Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
wochenlang schafften es Deutschlands Großkoalitionäre, sich in der breiten Öffentlichkeit mit immer neuen Spargerüchten, Machtquerelen, Ankündigungen oder Rückziehern im politischen Rampenlicht in Szene zu setzen.
Und dafür, dass Deutschlands Wähler den großen Parteien eigentlich eine Lehre erteilen wollten, fielen die ersten Reaktionen um das Für und Wider der allseits erwarteten „Gürtel-enger-Politik“ erstaunlich besonnen aus.
Offensichtlich sind die Bürger, denen die Politiker nachsagen, dass sie nicht die nötige Einsicht für wirkliche Einschnitte haben, doch viel vernünftiger und bereitwilliger für schmerzliche, aber zukunftsweisende Veränderungen, als es die Kanzlerin und ihre Kompanie bisher erwartet hatten.
Zum Zeitpunkt, wo das mehr als 150 Seiten starke Vertragswerk unter Dach und Fach ist, macht sich allerdings wieder einmal der in den letzten Jahren fast schon obligatorische Frust breit.
Also doch wieder das „Sparen ja – aber bitte nicht bei mir“, das die Politik so mutlos agieren, ihre Schritte letztendlich aber immer wieder selbstgefällig rechtfertigen lässt?
Nein, mit dieser Ansicht griffe man zu kurz. Denn bekanntlich nimmt derjenige bereitwillig Durststrecken auf sich, der weiß, dass man sich gemeinsam auf den Weg zur rettenden Quelle macht. Das, was sich SPD und CDU/CSU ins gemeinsame Programm geschrieben haben, lässt aber nicht vermuten, dass es in Deutschland jetzt mit großen Schritten voran gehen wird. Logischerweise macht das unmutig. Nicht nur die Fachleute, deren geschärfter Blick die Politik des Hinhaltens vielleicht schneller erkennt, sondern auch diejenigen, deren Geldbeutel arg strapaziert wird, ohne dass sich strukturell etwas zum Guten wendet.
Das Manko bleibt: Wieder einmal wird nur oberflächlich renoviert. Trotz großer Risse im maroden Mauerwerk reicht die Geduld wieder einmal nur für ein bisschen Farbe und neue Tapeten.
Angela Merkel wird in den nächsten Monaten immer wieder dafür einstehen müssen, dass die Versprechungen, im kommenden Jahr Lösungen für die eklatanten Probleme in der Sozialpolitik zu finden, auch eingelöst werden. Das wäre richtig verstandene Richtlinienkompetenz.
Leicht wird sie es nicht haben. Im Gesundheitswesen hat die alte und neue Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bereits gezeigt, dass ihre Ansprüche, sozialdemokratische Politik in der rot-schwarzen Koalition umzusetzen, auch wenn sie so nicht im Koalitionsvertrag fixiert sind, ausgesprochen hoch gesteckt sind.
Ulla Schmidts auch von der avisierten Kanzlerin mit Befremdung aufgenommene strategische Spitze gegen private Krankenkassen und Heilberufler hat – gut im Machtvakuum vor der Kanzlerwahl plaziert – vielleicht zum ersten Mal klar gemacht, wie tief die Gräben, wie fragil die Brücken in der Berliner Koalition doch sind, die von schwarz nach rot gebaut wurden.
Mit freundlichem Gruß
Egbert Maibach-Nagelzm-Chefredakteur