kasten). Frauen unterscheiden sich lediglich geringfügig von Männern – sie erscheinen häufiger in der Praxis, weil sie sich unwohl fühlen, nicht schlafen können oder wegen allgemeiner „Befindlichkeitsstörungen“. Was bedeutet das aber für die Effizienz der ambulanten Versorgung?
Lotsen ohne Sonderstatus
Nach Ansicht des Sachverständigenrates leidet diese insbesondere darunter, dass bereits „bei unkomplizierten Erkrankungen“ Fachärzte in Anspruch genommen würden – was meist „unangemessen sei“. Dieses Patientenverhalten habe zur Folge, dass medizintechnische Leistungen in der Diagnostik übermäßig erbracht werden, ohne eine bessere Versorgungsqualität zu erreichen. Aus dieser Beobachtung resultiert auch die Forderung, die Rolle des Hausarztes zu stärken, so wie es das SGB V in § 73 fordert: Durch seine längerfristige Betreuung und intensivere Kenntnis eines Patienten kann er sich besser zwischen Diagnosemaßnahmen und Therapien entscheiden, „welche dem hohen Anteil unspezifischer Symptome und dem Ziel der Vermeidung von Medikalisierungen“ gerecht werden.
Zahnärzte seien hiervon allerdings ebenso auszunehmen wie Internisten, Frauenärzte oder Augenärzte. Ihnen ist, so Streich, aufgrund ihrer medizinischen Tätigkeiten ein „Sonderstatus“ einzuräumen. Anders verhielte sich das jedoch bei Hals-Nasen-Ohren-Ärzten, Orthopäden und Urologen. Dass direkte Facharztkontakte ohne Überweisung hier längst nicht immer zwingend oder medizinisch begründet seien, zeige sich etwa daran, dass ihr Anteil mit der sozialen Schichtzugehörigkeit der jeweiligen Patienten steige.
Ein Primärarztsystem – in dem der von Ulla Schmidt geforderte „Lotse“ die entscheidende Rolle spielt – könne auf die aktuelle Situation einen nicht unerheblichen Einfluss haben, wie Streich ausführt: Insgesamt suchten 44 Prozent aller befragten Patienten mindestens einmal jährlich den direkten Weg zu einem Spezialisten. Der Anteil derjenigen, die per Überweisung zum Facharzt gelangten, sei mit 37 Prozent deutlich geringer.
Wenn es um die Frage geht, wie Patienten die Qualität der medizinischen Versorgung im Allgemeinen und die Kompetenz ihrer jeweiligen Ärzte im Speziellen bewerten, so zeigt sich für Streich eine große Diskrepanz. Auf der einen Seite falle auf, dass viele von ihnen eine „Mangelhaftigkeit des Versorgungssystems“ konstatieren; die persönlichen Erfahrungen, die jeder einzelne Patient mit „seinem Arzt“ macht, korrespondieren allerdings kaum mit dieser Auffassung. Gleiches gilt übrigens auch für die Wahrnehmung der Zahnärzte, wie eine Allensbach-Umfrage im vergangenen Jahr zeigte (siehe zm 18/2002) – demnach sind es nur 13 Prozent der Bevölkerung, die „keine gute Meinung von den Zahnärzten“ haben. Zurück zu den Hausärzten: Während zwei Drittel der medizinischen Laien glauben, dass „die Qualität der einzelnen Ärzte und ärztlichen Einrichtungen“ zu unterschiedlich sei, sind mehr als 80 Prozent davon überzeugt, ihr Arzt sei bestens „über ihre gesundheitliche Entwicklung in den vergangenen Jahren beziehungsweise über ihre Krankengeschichte“ informiert. Nur rund fünf Prozent haben Zweifel an seiner ärztlichen Kompetenz. Für Streich ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dassauch die befragten Ärzte selbst zu 80 Prozent der Meinung sind, die Qualität der medizinischen Versorgung sei „sehr unterschiedlich“. Was aber sagt das wirklich aus? Für einen Patienten ist es schwierig bis unmöglich, seine Einschätzung der ärztlichen Kompetenz sachlich zu begründen. Meist spielen hier „weiche Faktoren“ eine Rolle, etwa das Kommunikationsverhalten des Arztes oder die Atmosphäre in der Praxis. Wie wichtig es für Patienten sei, dass ihnen ihr Behandler „zuhört“ und ihnen „das Gefühl vermittelt, ihre Meinung ernst zu nehmen“, zeige auch ein internationaler Vergleich: In der englischen Patientenbefragung von 1998 geben rund 80 Prozent an, dass dieser Eindruck für sie eine große Rolle spiele.
Vertrauen zum Zahnarzt
Das Vertrauen in die Qualität von Fachärzten ist beim Patienten generell größer als in die der Hausärzte; was speziell auch für Zahnärzte gelte. Es spiele eine zentrale Rolle, dass sich das Spektrum der Symptome, Befunde und Behandlungsmöglichkeiten deutlich von dem der Allgemeinmediziner unterscheide. Streich: „Modernes medizinisches Gerät vermittelt den Eindruck ärztlicher Kompetenz auf sehr viel greifbarere Weise, als ein Gespräch mit dem Arzt das jemals kann.“
Der „Gesundheitsmonitor“ stellt allerdings in Frage, ob „Patienten-Zufriedenheit“ ein „zuverlässiger und gültiger Maßstab“ sein kann, um die Qualität medizinischer Leistungen zu beurteilen. Urteile ein Patient positiv – sei er also mit seinem Arzt zufrieden – könne das auch daran liegen, dass er sich anderenfalls selbst als „Verlierer“ fühle. Er müsse sich seine eigene „Inkompetenz“ eingestehen, da er eine falsche Arztwahl getroffen hat, oder nicht genügend medizinisches Verständnis besitzt.
Patienten sind, so Streich, „nur beschränkt urteilsfähig, wenn es um die medizinischfachliche Qualität ihrer Behandlung geht“. Umso kompetenter seien sie allerdings darin, die „Qualität kommunikativer Aspekte des Arzt-Patienten-Verhältnisses“ zu beurteilen. Die Intensität und die Dauer der Gespräche zwischen Behandler und Behandeltem sei demnach „ein wichtiges Merkmal der Qualität in der ambulanten Versorgung“.
Wozu ein – wie auch immer sich darstellender – Dissens zwischen Patient und Arzt führen kann, sei klar: Zu einem generellen Misstrauen des Behandelten. Fast zwei Drittel aller vom „Gesundheitsmonitor“ befragten Patienten haben „schon einmal den Hausarzt gewechselt“, weil sie „mit dessen Behandlung nicht einverstanden“ waren. Diese Zahl erscheine zunächst einmal sehr hoch, es sei bei näherer Betrachtung allerdings fragwürdig, ob sich die Effizienz des deutschen Gesundheitssystems allein dadurch steigern lasse, indem die Wechselmöglichkeiten für Patienten beschränkt werden: „Keine noch so umfangreiche Vorinformation kann einen Patienten davor bewahren, mit den Behandlungsvorschlägen eines Arztes, aber auch mit seinem kommunikativen Verhalten, seinem emotionalen Engagement und dem Maß der entgegengebrachten Empathie einmal nicht zufrieden zu sein.“ Gegen „doctor hopping“ gibt es anscheinend kein Rezept.
Gemeinsam mit dem Bremer Soziologen Waldemar Streich haben sich Prof. Dr. David Klemperer von der Fachhochschule Regensburg und Dr. Martin Butzlaff von der Fakultät für Medizin an der Universität Witten/Herdecke der Frage gewidmet, welche Rollen Ärzte und Patienten bei Therapieentscheidungen spielen. Dabei habe sich herausgestellt: „Viele Patienten sind aufgeklärter und selbstbewusster geworden.“ Das „blinde Vertrauen“, welches früher dem Arzt entgegengebracht wurde, sei seltener geworden; mittlerweile werde eine „gemeinsame Entscheidungsfindung“ erwartet und gefordert, bei der die Ärzte als kompetente Berater der Patienten fungieren. Also: Partnerschaft statt Paternalismus.
Allerdings dürfe in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass gerade akut erkrankte Menschen – „in einem Zustand von Hilflosigkeit und Verunsicherung“ – einen Arzt benötigen, „der ihnen mit fachlicher Autorität und Empathie begegnet und der rasch und kompetent handelt“. Eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Behandler und Behandeltem käme daher vorwiegend im Bereich der chronischen Erkrankungen in Frage.
Auffällig ist, dass zwischen den Erwartungen der Patienten und den Einstellungen der Ärzte eine weitgehende Übereinstimmung zu der Frage herrscht, wie diese Beziehung aussehen sollte. Dass ein Patient das Recht haben sollte, wichtige medizinische Entscheidungen selbst zu treffen, oder aber zumindest nach einer Diskussion der verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten gemeinsam mit dem Arzt zu entscheiden, wird von rund 70 Prozent der Patienten und rund 80 Prozent der Ärzte befürwortet. Nur acht Prozent der befragten Mediziner lehnen dieses Vorgehen ab. Allerdings ist fast die Hälfte von ihnen der Auffassung, dass eine Entscheidungsbeteiligung „oft eine zusätzliche Belastung für den Patienten“ sei.
Im Großen und Ganzen korrespondieren die Wünsche und Vorstellungen anscheinend schon heute mit der Realität in deutschen Sprechzimmern. Aus Sicht der Patienten sind rund 70 Prozent aller Ärzte in der Lage, ihnen im Rahmen der Diagnose „alles verständlich zu erklären“. Auch würden die Hausärzte zu einem großen Teil die Fragen ihrer Patienten beantworten, Behandlungsalternativen vorschlagen und die individuellen Lebensumstände mit einbeziehen. Wenn es allerdings an die Therapieentscheidung geht, sieht die Sache schon anders aus: Nur in 30 bis 40 Prozent der Fälle werden die Patienten hier beteiligt – ein „ungenügender Anteil“, so das Urteil des „Gesundheitsmonitors“. Aber warum?
Patientenbeteiligung sei nicht nur „eine zunehmende medizinische Notwendigkeit“, sondern auch „erklärtes Interesse beider Seiten“. Allerdings sei das, was in der Theorie gewollt ist, bislang noch nicht konsequent in die Praxis umgesetzt. „Die relativ starke Verbreitung eines Dissenses in Behandlungsfragen gibt für sich allein betrachtet noch keinen Grund, am Funktionieren der Arzt-Patienten-Kommunikation zu zweifeln“, so die Autoren. Problematisch sei vielmehr, dass rund zehn Prozent der vom „Gesundheitsmonitor“ befragten Patienten es verschweigen, wenn sie einen Behandlungsvorschlag des Arztes eigentlich ablehnen. „Solche Vorgänge gefährden das notwendige Vertrauensverhältnis und letztlich den Behandlungserfolg“, meinen Streich, Klemperer und Butzlaff.
Doppelt gedoktert
Nach Beobachtung von Prof. Dr. Dieter Borgers vom Universitätsklinikum Düsseldorf werden aber auch durch Kommunikationsdefizite an anderer Stelle im Gesundheitssystem Ressourcen vergeudet. Gemeint sind Doppeluntersuchungen bei Behandlungen, an denen unterschiedliche Ärzte beteiligt sind. Rund ein Viertel der vom „Gesundheitsmonitor“ befragten Patienten war im zurückliegenden Jahr ambulant bei mehreren Ärzten in Behandlung; hiervon haben knapp 40 Prozent „eine Wiederholung von Untersuchungen erlebt“ – Blutentnahmen, Blutdruckmessungen oder Röntgenuntersuchungen. Zwei Drittel der Patienten sind zwar der Meinung, die Wiederholungen seien notwendig gewesen. Aber immerhin jeder Siebte ist sich sicher: Sie waren unnötig.
Da ein Patient die Notwendigkeit einer Wiederholungsuntersuchung in der Regel fachlich nicht beurteilen könne, müsse man fragen, wie er zu diesem Urteil kommt. Laut Borgers liegt ein möglicher Grund für diese Zweifel darin, dass Patienten „einen schlechten Eindruck von der kollegialen Kommunikation zwischen den behandelnden Ärzten“ haben.
Es stelle sich hier die Frage, ob die Verbesserung an den so genannten „Schnittstellen“ zwischen ambulanter und stationärer Behandlung zu einer Verbesserung der Versorgung führen könne. Eine rein technische Aufrüstung der Kommunikationsmöglichkeiten – beispielsweise per elektronischer Krankenakte – ist nach Ansicht des „Gesundheitsmonitors“ jedoch kein probates Mittel, um Mehrfachuntersuchungen zu drosseln. Denn wenn es sich hierbei um ein rein technisches Problem hielte, gäbe es heutzutage bereits genügend Möglichkeiten, um es aus dem Weg zu räumen – von Telefon über Fax bis zur E-Mail.
Wie sehr sich die Wahrnehmung von Patient und Arzt unterscheiden kann, zeigt sich an einem klaren Beispiel des „Gesundheitsmonitors“: Danach liegt aus Sicht der Krankenversicherten in Deutschland das derzeit größte Problem im Gesundheitswesen nicht in den Kosten, sondern in der unterschiedlichen Qualität der einzelnen Ärzte. Nach Ansicht der breiten Bevölkerung, so der „Gesundheitsmonitor“, müsse demnach eine Debatte um Qualität und Effizienz im Gesundheitswesen geführt werden, da die Kostendämpfungspolitik der vergangenen Jahre „allenfalls zu kurzfristigen Effekten geführt und damit ihre Glaubwürdigkeit verloren hat“.
Allen kleinen Unstimmigkeiten und Gegensätzlichkeiten zum Trotz: Es gibt nach wie vor einen breiten Konsens für das Solidarprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Rund 80 Prozent aller Befragten stimmen der Unterstützung älterer und kranker Menschen durch jüngere und gesunde uneingeschränkt zu; und zwar sowohl „Nutznießer“ als auch „Geber“. Die „solidarische Unterstützung kinderreicher Familien“ durch „kinderlose Singles“ wird von etwas mehr als 60 Prozent für gerecht gehalten. „Eine flächendeckende Einführung privater Risikovorsorge in der Krankenversicherung“, so der Tenor, „findet nur bei einer sehr kleinen Minderheit Zustimmung.“ Immerhin: Die Einführung von Grund- und Wahlleistungen stößt bei jedem Dritten auf Sympathie.
Und eines verschweigt der „Gesundheitsmonitor“ genauso wenig wie es die Zahnärzteschaft bereits seit längerem tut. Die „hektische“ und „intransparente“ Budget- und Kostendämpfungspolitik im Gesundheitswesen hat zu einem tiefen Misstrauen der Deutschen geführt: Zwischen 60 und 70 Prozent der Bevölkerung erwartet von ihr „nur Schlimmes“. Da wird’s wohl Zeit, dass auch die Politik ihren Blick endlich schärft.