Patient mit non-syndromaler Oligodontie
Die Anzahl der Zahnanlagen ist genetisch determiniert, Mutationen an zwei Genen (MSX1 und PAX9) konnten bislang als Ursache für die Zahnunterzahl nachgewiesen werden [Klein et al., 2005]. Der Vererbungsmechanismus wird als autosomal-dominant beschrieben [De Muynck et al., 2004]. Lokale Faktoren, die Schäden an einzelnen Zahnkeimen verursachen (Bestrahlung, Osteomyelitis, Traumata), führen zu „erworbener“ Hypodontie, können jedoch meist anamnestisch gut von den erblich bedingten Fällen abgegrenzt werden [Nunn et al., 2003].
Von Oligodontie spricht man beim Fehlen von sechs und mehr permanenten Zähnen (exklusive der Weisheitszähne) [Nunn et al., 2003]. In vielen der schwereren Fälle ist das Fehlen von Zähnen mit Syndromerkrankungen assoziiert [Lucas, 2000], zum Beispiel bei der ektodermalen Dysplasie [Paschos et al., 2004]. Aber auch nicht syndromgekoppelte Fälle werden beschrieben [Klein et al., 2005]. Die Zahnunterzahl stellt im Übrigen einen der häufigsten Polymorphismen beim Menschen dar. Das Milchgebiss ist davon insgesamt seltener (weniger als ein Prozent) betroffen als das permanente Gebiss (bis zu 6,5 Prozent) [Shashikiran et al., 2002]. Wenn allerdings Hypodontie im Milchgebiss auftritt, besteht auch ein höheres Risiko für das Fehlen von Zähnen im permanenten Gebiss [Whittington & Durward, 1996].
Daneben gibt es aber auch Fälle, wo das Milchgebiss nicht, das permanente Gebiss jedoch sehr stark betroffen ist [Schneider, 1990].
Bei Philipp handelt es sich offenbar um einen solchen Fall. Er wurde im Mai 2000 erstmals in unserer Klinik vorgestellt, weil bei dem damals neunjährigen Jungen die seitlichen Schneidezähne im Oberkiefer sowie 32 und 41 im Unterkiefer noch nicht gewechselt hatten. Das daraufhin von der behandelnden Zahnärztin angefertigte Orthopantomogramm (OPG) zeigte multiple Nichtanlagen permanenter Zähne (Abb. 1), was schließlich zur Überweisung führte.
Anamnese
Zunächst deutete bei Philipp bis auf eine etwas verzögerte Zahnung nichts auf die vorliegende ausgeprägte Oligodontie hin. Insbesondere leidet der Patient nicht unter einer der zahlreichen Syndromerkrankungen, für die Nichtanlagen von Zähnen symptomatisch sind (die bekanntesten sind neben der bereits erwähnten ektodermalen Dysplasie das Down-Syndrom [Mestrovic et al., 1998] sowie Spalten im Kiefer- und Gesichtsbereich [Shapira et al., 1999; Shapira et al., 2000]. Sollte der Oligodontie bei Philipp ein Syndrom zugrunde liegen, ist es zumindest klinisch unauffällig. Der Junge ist geistig und körperlich völlig normal entwickelt, alle Milchzähne waren angelegt. Die Familienanamnese ist ebenfalls unauffällig, sowohl bei den Eltern als auch beim älteren Bruder gab es weder Nichtanlagen von Zähnen noch morphologische Auffälligkeiten (Zapfenzähne).
Befund
Abbildung 2 zeigt den Gebissbefund zur Erstuntersuchung. Folgende permanente Zähne waren bereits durchgebrochen: 16, 11, 21, 26, 36, 31, 42, 46. Im Röntgenbild (Abb. 1) konnten noch die Zahnanlagen von 27 und 47 ausgemacht werden, die Anlage von 17 wurde erst im OPG vom Januar 2005 identifiziert (Abb. 3). Insgesamt sind also von 28 permanenten Zähnen 17 nicht angelegt. Auffällig ist, dass die Zahnanlagen beziehungsweise Fehlstellen weitgehend symmetrisch verteilt sind, was auch bei Fällen mit ektodermaler Dysplasie beobachtet worden ist [Paschos et al., 2004]. Der kieferorthopädische Befund weist die für Oligodontiepatienten typische Tief- und Distalbiss-Situation aus [Carter et al., 2003] (siehe auch Abb. 7 vom Februar 2005).
Kariöse Schäden waren bereits an den Zähnen 16, 26 und 46 festzustellen, die Zähne der ersten Dentition waren in einem insgesamt desolaten Zustand, die Mundhygiene unzureichend. Von den 16 noch im Mund befindlichen Milchzähnen waren sieben kariös und nur zwei konservierend versorgt. An den noch unversehrten Milchzähnen waren ausgedehnte Attritionen (Schliff-Facetten) festzustellen, es gab jedoch keine Hinweise auf generalisierte Strukturstörungen, die den starken Kariesbefall hätten erklären können. Die Zähne 64, 65 und 85 mussten infolge der kariösen Schäden und entzündlicher Resorptionen primär als nicht erhaltungswürdig eingestuft werden. Der Zahn 85 wurde aufgrund einer akuten apikalen Parodontitis bereits in der ersten Sitzung entfernt.
Interdisziplinäres Therapiekonzept
Im interdisziplinären Management der Behandlung solcher Patienten steht die Karies vorbeugende beziehungsweise kinderzahnärztlichrestaurative Versorgung grundsätzlich an erster Stelle [Nunn et al., 2003]. Das Therapiekonzept bei Philipp beinhaltete daher zunächst die konservierendchirurgische Versorgung des Wechselgebisses und anschließend die Einbeziehung der anderen zahnmedizinischen Fachdisziplinen, beginnend mit der Kieferorthopädie.
Im Einzelnen wurden geplant:
• Verbesserung der Mundhygiene im Individualprophylaxe (IP)-Programm
• Extraktion nicht erhaltungswürdiger Zähne (64, 65 und 85)
• konservierende Versorgung der Zähne 16, 26 und 46, Versiegelung von 36
• konservierende Versorgung von 55, Versorgung 54 mit einer konfektionierten Stahlkrone
• Umformung von 53, 52, 62, 63, 72, 81 (Aufbau mit Frasaco-Kronen) zur Verbesserung der Ästhetik im Frontzahnbereich
• parallel dazu die Vorstellung in der Kieferorthopädie und Prothetik.
Der Ablauf der Behandlung über den Zeitraum der letzten fünf Jahre (2000 bis 2005) ist in Tabelle 1 aufgelistet.
Falldiskussion
Vom Sanierungszustand her war der Gebissbefund bei Erstvorstellung zwar unschön, jedoch nicht ungewöhnlich im Patientengut unserer Klinik. Bedauerlicherweise war im konkreten Fall des neunjährigen Patienten die Vernachlässigung der Milchzähne problematischer als bei anderen Kindern. Immerhin ist es gelungen, die Zähne der ersten Dentition bis weit über ihre eigentliche Funktionsperiode hinaus zu erhalten und auch die Ästhetik in der Front durch Umformung der Milchzähne zu verbessern (Abb. 4 und 5), was im interdisziplinären Regime Teil der restaurativen Versorgung ist [Jepson et al., 2003]. Erschwerend kam bei Philipp allerdings hinzu, dass neben den Terminen für die Zahnumformungen gut zehn Behandlungssitzungen allein für die Kariestherapie benötigt wurden. Einige abgesagte Termine (insbesondere in den Jahren 2003 und 2004) und die nach wie vor unzureichende Mundhygiene (Quigley-Hein-Index: 1,1 im laufenden IPProgramm) bestätigen eine gewisse „Ermüdung“ des Patienten und seiner Eltern. Dies war auch ein Grund, warum sich die Hinzuziehung der übrigen Fachdisziplinen (Kieferorthopädie, Prothetik) zunächst verzögert hatte, da weitere (zum Beispiel kieferorthopädische) Interventionen nur in einer kariesresistenten Mundhöhle Sinn machen. Mittlerweile hat sich die Situation verbessert, Philipp befindet sich derzeit in kieferorthopädischer Betreuung und nimmt auch die Behandlungstermine in unserer Klinik ohne die Eltern war.
Im Prinzip muss für jeden „Oligodontie-Fall“ ein individuelles Therapiekonzept erarbeitet werden.
Im Prinzip muss für jeden „Oligodontie-Fall“ ein individuelles Therapiekonzept erarbeitet werden, da es in Abhängigkeit von der Anzahl fehlender Zähne viele Optionen für die Therapie gibt [Argyropoulos & Payne, 1988; Morgan & Howe, 2003; Morgan & Howe, 2004].
Naturgemäß kommt ein vollständiger Lückenschluss bei Philipp nicht in Frage, da insgesamt zu wenige permanente Zähne vorhanden sind. Im Rahmen der kieferorthopädischen Therapie ist vorgesehen, durch die gezielte Extraktion einzelner Milchmolaren die Verteilung der vorhandenen permanenten Zähne hinsichtlich der späteren prothetischen Versorgung zu optimieren. Darüber hinaus wäre bei Philipp in Vorbereitung einer späteren prothetischen Versorgung auch eine Behebung des tiefen Bisses (Abb. 6 und 7) wünschenswert. Allerdings kann sich die Bisshebung über Apparaturen mit frontalem Aufbiss gerade bei Patienten mit wenigen Zähnen als schwierig erweisen [Carter et al., 2003]. Grundsätzlich gilt, dass, je mehr Zähne fehlen, prothetisch-implantologische Behandlungsstrategien bereits im Jugendalter indiziert sein können [Morgan & Howe, 2003; Morgan & Howe, 2004]. Allerdings ist mit Implantaten im Jugendalter Vorsicht geboten, da sich diese wie ankylosierte Zähne verhalten [Westwood & Duncan, 1996]. Bislang sind bei dem Patienten jedoch Implantate oder der prothetische Ersatz der fehlenden Zähne entbehrlich, da seine mundgesundheitsbezogene Lebensqualität – gemessen mit der deutschen Version des „Oral Health Impact Profile“ (OHIP-G, [John et al., 2002]) – mit einem Score von 24 in etwa der eines Teilprothesenträgers mittleren Alters entspricht [John et al., 2003] und damit zumindest ein akzeptables Niveau bietet. Der Patient äußert derzeit selbst auch keinen Wunsch nach Veränderung seiner oralen Situation. Dies kann sich jedoch plötzlich ändern, wenn es aufgrund der im Röntgenbild bereits sichtbaren und fortgeschrittenen Resorptionen an den Milchzähnen (Abb. 3) zu Zahnverlusten in der Front kommt. Die Infraposition von 54 macht diese Gefahr ebenfalls deutlich (Abb. 8). Wir hoffen, bei Philipp bis ins Erwachsenenalter hinein ohne Implantate auszukommen. Diese lassen sich jedoch insbesondere bei schweren Oligodontieformen mit fehlenden Frontzähnen kaum vermeiden, wenn eine akzeptable Lebensqualität für die Patienten gewährleistet werden soll [Dhanrajani, 2002].
Konsequenzen für die Praxis
Vorgestellt wurde der Behandlungsverlauf bei einem neunjährigen Patienten mit einer schweren non-syndromalen Oligodontie über einen Zeitraum von fünf Jahren. Die Behandlung umfasste neben prophylaktischen insbesondere konservierend-chirurgische Maßnahmen. Naturgemäß fällt diese frühe Phase des interdisziplinären Therapiekonzepts der Zahnunterzahl in den kinderzahnärztlichen Bereich. Dabei ist die rechtzeitige Überweisung der Patienten in die spezialisierte Betreuung eine der Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie.
Priv.-Doz. Dr. Christian HirschMartin-Luther-Universität Halle-WittenbergSektion Präventive Zahnheilkundeund KinderzahnheilkundeHarz 42a, 06108 Halle/Saalechristian.hirsch@medizin.uni-halle.de