Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
mehr Zeit für die Patienten? Heute ist das eher frommer Wunsch als realistische Einschätzung. Mit Sicherheit ist es innerhalb des Solidarsystems leichter daher gesagt als getan. Denn im GKV-Räderwerk aus immer neuen Gesetzen und Verordnungen, massiver Kontrolle, überbordender Bürokratie, ständigem Zwang zur Prüfung und Buchhalterei fällt das Zeitmanagement zu Gunsten der zentralen Aufgabe zahnärztlichen Tuns – des Heilens – immer schwerer. Sicher lässt sich durch pragmatischere Organisation die eine oder andere Minute abringen. Das ist im Praxisalltag bei den zu erwartenden Neuerungen aber eher Notwendigkeit zwecks Existenzerhaltung. Mehr leider nicht.
So aus berufsethischen Motiven hier Störgefühle oder gar Kopfschmerzen entstehen, wird meist zusätzliche – private – Zeit investiert, für die es unter den Prämissen des GKV-Systems so gut wie keinen Gegenwert gibt. Dem Patienten wird diese Zeit also geschenkt! Wer sich unter solchen Voraussetzungen eher an Berufung als an Beruf erinnert fühlt, liegt gar nicht so falsch. Vor diesem Hintergrund ist jede Form der Rationalisierung, die nicht der kostbaren Zeit mit dem Patienten abgespart werden muss, höchst willkommen.
Als einer der klassischen Bereiche in der Praxis versprach die EDV da seit jeher viel. Was allerdings gesamtgesellschaftlich Ende der 70er Jahre als Prophezeiung paradiesischer Zustände begann, hat sich bis heute als schnelllebige, aber nicht zwangsläufig Zeit sparende Alternative erwiesen. Von den vorhergesagten Protagonisten der Freizeitgesellschaft bewegen sich viele heute selbst noch nachts hektisch und gestresst über rund um die Uhr belebte Datenautobahnen. Wirklich ein Paradies?
Wohlgemerkt: Vieles war und ist hilfreich und auch aus den Praxen nicht mehr wegzudenken. Trotzdem: Die digitale Welt ist keine Heilserfahrung per se. Sie ist das Produkt dessen, was ihr als Idee und gedanklich konstruktiver Lösung zugrunde liegt. Wenn E-Mail den Brief ersetzt und das Mitteilungswesen inflationiert, stellt sich die Frage nach dem Sinn des uns Zugesandten. Wo Datenbanken Handarchive ablösen, droht weiter die Gefahr unberechtigter Nutzung vertraulichen Wissens. Wo eine umfangreich gestaltete elektronische Gesundheitskarte die herkömmliche Kassenkarte ersetzt, stellt sich natürlich die Frage nach dem Nutzen, nach Datenschutz, nach Kosten und – selbstredend – nach sinnhaftem Fortschritt. Pure Technik-Euphorie ist im fortgeschrittenen Zeitalter virtueller Welten längst nicht mehr zeitgemäß. Sinn und Zweck von elektronischen Neuerungen müssen kritisch hinterfragt werden.
Wir wissen: Manche Version freudig, weil ertragsgewaltig vermarkteter Hard- oder Software hat mit ihren Alpha-, Beta- oder Gamma-Versionen außer Kummer und Kosten wenig gebracht.
Für Abrechnungsprogramme, E-Karten und Co. muss deshalb gelten: Entscheidend sind die Dienstleistung, die Arbeitserleichterung, der qualitative Gewinn und auch die Zeitersparnis, die Elektronik uns Menschen verschafft. Nur daran lassen sich neue Projekte messen. Steht das in Zweifel – oder sind die Gefahren des Missbrauchs höher als bei herkömmlicher Arbeitsweise, bleibt es dabei: Der Patient muss im Mittelpunkt stehen, nicht die Ökonomie.
Mit freundlichem Gruß
Egbert Maibach-Nagelzm-Chefredakteur