Identifizierung und Betreuung von Kindern mit hohem Kariesrisiko\r
1. Einleitung
Bundesweite repräsentative Untersuchungen haben in den zurückliegenden 15 Jahren einerseits einen deutlichen Kariesrückgang bei Kindern und Jugendlichen, andererseits aber auch eine statistische Linksverschiebung der Kariesverteilung gezeigt. Dieses Phänomen beschreibt die Tatsache, dass einer großen Population von primär zahngesunden Kindern eine kleine Gruppe mit einer hohen Kariesprävalenz gegenübersteht. Man spricht in diesem Zusammenhang von Kindern mit hohem Kariesrisiko. Es ist naheliegend, dass ein zahnmedizinisches und gesundheitspolitisches Ziel der zukünftigen Jahre darin bestehen muss, die Kariesprävalenz dieser Risikogruppe zu senken, ohne dabei die auf die Gesamtpopulation bezogenen Maßnahmen zu vernachlässigen. In Anerkennung dieser Tatsache hat der Gesetzgeber die Entwicklung spezifischer Programme für Kinder mit besonders hohem Kariesrisiko im Rahmen der Gruppenprophylaxe gefordert [1].
2. Zielstellung
Ziel der vorliegenden Studien war die Entwicklung von Verfahren zur Identifizierung und Betreuung von Kindern mit hohem Kariesrisiko. Die Verfolgung dieses Ziels erfolgte in vier Stufen:
1.Entwicklung einer Möglichkeit zur Identifizierung von Kindern mit hohem Kariesrisiko im Rahmen der Gruppenprophylaxe
2.Entwicklung von Präventionsprogrammen für Kinder mit hohem Kariesrisiko und Überprüfung ihrer Effektivität
3.Prüfung, ob die geplanten Programme die Zielgruppe tatsächlich erreichen können
4.Untersuchung der Übertragbarkeit des Konzeptes auf große Populationen
3. Kinder mit hohem Kariesrisiko
Um Kariesrisikokinder im Rahmen der Gruppenprophylaxe zu identifizieren, bedarf es eines Verfahrens, das ein Kariesrisikoscreening im Rahmen schulzahnärztlicher Reihenuntersuchungen ermöglicht. Verschiedene Parameter, die prinzipiell für eine Einschätzung des Kariesrisikos in Frage kamen, wurden im Rahmen einer prospektiven Studie auf ihre Zuverlässigkeit hin untersucht. Diese Parameter waren
•Speichelbelastungmit Mutans-Streptokokken (Dentocult SM), Laktobazillen (Dentocult LB), Fließrate und Pufferkapazität des Speichels (Dentobuff)
•Initialläsionenan bleibenden Zähnen (D1,2) – an Glattflächen: weiße oder brauneVerfärbung ohne Einbruchder Oberfläche – in Fissuren: braune bis schwarze Verfärbung ohne Einbruch der Oberfläche
•Plaque-Indexnach Quigley und Hein (QHI) [2]
•Papillen-Blutungs-Indexnach Saxer und Mühlemann (PBI) [3]
•pH-Wertan einer plaquebedeckten Schmelzoberfläche nach Stimulation mit zehnprozentiger Saccharoselösung (Invivo-Messung mit Iridium-Oxid Microtouch-Elektrode). Hierzu erfolgten jeweils an einer Approximalfläche zunächst zwei Messungen des Ruhe-pH und anschließend wurde über eine Gesamtdauer von 34 Minuten (min) in Abständen zwischen zwei und fünf Minuten der pH-Wert der Plaque nach Stimulation mit der Saccharoselösung gemessen. Insgesamt wurden auf diese Weise zehn Messpunkte registriert (t1 bis t10). Zur statistischen Analyse wurde aus den beiden ersten Messpunkten (t1, t2) der Mittelwert als Ausgangsmesspunkt errechnet. Der Mittelwert vom dritten bis fünften Messwert (t3 bis t5) diente als Bezugsgröße. Die Differenz zwischen beiden Werten entsprach dem individuellen relativen pH-Abfall. Die Dauer der Messung bis zum 5. Messpunkt betrug 9 min. Abbildung 1 zeigt eine typische Messkurve.
•Fluoridanamnese
Im Rahmen der Fluoridanamnese mussten die Begleiter der Probanden sechs Fragen zur Verwendung fluoridhaltiger Produkte beantworten. Daraus wurde ein Summenscore gebildet. Details sind bei Zimmer et al. nachzulesen [4].
Zur Ermittlung ihrer Aussagekraft im Rahmen der Kariesrisikobestimmung wurden die erhobenen Parameter in Bezug zu dem in dem nachfolgenden Einjahreszeitraum eingetretenen Karieszuwachs gesetzt.
Dies geschah mithilfe einer Diskriminanzanalyse. Bei Einbeziehung mehrerer möglicher Prädiktoren wurde eine schrittweise Diskriminanzanalyse (Wilks-Lamba-Methode) durchgeführt. Als Eintrittsschwelle wurde ein F--Wert (Fisher-Koeffizient) von drei und zum Ausschluss ein F--Wert von zwei festgelegt. Als Risikokinder wurden diejenigen betrachtet, die pro Jahr mehr als eine neue kariöse Fläche entwickelten (³D3,4MFS/Jahr > 1). Die Klassifizierung der Probanden erfolgte nach realem Risiko (entsprechend dem a posteriori ermittelten Karieszuwachs) und nach Vorhersage im Test. Berechnet wurden die Parameter Sensitivität und Spezifität.
Im Rahmen der multifaktoriellen Diskriminanzanalyse wurden die folgenden möglichen Prädiktoren simultan analysiert: Ergebnisse der Speicheltets, Anzahl der Initialläsionen, Mundhygieneindizes (PBI und QH-Index), pH-Abfall und Ergebnisse der Fluoridanamnese. Dabei zeigte sich, dass neben der Vorhersagekraft der Initialläsionen alle anderen analysierten Prädiktoren unwichtig wurden und nicht zu einer verbesserten Validität führten. Aufgrund der jeweils festgestellten Initialläsionen konnten Kinder mit niedrigem Risiko mit einer Wahrscheinlichkeit von 82,8 Prozent richtig klassifiziert werden (Spezifität). Für Kinder mit hohem Risiko lag der entsprechende Wert bei 83,3 Prozent (Sensitivität). Die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Kind richtig zugeordnet wurde, lag bei 82,9 Prozent. Damit wurden die Anforderungen, die an einen zuverlässigen Test gestellt werden, erfüllt. In den vorliegenden Untersuchungen wies der Parameter „Initialläsionen“ in Bezug auf die Bestimmung des Kariesrisikos die mit Abstand stärkste Validität auf. Da dies in Bezug auf die für die Gruppenprophylaxe relevante Altersklasse auch das Ergebnis der Arbeitsgruppe von Professor Marthaler aus Zürich war, wurde in Kooperation mit diesem ein „Kariesrisikoschieber” entwickelt, der für sechs- bis zwölfjährige Kinder eine einfache und sichere Bestimmung des Kariesrisikos zulässt (Abbildung 2). Er erlaubt mit hoher Validität (Sensitivität und Spezifität jeweils über 80 Prozent) eine einfache, preisgünstige und schnelle Kariesrisikobestimmung bei sechs- bis zwölfjährigen Kindern und wird mittlerweile durch die Firma GABA auch als kostenloses PC-Programm zur Verfügung gestellt (http://www.gaba-dent.de/dental_profi/ kariesrisikotest.html).
Schlussfolgerung
Die Ermittlung von Kariesrisikokindern ist mithilfe von Initiälläsionen möglich, welche wegen ihrer Remineralisierbarkeit als nondestruktive Parameter zu betrachten sind. In der praktischen Umsetzung ist der Kariesrisikoschieber ein Hilfsmittel, das die Bestimmung von Kariesrisikokindern schnell, kostengünstig und mit hoher Validität erlaubt.
4. Betreuung von Kindern mit hohem Kariesrisiko
In der Betreuung von Risikogruppen sind zwei grundsätzlich verschiedene Strategien möglich. Die eine verfolgt das Ziel, Kinder mit erhöhtem Kariesrisiko in Screeninguntersuchungen zu identifizieren und individuell an Zahnarztpraxen zur intensiven prophylaktischen Betreuung zu überweisen [5]. Dieses System ist mit dem Problem behaftet, dass diese Kinder, die nicht selten aus sozial schwierigen Verhältnissen stammen, entgegen der Empfehlung des Schulzahnarztes oft keinem Zahnarzt vorgestellt werden [5]. Die Alternativstrategie besteht darin, ganze Risikoeinrichtungen aufsuchend zu betreuen. Dieses Konzept erteilt einer individuellen Identifizierung und Betreuung von Kariesrisikokindern eine Absage. Es hat zwar den Nachteil, dass die medizintechnische Ausstattung einer Zahnarztpraxis nicht für die Intensivprophylaxe genutzt werden kann, andererseits hat es jedoch den Vorteil, dass die Zielgruppe grundsätzlich vollständig von der Intensivprophylaxe erreicht werden kann. Darüber hinaus ist dieses System der aufsuchenden Betreuung wesentlich kostengünstiger, da es weniger personal- und technikintensiv ist. Die nachfolgend in Kürze beschriebenen Arbeiten bewerten diese unterschiedlichen Ansätze zunächst nach ihrer Effektivität, um dann die Fragen nach der Erreichbarkeit der Zielgruppe sowie der Umsetzung auf große Populationen zu beantworten.
4.1. Effektivität eines individualisierten Programms zur Betreuung von Kariesrisikokindern
Teilnehmer des Programms waren 419 repräsentativ bestimmte Schulkinder mit erhöhtem Kariesrisiko aus den Berliner Bezirken Wedding, Neukölln und Steglitz. Sie wurden randomisiert auf eine Test- und eine Kontrollgruppe verteilt. 318 Probanden nahmen an der Abschlussuntersuchung nach zwei Jahren teil, 187 in der Test- und 131 in der Kontrollgruppe. Die Kinder der Testgruppe nahmen alle drei Monate an einem für die Individualprophylaxe typischen Prophylaxeprogramm mit folgendem Inhalt teil:
• Anfärben der Plaque mit einem Plaquerelevator
• Motivierung und Instruktion zur Mundhygiene
• Ernährungsempfehlungen
• Empfehlungen zum Gebrauch von Fluorid
• Überwachtes Zähneputzen
• Professionelle Zahnreinigung mit Gummikelch und rotierender Bürste unter Verwendung einer fluoridhaltigen Polierpaste; Reinigung aller Zahnzwischenräume mit Zahnseide
• Applikation eines Fluoridlackes (Fluor-Protector mit 0,1 Prozent Fluorid als Fluorsilan, Vivadent, Schaan, Liechtenstein).
Die Kinder der Testgruppe wurden instruiert, mindestens eine Stunde lang nach dem Auftragen des Fluoridlackes nicht zu essen. Die Kinder der Kontrollgruppe erhielten einmal jährlich eine Motivierung und Instruktion zur Mundhygiene und nahmen an einem überwachten Zähneputzen teil. Alle Prophylaxesitzungen wurden von einer Zahnmedizinischen Prophylaxeassistentin (ZMP) abgehalten.
In Test- und Kontrollgruppe wurden jährlich ein kariologischer Befund sowie die Mundhygieneindizes PBI [3] und QHI in der Modifikation nach Turesky et al. [6] erhoben. Die Untersuchungen fanden auf einer zahnärztlichen Behandlungseinheit unter Verwendung von Spiegel, Sonde und Untersuchungsleuchte statt. Es wurden keine Röntgenaufnahmen gemacht.
Zum Zeitpunkt der Abschlussuntersuchung nach zwei Jahren waren die Kinder im Durchschnitt 11,8 (Testgruppe) beziehungsweise 11,7 Jahre (Kontrollgruppe) alt. Die mittlere Beobachtungszeit betrug 2,23 Jahre in der Test- und 2,14 Jahre in der Kontrollgruppe. Die Abbildung 3 zeigt die Kariesprävalenz (D3,4MFS) zur Eingangsund Abschlussuntersuchung für die Testund Kontrollgruppe sowie den Zuwachs zwischen beiden Untersuchungen. Weder in der Eingangs-, noch der Abschlussuntersuchung wurde ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen gefunden. Bezogen auf etablierte Läsionen (Kavitäten) war das Programm also nicht effektiv.
Schlussfolgerungen
Aus der Zweijahresstudie kann geschlossen werden, dass es mit dem dargestellten Programm zumindest mittelfristig nicht möglich ist, die Entwicklung etablierter kariöser Läsionen bei Kindern mit hohem Kariesrisiko einzuschränken. Die vier pro Jahr durchgeführten Prophylaxesitzungen verursachen unter Praxisbedingungen Kosten von zirka 200 Euro/Jahr. Zusammenfassend ist das Programm unter Berücksichtigung von Effektivität und Kosten für eine Betreuung von Kindern mit hohem Kariesrisiko nicht als geeignet einzuschätzen. Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung ist daher ein Präventionsprogramm, in dem anstelle des hier eingesetzten Fluoridlackes mit nur 0,1 Prozent Fluorid als Fluorsilan ein hoch konzentriertes Präparat mit 2,26 Prozent Fluorid als Natriumfluorid Anwendung findet.
4.2. Effektivität eines Programms zur aufsuchenden Betreuung von Kariesrisikokindern
Im Stadtteil Linden/Limmer von Hannover wurde im Rahmen der Gruppenprophylaxe in zunächst zwei und ein Jahr später in drei Grundschulen regelmäßig ein hoch konzentrierter Fluoridlack (Duraphat, Colgate, Hamburg) appliziert. In Sozialberichten wird dieser Stadtteil als sozialer Brennpunkt beschrieben [7, 8]. Die Applikation des Fluoridlacks wurde vierteljährlich angeboten und erfolgte in den Räumen der jeweiligen Schule. Insgesamt gibt es in dem betreffenden Stadtteil sechs Grundschulen, von denen drei nicht in das Programm einbezogen wurden und als Kontrollgruppe dienten. Die soziodemografischen Rahmendaten aller sechs Grundschulen waren ebenso vergleichbar wie die Kariesprävalenz ihrer Schüler [7, 8]. Die Kinder in Test- und Kontrollgruppe nahmen einmal im Jahr an einer Gesundheitserziehung teil. Diese umfasste eine Mundhygieneinstruktion, überwachtes Zähneputzen und Ernährungshinweise. Unmittelbar im Anschluss an die Eingangsuntersuchung startete das Fluoridierungsprogramm. In einer Schule konnte aus organisatorischen Gründen allerdings erst ein Jahr später begonnen werden. Von den in allen sechs Grundschulen insgesamt gemeldeten 392 Erstklässlern konnten 361 untersucht werden. Von diesen nahmen vier Jahre später noch 269 an der Abschlussuntersuchung teil. Vor Beginn des Fluoridierungsprogrammes und zu Beginn jedes Schuljahres wurden die Eltern der Kinder aus den Testschulen schriftlich um ihre Zustimmung zur Teilnahme gebeten. Die Einverständniserklärung wurde zusammen mit einem Informationsbrief den Kindern ausgehändigt. Das Verfahren wurde wiederholt, wenn kein Rücklauf erfolgte. Im Durchschnitt lag die Zustimmung pro Jahr zwischen 71 und 83 Prozent. Jeder Fluoridanwendung ging ein überwachtes Zähneputzen voraus. Die Applikation des Fluoridlacks Duraphat erfolgte nach relativer Trockenlegung mit einem Zellstoffspatel mithilfe eines Wattestäbchens. Berechnet über den gesamten Studienverlauf wurden pro Kind durchschnittlich 0,65 ml Duraphat benötigt. Das entspricht einer Fluoridmenge von rund 15 mg. Im ersten Studienjahr wurde die Fluoridapplikation viermal jährlich durchgeführt, musste jedoch ein Jahr später aufgrund mangelnder Ressourcen auf drei Fluoridierungen pro Jahr reduziert werden.
Zur Eingangs- und Abschlussuntersuchung wurde der DMFT-Index nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgenommen [9]. Es wurden keine Röntgenaufnahmen angefertigt.
Der Mittelwert des Alters lag zur Eingangsuntersuchung in der Testgruppe bei 6,91 Jahren und bei der Abschlussuntersuchung bei 10,56 Jahren. In der Kontrollgruppe lagen die entsprechenden Werte bei 7,24 und 10,65. Bei der Eingangsuntersuchung bestand zwischen dem Alter der Test- und der Kontrollgruppe ein statistisch signifikanter Altersunterschied von 0,33 Jahren (p<0,001; Mann-Whitney-U-Test). Die Beobachtungsdauer der Test- und Kontrollgruppe war geringfügig, jedoch statistisch signifikant unterschiedlich (p<0,001; Test nach Kruskal-Wallis und Mann-Whitney-UTest). Sie lag in der Testgruppe bei 3,64 und in der Kontrollgruppe bei 3,42 Jahren. Dieser Unterschied dürfte allenfalls zu einer Unterschätzung des Effektes des Präventionsprogrammes geführt haben.
Die Abbildung 4 zeigt die Mittelwerte des DMFT für die Eingangs- und Abschlussuntersuchung sowie für den Karieszuwachs (Inkrement). Zwischen den beiden Gruppen bestand für die Eingangs- und Abschlussuntersuchung kein statistisch signifikanter Unterschied (Test nach Kruskal-Wallis), allerdings wurde ein statistisch signifikanter Unterschied für den Karieszuwachs gefunden, der in der Testgruppe um 37 Prozent geringer als in der Kontrollgruppe war (Test nach Kruskal-Wallis und Mann-Whitney-U-Test, p<0,05).
Schlussfolgerungen
Aus der Vierjahresstudie kann der Schluss gezogen werden, dass die regelmäßige Applikation des Fluoridlackes Duraphat im Rahmen der Gruppenprophylaxe eine effektive Maßnahme zur Hemmung der Karies bei Kindern mit hohem Kariesrisiko darstellt. Eine mindestens zweimal jährliche Anwendung scheint jedoch erforderlich zu sein. Die Fluoridanwendung kostet pro Jahr und Kind inklusive Personalkosten etwa 8 Euro. Sie kann deshalb nicht nur als effektive, sondern auch als effiziente Maßnahme betrachtet werden.
4.3. Erreichbarkeit der Zielgruppe in Abhängigkeit von der Betreuungsstrategie
In Kapitel 4.1 und 4.2 wurden zwei Untersuchungen vorgestellt, die von zwei grundsätzlich unterschiedlichen Ansätzen ausgehen. Die eine (4.1.) fußt auf der Identifizierung von Kindern mit hohem Kariesrisiko im Rahmen der zahnärztlichen Reihenuntersuchungen und anschließender Überweisung an niedergelassene Zahnärzte. Die andere (4.2) basiert auf einem sogenannten aufsuchenden Ansatz, das heißt, die Risikokinder werden vor Ort, also in den Schulen, in denen sie auch identifiziert wurden, betreut. Beide Herangehensweisen haben sich in Deutschland etabliert und tragen unterschiedlichen strukturellen Gegebenheiten Rechnung. In Gegenden, in denen der Öffentliche Gesundheitsdienst und die Landesarbeitsgemeinschaften zur Verhütung von Zahnkrankheiten personell schlecht ausgestattet sind, wird in aller Regel das System der Überweisung an niedergelassene Zahnärzte favorisiert.
Ob die Kariesrisikokinder aufsuchend oder im Wege der Überweisung betreut werden, hat darüber hinausgehend auch unmittelbare Konsequenzen für die Art der Betreuung. In den vorgestellten Forschungsprojekten wurde daher versucht, jeweils typische Programme für beide Herangehensweisen zu Grunde zu legen. Interessanterweise zeigte sich, dass das aufwändigere Programm (4.1) nicht unbedingt das effektivere ist. Effizienter, das heißt, effektiver unter Kosten-Nutzen-Aspekten, kann es schon auf Grund der teuren Struktur, die bei Betreuung in der zahnärztlichen Praxis genutzt wird, kaum sein. Ein Aspekt wurde im Rahmen der vorgestellten Untersuchungen bislang allerdings noch nicht angesprochen, nämlich wie gut sich die Zielgruppen in der Realität mit den beiden Ansätzen erreichen lassen. Zwar lag die Drop-out-Rate für die Probanden in der Studie mit individualisierter Herangehensweise bei 27,6 Prozent in zwei Jahren und in der Studie mit aufsuchender Betreuung (bezogen auf mindestens zwei Fluoridapplikationen/Jahr) bei 37 Prozent in vier Jahren, aber diese Zahlen geben keine wirkliche Auskunft darüber, in welchem Umfang die Zielgruppe mit den unterschiedlichen Ansätzen erreicht werden konnte („Reichweite“). In der Studie zur individualisierten Betreuung wurden die Probanden nämlich von der Prophylaxeassistentin telefonisch immer an den bevorstehenden Termin erinnert, und wenn sie trotzdem nicht wie vereinbart erschienen, wurde erneut angerufen und ein neuer Termin vereinbart. Dieses Vorgehen musste oft mehrfach wiederholt werden und führte selbst dann, wie die Drop-out-Rate zeigt, nicht immer zum Erfolg. Im Rahmen der aufsuchenden Betreuung ist es nicht möglich, diesen Aufwand für eine Terminvereinbarung zu treffen. Allerdings ist der genannte Drop-out von 37 Prozent (39 von 106) auch differenziert zu betrachten. Er beschreibt nämlich keinen „Totalverlust“ von Probanden sondern nur die Tatsache, dass 37 Prozent der Kinder nicht die gewünschte Anzahl an Fluoridierungsmaßnahmen erhielten. Dies war zum Teil darauf zurückzuführen, dass einige Kinder der Fluoridierung absichtlich fernblieben. Dieses Problem lässt sich zum Beispiel durch Erhöhung der Angebotsfrequenz und Verzicht auf Ankündigung der Fluoridierungsmaßnahme lösen. Weitere Gründe waren Umzug (es handelte sich zum Teil um Asylantenkinder) sowie Wiederholung der Klassenstufe. Beides führt bei einer flächendeckenden Umsetzung des Konzeptes nicht zu einem Herausfallen aus der prophylaktischen Betreuung.
Im Folgenden soll untersucht werden, wie gut Kinder mit hohem Kariesrisiko unter alltäglichen Bedingungen durch die beiden unterschiedlichen Konzepte erreicht werden können.
4.3.1. Überweisung von Kariesrisiko-Kindern an niedergelassene Zahnärzte
Ein Modellprojekt für Kindergartenkinder mit intensivprophylaktischer Betreuung in Zahnarztpraxen wurde 1994 in Berlin etabliert. Die Kariesrisikokinder wurden im Rahmen zahnärztlicher Reihenuntersuchungen in den Kindergärten identifiziert und an niedergelassene Zahnärzte überwiesen, die sich zuvor im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung zur Teilnahme an dem Projekt bereit erklärt hatten.
Nach vier Sitzungen intensivprophylaktischer Betreuung mit professioneller Zahnreinigung und Fluoridierung, die innerhalb eines Jahres ohne große zeitliche Abweichungen stattfinden sollten, war ein Zyklus abgeschlossen. Das bedeutet, dass die zweite Sitzung maximal vier Monate, die dritte maximal sieben Monate und die vierte maximal zehn Monate nach der ersten stattzufinden hatte. Unter dieser Maßgabe wurde analysiert, inwieweit die Zielgruppe der Kariesrisikokinder von diesem Programm erreicht werden konnte. Nach den Ergebnissen der für das Einzugsgebiet maßgebenden zahnärztlichen Reihenuntersuchungen müssen von knapp 54 000 untersuchten Kindern zwischen zwei und sechs Jahren etwa 12 000 als Kariesrisikokinder betrachtet werden [10]. In dem Fünfjahreszeitraum von 1994 bis 1999 wurden insgesamt 2 111 Kinder im Rahmen dieses Programms mindestens einmal betreut. Das sind knapp 18 Prozent der Kinder, die zu Beginn des Projektes als Risikokinder zu gelten hatten. Wenn man berücksichtigt, dass die 12 000 Kinder der Risikogruppe während der fünfjährigen Laufzeit der betrachteten Altersgruppe (zwei bis sechs Jahre) vollständig entwachsen und durch neue ersetzt werden, muss man etwa von der doppelten Anzahl Kariesrisikokinder ausgehen. Dadurch reduziert sich der Anteil der mindestens einmal betreuten Kinder auf weniger als zehn Prozent. Selbst diese zehn Prozent durchliefen den Prophylaxezyklus, der auf vier Sitzungen pro Jahr angelegt war, nur teilweise (Tabelle 1).
Das Modell musste also wegen der schlechten „Reichweite“ als gescheitert betrachtet werden und wurde inzwischen eingestellt. Seine Schwäche lag in dem Überweisungssystem. Die besonders geringe Inanspruchnahme medizinischer Leistungen durch Menschen mit niedrigem Sozialstatus ist bekannt [11]. In dem dargestellten Modellprojekt manifestierte sich dies in der Tatsache, dass die Kariesrisikokinder zwar über ihre Eltern zum Besuch einer Intensivprophylaxe aufgefordert wurden, dem aber nicht nachkamen. Dies ist offenbar keine Frage der grundsätzlichen Zustimmung der Eltern zu einer Intensivprophylaxe.
4.3.2. Betreuung von Kariesrisiko-Kindern vor Ort
In dem in Kapitel 4.2 beschriebenen Modell haben etwa 80 Prozent der Eltern einer Teilnahme ihres Kindes an dem Programm zugestimmt. Von den 106 Kindern, die über vier Jahre an dem Projekt teilgenommen haben, haben 67 mindestens zwei Fluorid-Applikationen pro Jahr erhalten. Das bedeutet, dass immerhin 50,4 Prozent aller Risikokinder im gewünschten Umfang erreicht worden sind (63 Prozent der 80 Prozent, die eine Zustimmung erteilt haben: Angefragt wurden alle Risikokinder). Außerdem ist es in diesem Konzept relativ einfach, noch mehr Angehörige der Zielgruppe zu erreichen, wenn zum Beispiel die Frequenz der angebotenen Lacktouchierungen erhöht wird. Darüber hinaus können bei größer angelegten Projekten, bei denen sich die Fluoridierungsmaßnahmen in einer Schule über mehrere Tage erstrecken, die Kinder, die an einem Tag gefehlt haben, an einem anderen Tag zusammen mit einer anderen Klasse betreut werden. Dies wird zum Beispiel in dem Projekt, über das in Kapitel 4.4 berichtet wird, so gehandhabt.
Schlussfolgerungen
In der Konsequenz ist zu sagen, dass Programme zur Kariesprophylaxe bei Risikokindern vorzugsweise aufsuchend angelegt werden sollten. Nur durch die gruppenweise Betreuung in Schulen und Kindergärten kann gewährleistet werden, dass fast alle Kinder mit hohem Kariesrisiko erreicht werden.
4.4. Übertragbarkeit des Konzeptes zur aufsuchenden Betreuung von Kariesrisikokindern auf große Populationen
Seit 1990 existiert ein Gruppenprophylaxeprogramm für ganz Berlin [10]. Dieses auf gesetzlichen Regelungen basierende Programm beinhaltet neben regelmäßigen Reihenuntersuchungen sowohl Zahnputztraining als auch Mundgesundheitserziehung für alle Kinder vom Kindergartenalter bis zum Ende der Grundschulzeit. Die Grundschule umfasst sowohl Vorklassen als auch die Klassenstufen 1 bis 6. Verglichen mit dem Berliner Durchschnitt zeigten die Kinder des Bezirks Neukölln ein höheres Kariesniveau und sind daher als Population mit erhöhtem Kariesrisiko zu betrachten. Daher wurde es als notwendig erachtet, für sie ein Spezialprogramm im Rahmen der Gruppenprophylaxe in Schulen zu schaffen. Neukölln hat fast 314 000 Einwohner. Davon sind 21 Prozent Migranten und 13,5 Prozent beziehen Sozialhilfe. Da die günstigen Effekte der Fluoridanwendung auf Zahnoberflächen gut dokumentiert sind (siehe Kap. 4.2) fiel die Entscheidung, das bestehende Programm durch die Anwendung des Fluoridlackes Duraphat mit einer Konzentration von 22 600 ppm Fluorid als Natriumfluorid zu erweitern. Die zweimal jährliche Applikation von Fluoridlack sollte allen Kindern als Ergänzung zur bereits bestehenden Gruppenprophylaxe angeboten werden.
Seit 1990 unterzogen sich alle Kinder der Grund- und Sonderschulen jährlichen Reihenuntersuchungen. Zusätzlich erhielten die Kinder drei- bis viermal jährlich Mundgesundheitsunterricht, Zahnputztraining sowie Ernährungshinweise. Im Schuljahr 1996/97 wurde das Präventionsprogramm durch die Applikation von Fluoridlack erweitert. Das Projekt startete im ersten Schritt sowohl mit den Vorklassen als auch mit den Klassen 1 bis 3 der Grund- und Sonderschulen. Im Herbst 1997 wurde das Projekt auf die Klassen 4 bis 6 ausgedehnt. Alle 49 Grund- und Sonderschulen mit insgesamt 18 600 Kindern nahmen teil. Zum Trockenhalten wurden mit Zellstoff umwickelte Holzspatel verwendet. Einweg-Karpulen mit stumpfen Nadeln dienten der Applikation des Lacks. Dieser wurde stets nach den Prophylaxe-Instruktionen und dem Zahnputztraining aufgetragen. Der Zeitbedarf für das komplette Programm betrug eine Stunde.
Jährlich wurde der DMFT durch vier kalibrierte Zahnärzte erhoben. Die Basis-Untersuchungen wurden im Schuljahr 1995/96 und die Abschluss-Untersuchungen im Schuljahr 1999/2000 durchgeführt. Drei zusätzliche jährliche Untersuchungen fanden zwischen Basis- und Abschluss-Untersuchung statt.
Während des Vierjahresintervalls wurden 80 589 Untersuchungen durchgeführt (1995/96: n=7 748; 1996/97: n=15 673; 1997/98: n=19 362; 1998/99: n=19 822; 1999/2000: n=17 984). Die Akzeptanz des Fluoridprogramms, gemessen an der Zahl der elterlichen Einverständniserklärungen, betrug 80 Prozent. Der Mittelwert betrug im Stadtteil mit der höchsten Kariesprävalenz 90 Prozent, während die Akzeptanz im übrigen Bezirk zwischen 65 und 70 Prozent schwankte. Einen Überblick über die DMFT-Werte aller Altersgruppen, die an dem Projekt teilnahmen, gibt Abbildung 5. Die größte Verbesserung erkennt man im Schuljahr 1999/2000. Der DMFT der Zwölfjährigen nahm kontinuierlich von 2,77 auf 1,64 ab. Die gesamte Karieshemmung betrug 40,7 Prozent. Die Abnahme des DMFT der Neunjährigen lag bei 42,0 Prozent (von 1,09 im Schuljahr 1995/96 auf 0,63 im Schuljahr 1999/2000).
Der Prozentsatz an Zwölfjährigen mit DMFT=0 (=primär kariesfrei) stieg im Untersuchungszeitraum von 23 Prozent auf 46,0 Prozent an. Darüber hinaus wurde eine Abnahme des Anteils von Kindern mit erhöhter Kariesprävalenz gefunden, wie in der Altersgruppe der Zwölfjährigen (DMFT>3) von 38,98 Prozent auf 18,34 Prozent (Tabelle 2).
Schlussfolgerungen
In der vorliegenden Untersuchung bewirkte die durch Fluoridlackapplikationen erweiterte gesundheitserzieherische Gruppenprophylaxe eine Karieshemmung von 40,7 Prozent bei den Zwölfjährigen und von 42 Prozent bei den Neunjährigen. Die leicht besseren Resultate der Neunjährigen erklären sich wahrscheinlich dadurch, dass sie bereits mit Beginn der Entwicklung des permanenten Gebisses die Fluorid-Anwendung nutzen konnten, wohingegen die Zwölfjährigen ja bereits acht Jahre alt waren, als das Programm startete.
4.5. Resümee
Die in Kapitel 2 formulierten Zielstellungen der vorliegenden Untersuchungen wurden wie folgt erreicht:
1.Die Ermittlung von Kariesrisikokindern ist mithilfe von Initiälläsionen möglich, welche wegen ihrer Remineralisierbarkeit als nondestruktive Parameter zu betrachten sind. In der praktischen Umsetzung ist der „Kariesrisikoschieber“ ein Hilfsmittel, das die Bestimmung von Kariesrisikokindern schnell, kostengünstig und mit hoher Validität erlaubt.
2.Die mindestens zweimal jährliche Applikation des Fluoridlackes Duraphat stellt im Rahmen der Gruppenprophylaxe eine effektive Maßnahme zur Hemmung der Karies bei Kindern mit hohem Kariesrisiko dar. Die Fluoridanwendung kostet pro Jahr und Kind inklusive Personalkosten etwa 8 Euro und kann deshalb nicht nur als effektive, sondern auch als effiziente Maßnahme betrachtet werden.
3.Ein Kariesprophylaxe-Programm, das aufsuchend, also in Schulen und Kindergärten, stattfindet, kann die Gruppe der Kinder mit hohem Kariesrisiko fast vollständig erreichen. Dies ist mit einem Programm, das auf Überweisungen an niedergelassene Zahnärzte basiert, nicht möglich, weil ein Großteil der Kinder den Zahnarzt nicht erreicht beziehungsweise das dort angebotene Programm nicht vollständig wahrnimmt.
4.Das Konzept der zweimal jährlichen Applikation des Fluoridlackes Duraphat im Rahmen einer aufsuchenden Betreuung erwies sich in einer großen Population von 18 600 Kindern in 49 Grund- und Sonderschulen als realisierbar und effektiv.
Insgesamt kann aus den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchungen geschlossen werden, dass es sich bei dem beschriebenen Konzept um eine effiziente Public Health Methode für Sechs- bis Zwölfjährige mit hohem Kariesrisiko handelt.
Prof. Dr. Stefan ZimmerHeinrich-Heine-Universität DüsseldorfPoliklinik für Zahnerhaltung undPräventive ZahnheilkundeMoorenstr. 5, 40225 Düsseldorfzimmer@med.uni-duesseldorf.de108 Prophylaxezm 96,