Kassensturz
„Das Sparpaket wirkt!“ Unisono bestätigen Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), Barmer Ersatzkasse, Deutsche Angestelltenkrankenkasse (DAK) und Kaufmännische Krankenkasse (KKH) die Worte der Ministerin.
Die Zahlen sprechen auf den ersten Blick dafür: Die Kassen hätten im ersten Quartal 950 Millionen Euro
plus gemacht, gab das Bundesgesundheitsministerium bekannt.
Barmer-Vorstand Dr. Eckardt Fiedler erwartet für das Gesamtjahr einen Überschuss von 360 Millionen Euro, allein im ersten Quartal beliefe sich das Mehrgeschäft auf 160 Millionen. Ohne die Reform wäre die Kasse mit 500 Millionen Euro ins Minus gerutscht. Seit Januar, so Fiedler, seien die Einnahmen um 2,1 Prozent gestiegen, die Ausgaben für Arzneien, Krankengeld und Fahrtkosten zugleich um 0,8 Prozent rückläufig. Die AOK weist gar einen Quartalsgewinn von 370 Millionen aus.
„Die Gesundheitsreform hat eine spürbare Entlastung gebracht“, bescheinigt DAK-Chef Hansjoachim Fruschki. In den ersten drei Monaten habe die DAK ein Plus von 133 Millionen erwirtschaftet. Der KKHVorsitzende Ingo Kailuweit beziffert die Mehreinnahmen seiner Kasse für den Zeitraum auf immerhin 23,4 Millionen Euro.
Zum Jahreswechsel hatten DAK und KKH ihren Beitrag um 0,5 beziehungsweise 0,4 Prozentpunkte gekürzt, die Barmer zog zum 1. April mit 0,2 Punkten nach. Nichtsdestotrotz hinken die Großkassen Barmer und DAK mit 14,7 Prozent dem durchschnittlichen Kassensatz um 0,5 Punkte hinterher, mit 14,4 Prozent ist auch die KKH noch abgeschlagen.
Die Kassenmanager sind dennoch gutter Dinge: Die Reform schaffe weitere finanzielle Spielräume, zum Jahresende sollen die Beiträge deshalb erneut gesenkt werden.
Hopp oder top
Aber sieht die Kassenlage wirklich so rosig aus? Eine Focus-Umfrage kommt zu anderen Ergebnissen: Von 176 befragten Krankenkassen hält nur eine einzige die versprochenen Einsparungen für machbar. Die meisten Kassenchefs (57 Prozent) schätzen hingegen, dass sie die Kosten nur um ein Viertel dessen senken können. Die Vertreter der Krankenkassen warnen bereits davor, die Quartalszahlen auf das ganze Jahr hochzurechnen: Die Daten gelten als korrekturbedürftig, darüber hinaus seien die finanziellen Aussichten unabsehbar. 950 Millionen Euro Überschuss – die Zahl mag beeindrucken: Schwarze Zahlen schreibt die GKV aber noch lange nicht. Von den rund 280 Kassen stecken mehr als 100 in existenziellen finanziellen Schwiergkeiten.
Niedrigere Beiträge ja – doch nicht um jeden Preis, meldete sich unlängst das Bundesversicherungsamt (BVA) zu Wort. Die Behörde untersagte der Gmünder Ersatzkasse (GEK) in letzter Minute, ihre Beiträge von 13,9 auf 13,5 Prozent zu senken. Das Veto erfolgte nicht ohne Grund: Das Amt hat Zweifel an der Finanzlage der Kasse. „Unsere Zahlen sind seriös“, entgegnete GEKBoss Dieter Hebel, räumte aber ein, dass seine Kasse für das laufende Geschäft Überbrückungskredite benötige und die Rücklagen aufgebraucht seien. Während der Gmünder Haushaltsplan einen Überschuss von 100 Millionen Euro auswies, kamen die Prüfer umgekehrt auf einen Verlust von 97 Millionen Euro.
Leben auf Pump
Die GEK ist kein Einzelfall: Um die magischen Beitragszahlen zu erreichen, nahmen viele Versicherungen gigantische Kredite auf. Insgesamt stehen die Kassen mit über zehn Milliarden Euro in der Kreide – mehr als ein Fünftel davon entfällt auf die Betriebskrankenkassen (BKKn). „Die Schulden bei zahlreichen gesetzlichen Krankenversicherern sind zum Teil deutlich höher als prognostiziert“, sagte BVA-Mitarbeiter Andreas Pfohl der Welt am Sonntag (WamS). Es sei nicht auszuschließen, „dass das BVA im Einzelfall nicht nur Beitragssenkungen ablehnt, sondern auch eine Beitragserhöhung durchsetzt.“
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) prüfe überdies, ob die Banken überhaupt die erforderlichen Rückstellungen gebildet haben – sind doch die Kredite an die Kassen mangels beleihbarer Gegenstände durchweg nicht mit Grundpfandrechten abgesichert.
Schuld am Kostenkoller ist paradoxerweise die Reform selbst. Diese Meinung vertreten zumindest zahlreiche Experten. Praxisgebühr und Zuzahlungen – ursprünglich eingeführt, um die Geldschatullen wieder aufzufüllen – entpuppten sich zunehmend als Eigentor. Weil Patienten etliche Leistungen nun aus eigener Tasche zahlen müssen, erreichten sie die gesetzliche Belastungsgrenze umso schneller (zwei Prozent des Bruttojahreseinkommens, bei Chronikern ein Prozent) und würden von weiteren Zuzahlungen befreit.
„Wir kommen kaum noch mit dem Versand der Anträge auf Zuzahlungsbefreiung nach“, bekräftigt die AOK-Württemberg im Focus die Vermutungen. „Es steht zu befürchten, dass im Laufe des Jahres mehr Versicherte von allen Zuzahlungen befreit sind als im vergangenen Jahr“, prophezeit Erika Tilker von der BKK Dematic. Man habe die Ministerin gewarnt, die eingangs schärferen Kriterien aufzuweichen – „leider vergeblich“.
Hilfe im Don Quichote-Kampf gegen hohe Sätze erhielt Ulla Schmidt jüngst vom Landessozialgericht in Darmstadt. Die Richter stoppten den gemeinsamen Unterstützungsfonds der BKKn. Vor allem die starken BKKn sollten ihre finanziell angeknacksten Konkurrenten, wie die letztlich pleite gegangene BKK Heilberufe, unter die Arme greifen.
Doch ist der Fonds auch vom Tisch – die steigenden Einzahlungen in den Risikostrukturausgleich (RSA) bleiben bestehen. Jene belasten besonders die „Billigkassen“, die BKKn. Die einstigen Hechte im Karpfenteich konnten mit Dumping-Beiträgen viele Versicherte ködern. Doch die Kampfpreise erwiesen sich als Bumerang: Über den RSA mussten gerade sie das Gros ihrer Einnahmen wieder an andere Kassen abgeben.
Jenseits von Patzern und Strukturproblemen macht aber vor allem eins den Kassen zu schaffen: die flaue Konjunktur. Sie drücke die Beitragseinnahmen, so BVA-Präsident Rainer Daubenbüchel. Schwacher Trost: „Den Krankenkassen ergeht es nicht anders als dem Bundesfinanzminister.“