Ein unhaltbarer Zustand
„Eigentlich müsste man dem Gesetzgeber eine Schadensersatzrechnung machen“, schimpfte der amtierende Vorsitzende der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Jürgen Fedderwitz, gegenüber dem Berliner „Tagesspiegel“. Er verwies auf Planungs- und Personalkosten, die den Zahnärzten durch die politischen Vorgaben zur Umsetzung der Zahnersatz-Regelung entstanden seien. Und der Präsident der Bundeszahnärztekammer, Dr. Dr. Jürgen Weitkamp, reagierte mit Irritation und Unverständnis: „Wie soll man dazu stehen, wenn 90 Prozent aller Abgeordneten des Deutschen Bundestages einem Gesetz zugestimmt haben, von dem klar war, dass es einen Paradigmenwechsel herbeiführen werde, dann bei der Umsetzung aber wieder zurückzucken? Dieser fehlende politische Stil, die mangelnde Standfestigkeit, eine einmal getroffenen Entscheidung dann auch tatsächlich umzusetzen, müssen die Bürger zwangsläufig verunsichern.“
Neuer Gesetzesentwurf
Was ist passiert? Im Streit um die Neuregelung des Zahnersatzes hat Ulla Schmidt der Unionsfraktion einen neuen Gesetzentwurf für einen Verzicht auf die Zusatzversicherung für Zahnersatz vorgelegt. Die bei der Gesundheitsreform beschlossene Pauschalversicherung soll gestrichen werden, geht aus dem Entwurf hervor. Kronen, Brücken und Prothesen bleiben im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen. Die neue Regelung soll vom 1. Juli 2005 an, und damit ein halbes Jahr später als ursprünglich für die Pauschalprämie geplant, gelten. Die tatsächliche Zusatzbelastung für die Mitglieder der Kassen würde dadurch um 0,45 Prozentpunkte steigen.
Zusammen mit der Regelung für den Zahnersatz soll die Einführung eines in der Gesundheitsreform vorgesehenen „Sonderbeitrags“ für die Kassenmitglieder in Höhe von 0,5 Prozentpunkten um ein halbes Jahr auf Juli 2005 vorgezogen werden. Der bislang je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragene Krankenkassenbeitrag (derzeit durchschnittlich 14 Prozent) werde dadurch 2005 um 0,45 Punkte und 2006 um 0,9 Prozentpunkte sinken. Für Arbeitgeber und Rentenversicherungsträger wäre dies eine Entlastung um etwa 2,2 bis 4,5 Milliarden Euro jährlich. Die beitragszahlenden Versicherten würden entsprechend mehr belastet.
In der von SPD, CDU/CSU und Grünen gemeinsam beschlossenen Gesundheitsreform war seinerzeit vereinbart worden, die Arbeitgeber bei den Lohnnebenkosten zu entlasten. Dadurch werden sie künftig nicht mehr die Hälfte des individuellen Kassenbeitrages bezahlen, die Arbeitnehmer dagegen mehr als 50 Prozent.
Erreicht werden sollte dies durch den „ S o n d e r b e i - trag“ von 0,5 Prozentpunkten sowie durch die Herausnahme des Zahnersatzes aus der Versicherung. Für Zahnersatz sollten die Mitglieder einen obligatorischen Pauschalbeitrag ohne Arbeitgeberzuschuss bei einer Kasse ihrer Wahl bezahlen. Dies hatte die Union durchgesetzt.
Die Zahnersatz-Pauschale war jedoch als zu kompliziert, die Verwaltung als zu teuer kritisiert worden und von den Parteien vor einigen Tagen fallen gelassen worden.
Angela Merkel ist inzwischen auf Konfrontation gegangen. Die Unionsführung verständigte sich im Bundesvorstand darauf, die Pläne von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in Bundestag und Bundesrat zurückzuweisen und den Vermittlungsausschuss anzurufen. Zu einem Verständigungsversuch kann es dort aus Termingründen erst nach der bundespolitisch bedeutsamen Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen am 26. September kommen.
In der Unions-Führung herrschte große Verärgerung über das Verhalten der rot-grünen Bundesregierung. Rot-Grün habe den ursprünglichen Kompromiss systematisch torpediert. Für eine Verständigung außerhalb des parlamentarischen Verfahrens gebe es deshalb keinen Weg. Die Union hatte allerdings zuletzt selbst Abschied von der von ihr durchgesetzten Zahnersatz-Pauschale genommen.
Der neue Gesetzentwurf soll laut Medienberichterstattung in der 37. Kalenderwoche in den Bundestag eingebracht werden.
Kritik von allen Seiten
Die privaten Krankenversicherer hatten in den Diskussionen zuvor bereits die Pläne scharf attackiert. Es sei ein politischer Vertrauensbruch, wenn jetzt zu einkommensabhängigen Beiträgen zurückgekehrt werde statt den Zahnersatz wie in der Gesundheitsreform vereinbart aus dem GKV-Katalog auszugliedern. Die Arbeitgeber kritisierten den Zickzackkurs und forderten, das Gesetz wie ursprünglich geplant umzusetzen. Arbeitgeberpräsident Hundt erklärte, es müsse dabei bleiben, dass der Zahnersatz in voller Wirkung und schnellstens aus der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer herausgenommen werde. Die Krankenkassen warnten vor Verzögerungen. Solange es keine Änderung gebe, müssten sich die Kassen nach der bestehenden Rechtslage vorbereiten. Etliche Versicherte haben sich bereits für eine private Absicherung entschieden, es geistern unterschiedliche Zahlenangaben dazu durch die Presse. Die Rede ist mal von 80 000, mal von einer halben Million. Diese müssten auf Kulanzregelungen ihrer Versicherer hoffen. Aus Sicht des Bundesgesundheitsministeriums liege für diese Vertragsabschlüsse aber keine gesetzliche Grundlage vor, wie eine Sprecherin erklärte. Denn ursprünglich sollten die Kassen bis Oktober einen Vorschlag für eine einheitliche Pauschale unterbreiten. Man habe immer vor dem Abschluss vorschneller Verträge gewarnt.
Offener Streit in der Union
Unterdessen hatte es wegen des Zickzackkurses beim Zahnersatz einen offenen Streit zwischen dem CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer und dem CSU-Sozialexperten Horst Seehofer gegeben. Seehofer verwahrte sich im ZDF-Magazin „Frontal 21“ gegen Aussagen Meyers, sich nie kritisch zur Zahnersatzpauschale der Union geäußert zu haben: „Ich glaube, fast jeder hier in Deutschland weiß, dass ich von Anfang an gegen die Lösung des Zahnersatzes stand und dass ich mich dann loyal verhalten habe, als zu entschieden war.“ Er erinnerte daran, dass er während der Verhandlungen zum Zahnersatz im Sommer 2003 zwischenzeitlich zurückgetreten war.
Merkel versucht derweil, das vorläufige Scheitern ihres Pauschalen-Modells für die Zahnersatz-Versicherung der Regierung anzulasten. Insbesondere SPDChef Franz Müntefering sei nie Willens gewesen, diesen Teil des Gesundheitskompromisses umzusetzen.
Die ganze Idee von der Ausgliederung des Zahnersatzes sei doch nicht aus einer Bierlaune heraus entstanden, kommentiert der BZÄK-Präsident. Dahinter steht der überfällige Versuch, die verkrusteten Strukturen des Gesundheitssystems vorsichtig aufzubrechen und neue Formen solidarischer Finanzierung zu finden. Und ein Kommentar der FAZ (3.9.2004) bringt es auf den Punkt: „Das Tor zur kleinen Freiheit klappt wieder zu.“