Minuspunkte für Tony Blair
Als kürzlich in der nordenglischen Stadt Scarborough eine neue NHS-Zahnärztin ihre Praxis eröffnete, bildeten sich lange Warteschlangen vor der Praxistür. Obwohl die Praxis erst um neun Uhr öffnete, warteten bereits um sechs Uhr morgens mehr als 300 Patienten auf den Bürgersteigen Scarboroughs in der Hoffnung, als Patient akzeptiert zu werden.
Um in Großbritannien von einem staatlichen Zahnarzt behandelt zu werden, muss sich der Patient zunächst in der jeweiligen Praxis als Stammpatient anmelden. Erst dann hat er Anspruch auf eine zahnmedizinische Versorgung durch den NHS. Allerdings gibt es in weiten Landesteilen mittlerweile große Versorgungslücken und Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich privat behandeln zu lassen.
In Scarborough, das zu den ärmsten Städten Großbritanniens zählt, fehlen seit Jahren mindestens zehn staatliche Zahnärzte. Viele Patienten können es sich finanziell nicht leisten, private Behandlungen durchführen zu lassen. Folge: Die lokale Gesundheitsverwaltung rekrutierte besagte niederländische Zahnärztin, um in der Stadt eine neue NHS-Praxis zu eröffnen. Binnen weniger Stunden waren die rund 1500 Einschreib-Plätze auf der Stammpatientenliste vergriffen. Jetzt bemüht sich die Gesundheitsverwaltung, im europäischen Ausland weitere Zahnärzte für die Arbeit im staatlichen Gesundheitswesen zu gewinnen. Bislang ohne Erfolg.
Wie ein Dritte-Welt-Land
„Die Zustände in Scarborough und anderswo lassen Großbritannien wie ein Dritte-Welt-Land aussehen“, kommentierte Dr. John Renshaw, Vorsitzender der BDA. „Die Szenen erinnern mich eher an die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Menschen für Brot und andere Lebensmittel Schlangen standen.“ Britische Zeitungen kommentierten: „Eine nationale Schande!“ (Evening Standard) und „Das Ende der staatlichen Zahnmedizin ist nah!“ (Daily Express).
Gesundheitsminister Dr. John Reid bemüht sich seit längerem darum, zusätzliche NHSZahnärzte im europäischen Ausland anzuwerben. Bereits 2003 gab das Londoner Gesundheitsministerium die Zielvorgabe, binnen Jahresfrist „mindestens 200“ neue Zahnärzte aus Deutschland und anderen EU-Staaten auf die Insel holen zu wollen. Ein Sprecher des Ministeriums in London war auf Anfrage der zm nicht in der Lage, zu sagen, ob die 200 Zahnärzte zwischenzeitlich gefunden wurden. Die BDA bezweifelt das. Wie ernst die Versorgungslage inzwischen ist, zeigt das Beispiel Hampshire (Süd-Ost- England). Obwohl Hampshire zu den wohlhabendsten Gegenden des Königreichs zählt, gelingt es den lokalen Gesundheitsverwaltungen nicht, eine flächendeckende zahnmedizinische Versorgung durch den NHS bereit zu stellen. Laut BDA gibt es in der Grafschaft heute 279 Zahnarztpraxen. Lediglich 43 dieser Praxen behandeln noch Staatspatienten. Die restlichen Praxen haben sich ausschließlich auf Privatpatienten spezialisiert.
In der Hauptstadt London behandelt heute lediglich jede dritte Zahnarztpraxis NHSPatienten. In London gibt es derzeit rund 1 100 Praxen. Noch prekärer ist die Situation in der Grafschaft West Sussex. Dort weigern sich 180 von insgesamt 184 Zahnarztpraxen, neue NHS-Patienten anzunehmen. Folge: Patienten müssen privat für ihre Behandlung bezahlen. Wer sich das finanziell nicht leisten kann, geht nicht länger zum Zahnarzt.
Zahlen des Londoner Gesundheitsministeriums zeigen, dass landesweit täglich 57 NHS-Patienten von einem Zahnarzt abgewiesen werden. Das bedeutet, dass jeder elfte britische Patient heute keinen Staatszahnarzt mehr findet. Das Londoner Gesundheitsministerium hält es außerdem für zumutbar, dass NHS-Patienten Anfahrtswege von bis zu 75 Kilometern in Kauf nehmen, um in den Genuss staatlicher Zahnmedizin zu kommen. Die offizielle Definition einer „Zahnarztpraxis im Wohnumkreis des Patienten“ lautet: „maximal 50 Meilen“ (mehr als 70 Kilometer). Für ältere Patienten und Patienten ohne Auto ist das eine Utopie.
Negative Schlagzeilen
Die britischen Medien berichten seit Monaten mit negativen Schlagzeilen über die Misere. Meinungsumfragen zeigen, dass der Mangel an NHS-Zahnärzten die Regierung Blair viele Sympathien kostet. Regierungschef Tony Blair plant dem Vernehmen nach für Mai 2005 eine Unterhauswahl. Gesundheitspolitische Beobachter in Westminster sind sich einig, dass die schlechte zahnmedizinische Versorgung die Regierung viele Stimmen kosten wird.
Immer mehr frustrierte NHS-Patienten entscheiden sich für eine Behandlung im europäischen Ausland. Laut BDA lassen sich inzwischen „Tausende“ Briten in Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland behandeln. Zumeist zahlt der Patient dies aus der eigenen Tasche.
Kürzlich sorgte ein 60-jähriger Verwaltungsbeamter von der Isle of Wight für Schlagzeilen, weil er für Zahnarztpatienten aus ganz Großbritannien Reisen nach Frankreich organisiert. Einziger Zweck dieser regelmäßig mit der Fähre von Portsmouth nach Cherbourg stattfindenden Reisen: ein Zahnarztbesuch in Frankreich. „Nachdem ich jahrelang vergeblich versucht habe, in Großbritannien einen NHSZahnarzt zu finden, habe ich mich entschieden, Patientenreisen nach Frankreich zu organisieren“, berichtet Bernard Buckle. „In Frankreich gibt es genug Zahnärzte. Die Versorgungsqualität ist gut und die Preise günstiger als in Großbritannien.“ Der 60- Jährige lebte zwei Jahre in Frankreich. Während dieser Zeit merkte er, dass französische Privat-Zahnärzte für ihre Dienstleistungen deutlich weniger berechnen als ihre britischen Kollegen.
Zahnärztliche Berufsverbände im Königreich beobachten die Entwicklung mit Sorge, äußern aber gleichzeitig Verständnis für reisewillige Patienten. Freilich: „Ziel der Gesundheitspolitiker muss es bleiben, den maroden NHS wieder leistungsfähig zu machen“, so die BDA. Interessant: Der BDAVerband auf der Isle of Wight unterstützt die Patientenreisen nach Frankreich und erteilt reisebereiten Patienten sogar Ratschläge, was beim Besuch einer französischen Zahnarztpraxis zu berücksichtigen sei.
Deutschland ist als Reiseland für zahnmedizinische Touristen ebenfalls deutlich beliebter geworden. Vor allem wenn es um aufwändigere Behandlungen wie Implantate geht, entscheiden sich immer mehr NHSPatienten für einen Trip nach Deutschland. Implantologen in bekannten deutschen Kliniken wie der Uniklinik Göttingen verzeichnen seit einiger Zeit deutlich stärkeres Interesse von britischen Patienten.
Private Zahnmedizin boomt
Unterdessen boomt in Großbritannien die private Zahnmedizin. In den Innenstädten gibt es mittlerweile hunderte private Zahnarztpraxen mit wohlklingenden Namen wie „Bright White“ (strahlend weiß) oder „Perfect Smile“. Diese Praxen behandeln ausschließlich Privatpatienten. Mehrfach wies die BDA auf die Unterschiede sowohl beim Leistungsangebot als auch bei den Preisen hin. So kostet eine Wurzelkanalfüllung in einer Privatpraxis im Londoner Edel-Stadtteil Chelsea durchschnittlich 573 Pfund (mehr als 700 Euro). In Ascot außerhalb Londons ist dieselbe Wurzelkanalfüllung dagegen für durchschnittlich 125 Pfund (rund 190 Euro) zu haben. Bei anderen Behandlungen bestehen ähnliche Preisunterschiede. Der Verbraucherverband (Consumers Association, CA) rät Patienten zu aufmerksamen Preisvergleichen.
Gesundheitspolitische Beobachter prophezeien inzwischen das Ende staatlicher Zahnmedizin. Die für den Patienten kostenlose zahnmedizinische Versorgung durch den Staat wurde in Großbritannien 1948 eingeführt. 1951 wurden allerdings bereits die ersten Patientenselbstbeteiligungen an den Kosten eingeführt. Bis heute brauchen werdende Mütter, Kinder, Jugendliche und Arbeitslose nichts für den Zahnarztbesuch zu bezahlen. Auch hier gilt allerdings: Wenn es keinen NHS-Zahnarzt gibt, dann bleibt der Patient zumeist unversorgt. 82 Prozent der Bevölkerung müssen heute auch für eine NHS-Behandlung einen Eigenanteil leisten. Laut Gesundheitsministerium bezahlen britische NHS-Patienten heute jährlich rund 500 Millionen Pfund (750 Millionen Euro) für ihre zahnärztliche Versorgung durch den NHS. Tendenz: weiter steigend.
Ungerechtes Honorarsystem
Innerhalb der Zahnärzteschaft wächst die Unzufriedenheit mit der Situation. Das ist laut BDA der wichtigste Grund, warum immer mehr NHS-Zahnärzte dem staatlichen System den Rücken kehren, um stattdessen privat zu praktizieren. Wichtigster Grund für die Unzufriedenheit ist das von den Kolleginnen und Kollegen als ungerecht empfundene Honorarsystem.
NHS-Zahnärzte werden in der Regel pro erbrachter Leistung bezahlt. Für einen Check-up gibt es 6,85 Pfund (rund zehn Euro), die Entfernung von Zahnstein wird vom NHS mit 10,80 Pfund (rund 15,60 Euro) honoriert. Eine einfache Füllung schlägt mit 7,30 Pfund (elf Euro) zu Buche. Insgesamt listet der Arbeitsvertrag für NHS-Zahnärzte rund 400 Einzelleistungen. Die jüngsten Versuche von Gesundheitsminister Dr. John Reid, das Honorarsystem zu reformieren, stoßen innerhalb der britischen Zahnärzteschaft auf erheblichen Widerstand. Seit Monaten verhandeln die Berufsverbände mit dem Gesundheitsministerium über die Reformen – bislang ergebnislos.
Ziel der Reform ist es, das bisherige „Fee per Item“-Honorarsystem abzuschaffen und durch eine Art Festgehaltsystem zu ersetzen. Die BDA lehnt das ab. Mitte Januar verließ die BDA-Verhandlungsdelegation abermals aus Protest den Verhandlungstisch. Trotzdem hält der Gesundheitsminister an seinem Vorhaben fest, das neue System „spätestens im April 2006“ einführen zu wollen. Gesundheitspolitische Beobachter wollen einen landesweiten Zahnärztestreik nicht länger ausschließen.
Arndt StrieglerGrove House, 32 Vauxhall GroveGB-London SW 8 1SY