Gastkommentar

Reform-Illusionen

Bis Ende dieses Jahres muss der Bund die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherung sichern. 2006 kassiert die Sozialversicherung dreizehn Monatsbeiträge, was deren Liquidität bis 2007 gewährleistet. Dann wird jedoch die nächste Rentenreform fällig.

Walter Kannengießer
Sozialpolitik-Journalist

Die Nachricht hat überrascht: Die Beitragseinnahmen der Rentenversicherung (RV) sind im Juli um 1,5 Prozent hinter denen des Juli 2004 zurückgeblieben. Die Rentenversicherung hatte gehofft, im laufenden Jahr wenigstens ein bescheidenes Plus von 0,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu erzielen. Damit ist nicht mehr zu rechnen. Der Bund kommt in die Pflicht: Er muss seine Zuschüsse früher zahlen und der RV mit Krediten helfen. Nur so können die Renten bis zum Jahresende pünktlich gezahlt werden. Also: Rente auf Pump. Von 2006 an müssen die Arbeitgeber ihre Beiträge etwa zwei Wochen früher zahlen. Das bringt einmalig 20 Milliarden Euro zusätzliche Liquidität in die Sozialkassen; den Unternehmen wird sie entzogen. Die Politik gewinnt etwas Zeit.

Es mehren sich die Stimmen, die dafür plädieren, das heutige, durch einkommensbezogene Beiträge finanzierte System durch ein steuerfinanziertes Grundrentensystem zu ersetzen. Vor allem Kurt Biedenkopf streitet wieder dafür. Er will den Parteien und Bürgern die Illusionen nehmen. Andere streben eine möglichst mit Beiträgen finanzierte Grundsicherung an; auf diesem Weg sind wir schon. Die einen wollen also weg vom heutigen System, die anderen wollen es durch Reformen demographiefest machen. Die Befürworter eines Grundrentensystems machen es sich recht leicht und verschweigen die Probleme, die auch mit diesem Rentenmodell verbunden sind. Die Grundrente müsste, um akzeptiert zu werden, über dem Niveau der Sozialhilfe liegen. Die heutigen Renten, die in ihrem Realwert stetig sinken, können aber nicht beliebig gekürzt werden. Und auch die mit hohen Beiträgen erworbenen Anwartschaften lassen sich allenfalls im Zeitablauf abschmelzen. Fazit: Die Grundrente brächte vielen Kleinrentnern mehr; die Kosten für die höheren Renten würden nur allmählich sinken. Das neue Rentensystem brächte für mehr als ein Jahrzehnt eine gewaltige zusätzliche Belastung.

Biedenkopf will, wie er kürzlich wieder sagte, sein Rentensystem durch die Erhöhung der direkten und indirekten Steuern finanzieren. Das passt nicht zu den Bemühungen, neben den Arbeitskosten möglichst auch die Steuern zu senken. Die Rentenausgaben werden heute zu knapp zwei Dritteln durch Beitragsumlagen gedeckt; die Grundrente wäre allein aus Steuerumlagen zu finanzieren. Das demographische Problem würde damit nur wenig entschärft. Dagegen nähme die Umverteilung über die Steuerprogression noch zu. Die ergänzende kapitalbildende Vorsorge würde nicht überflüssig, sondern noch dringlicher. Beispiele anderer Ländern zeigen, dass Grundrentensysteme in der Regel durch obligatorische gesetzliche oder tarifliche Rentensysteme flankiert werden, an deren Finanzierung die Arbeitgeber beteiligt sind. Den berufständischen Versorgungswerken fiele in einem solchen System allenfalls noch die Funktion der ergänzenden Alterssicherung zu. Die Renten folgen heute den Löhnen, Grundrenten müssen der Preisentwicklung Rechnung tragen. Darüber entscheidet die Politik. Die Lohndynamik würde durch eine Wahldynamik ersetzt.

Es bleibt nichts anderes übrig, als das Rentenniveau bei steigendem Lebensalter weiter abzuschmelzen, Wachstum zu mobilisieren, die Zahl der Erwerbstätigen zu vergrößern, die Lebensarbeitszeit zu verlängern und noch stärker die ergänzende kapitalbildende Vorsorge zu fördern. Wenig hilfreich sind dagegen die Vorschläge namhafter Ökonomen, die Löhne stärker zu erhöhen, um mehr Geld in die Sozialkassen zu bringen, oder schon mittelfristig die Rente mit 70 einzuführen, so lange nicht einmal die schrittweise Erhöhung der Altersgrenze nach 2010 auf 67 Jahre durchzusetzen ist.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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