Torschluss-Panik
Dr. Rudi Mews,
Freier Korrespondent in Berlin
Der oft beschworene mündige Patient ist überfordert. Sogar Experten schauen kaum durch. Die neuen Bestimmungen des nunmehr so genannten GKV-Modernisierungsgesetzes (das Kürzel GMG bleibt) verteilen sich auf fast 500 Seiten. Man tut Ärzten und Zahnärzten nicht Unrecht, wenn man vermutet, dass sie in der Mehrzahl das Konvolut noch nicht verinnerlicht haben, wenngleich es mit dem ersten Tag des kommenden Jahres Gesetz sein wird. Die Regelungen zum Zahnersatz, welche Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und CSU-Sozialexperte Horst Seehofer vereinbart haben, gelten jedoch frühestens ab Beginn 2005. Erst dann werden nach dem von Regierungsparteien und Unions-Opposition gemeinsam beschlossenen GMG Zahnersatzleistungen nicht mehr zum Leistungskatalog der Krankenkassen gehören. Dennoch berichten die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen über eine vermehrte Nachfrage nach Zahnersatz in den Praxen. Die Patienten wissen nicht, dass der Mitnahmeeffekt, den sie sich womöglich zu Nutze machen wollen, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht möglich ist. Der Zahnersatz wird im Gegenteil 2004 sogar billiger. Die Zahnärzte werden ab Neujahr 8,3 Prozent weniger für Zahnersatz liquidieren. Für die Patientin und den Patienten heißt dies, dass sie mit etwa vier Prozent weniger Eigenanteil rechnen können. Überdies ändern sich nach dem Gesetzestext auch 2005 die Honorare für zahnärztliche Leistungen nicht. Die Kosten für die Zahnersatzleistung sind dann jedoch zusätzlich durch den Patienten zu versichern. Aber erst für das übernächste Jahr. Einige Patienten haben schon jetzt Versicherungen über Zahnersatzleistungen abgeschlossen. Einmal angenommen, die Versicherungsagenten, die solche Verträge angeboten haben, waren nicht böswillig unfair, so ist ihnen der Vorwurf nicht zu ersparen, dass sie sich schlecht informiert haben.
Die entsprechende Aufklärungsarbeit fällt also dem behandelnden Zahnarzt zu, um unnötiger Panik entgegenzusteuern – ebenso seinen Kollegen Ärzten. Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung stellt großen Beratungsbedarf fest. Manche Patienten kommen schon jetzt mit einem Zehn-Euro-Schein zur Behandlung, um die Praxisgebühr zu entrichten. Andere wollen noch schnell in diesem Jahr Vorsorgeuntersuchungen absolvieren. Bei Vorsorgeuntersuchungen wird voraussichtlich aber gar keine Praxisgebühr fällig. Prävention ist nie verwerflich. Bedauerlich bleibt der mangelnde Informationsstand. Er ruft nach Aufklärung durch jene, welche die Verwirrung stiften.
Das GMG hatte noch nicht die parlamentarische Beratung hinter sich, als erneut die Diskussion um die künftige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung ausbrach: Kopfpauschale oder Bürgerversicherung? Zur Unzeit, denn darüber kann es frühestens in der nächsten Legislaturperiode ernst zu nehmende parlamentarische Beratungen geben. Alt-Bundespräsident Roman Herzogs Kommission zur Zukunft der Sozialen Sicherungssysteme ist für die Kopfpauschale, CDU-Chefin Angela Merkel hat sich die Herzog-Vorschläge zu eigen gemacht und bereits im CDU-Vorstand durchgesetzt, CSU-Sozialexperte Horst Seehofer ist für die Bürgerversicherung (wie viele Sozialdemokraten und Gewerkschafter sowie die Bündnisgrünen), CSU-Chef Edmund Stoiber ist gegen beides. Die Kopfpauschale nennt er unsozial und wird damit immer populärer.
Zur Verunsicherung dieses Reformherbstes tragen die weiteren Veränderungen bei, die binnen Kurzem ins Haus stehen: Steuern und Subventionsabbau, Renten und Hartz-Gesetze zur Arbeitslosenversicherung. Soll man froh sein, dass überhaupt Bewegung in den Reformstau kommt? Die bescheidene GMGReform zeichnet sich indessen durch stabile Vorläufigkeit aus. Horst Seehofer war der erste, der schon bei der Präsentation der Eckpunkte für das parteiübergreifende Werk sagte, es werde nur drei bis allenfalls fünf Jahre Bestand haben. Dann werden sich Patienten wie Zahnärzte und Ärzte in neue Regelwerke einzuarbeiten haben. Jetzt können sie schon mal üben. Mehr Verständlichkeit und damit Bürgerfreundlichkeit bei der Umsetzung politischer Kompromisse in ministerialbürokratische Bestimmungen wären dabei hilfreich.
Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.