Das Greifswalder Modell: Früher Patientenkontakt

Studenten besuchen Patienten zuhause

Heftarchiv Zahnmedizin
An der Universität Greifswald wird seit vier Jahren die Lehrveranstaltung „Der Frühe Patientenkontakt“ für den Studiengang der Zahnmedizin angeboten. Der vorliegende Beitrag beschreibt die Situation und das Procedere.

Es handelt sich hierbei um ein Lehrprojekt im Rahmen der Community Medicine/Dentistry. Community Medicine ist der Zweig der Medizin, der sich mit dem Gesundheitszustand der Bevölkerung beschäftigt [1]. Das bedeutet, dass nicht mehr der Einzelne, sondern die so genannte Community einer Region auf ihren Gesundheits- beziehungsweise Krankheitszustand untersucht wird. Community Medicine ist in angloamerikanischen Ländern sowie in Skandinavien weit verbreitet.

Ziel des frühen Kontakts

An der Medizinischen Fakultät Greifswald wird dieser Ansatz modellhaft für Deutschland entwickelt und erstmalig in Lehre und Forschung umgesetzt. Die grundlegende Zielstellung des „Frühen Patientenkontakts“ besteht darin, das Zahnmedizinstudium möglichst frühzeitig patientennah zu gestalten. In der klassischen zahnmedizinischen Ausbildung in Deutschland erfolgt der erste „echte“ Patientenkontakt mit Aufnahme der klinischen Tätigkeit im vierten Studienjahr. Die Integration von Patientenkontakten in den vorklinischen Studienabschnitt ist vorwiegend aus den Curricula des Medizinstudiums bekannt. Verschiedene Universitäten haben Unterrichtsmodelle entwickelt, in denen bereits in den ersten Semestern Patientenkontakte stattfinden [2, 3.] Aus dem zahnmedizinischen Bereich hingegen sind kaum entsprechende Konzepte bekannt. Die Lehrveranstaltung soll zum einen den Studierenden den Einstieg in die spätere Patientenbehandlung erleichtern und zum anderen eine Erhöhung der Motivation im vorwiegend technisch-propädeutisch orientierten vorklinischen Studienabschnitt bewirken.

Umsetzung des Modells

Die Lehrveranstaltung erstreckt sich modular über die ersten vier Semester des vorklinischen Studienabschnittes. Sie ist als Einführung in die Bedeutung der ganzheitlichen Perspektive medizinischen Handelns strukturiert. In Anlehnung an die Notwendigkeit der Implementierung medizinischer Aspekte in den Studiengang der Zahnmedizin wird den Studierenden propädeutisch die wechselseitige Beziehung zwischen Entstehung und Verlauf von Krankheit sowie gesellschaftlichen und individuellen Faktoren vermittelt. Die Studierenden sollen ein Verständnis für die Zusammenhänge zwischen dem Gesundheits- und Krankheitszustand des Einzelnen und der Allgemeinheit entwickeln. Die methodischen Techniken bei der Beschreibung und Analyse von Krankheit werden dargestellt. Die Struktur und soziale Schichtung der Bevölkerung, sowie die demographischen Abläufe in ihren Grundlagen werden vermittelt. Am Beispiel bevölkerungsrelevanter Erkrankungen erarbeiten sich die Studierenden die kulturellen, ökonomischen und psychosoziologischen Faktoren von Gesundheit und Krankheit besonders im regionalen, aber auch nationalen und internationalen Kontext. Die Studierenden lernen die Strukturen der Gesundheitsversorgung für bevölkerungsrelevante Erkrankungsbilder kennen und sollen die Vernetzung der Komponenten gesundheitlicher Versorgung verstehen. Das theoretisch Erlernte wird in Form eines „Besuchsprogramms“ direkt am Patienten umgesetzt und angewendet. Dazu suchen die Studierenden „echte“ Patienten in ihrer häuslichen Umgebung auf und besuchen diese über einen Zeitraum von einem Jahr in regelmäßigen Abständen. Für jeden Patienten wird ein Oralstatus erhoben, auf dessen Grundlage die Studierenden einen individuellen Mundhygieneplan erstellen. Die Mundhygienemaßnahmen werden mit den Patienten geübt. Zum Abschluss werden die gewonnenen Erfahrungen in einer Krankengeschichte dokumentiert.

Zur Vorbereitung und Begleitung der Patientenkontakte nehmen alle Studierenden am Kurs „Medizinische Psychologie – Einführung in die ärztliche Gesprächsführung“ teil. Dieser Kurs soll Kenntnisse über unterschiedliche Ausdrucksformen der Krankheitsbewältigung sowie über den Einfluss der Arzt-Patienten-Beziehung auf Krankheitsverhalten und -erleben vermitteln. Weiteres Ziel des Seminars ist die Förderung und Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten, die für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient von Bedeutung sind [4-6]. Somit wird frühzeitig der Umgang mit dem Patienten im ärztlichen Anamnesegespräch trainiert.

Zweiteiliges Hospitationsprogramm

Zusätzlich beinhaltet die Lehrveranstaltung ein zweiteiliges Hospitationsprogramm.

In diesem Kontext hospitieren die Studierenden in lokalen zahnärztlichen Praxen und örtlichen Schulen sowie Kindergärten und führen dort Maßnahmen zur Gruppenprophylaxe durch. Dadurch wird der Einblick in den „normalen“ Praxisalltag aus verschiedenen Perspektiven ermöglicht, und gleichzeitig werden präventive Maßnahmen praktisch umgesetzt. Begleitend zu den Patientenbesuchen erfolgt die Aufarbeitung des erlangten Wissens nach dem Prinzip des „Problemorientierten Lernens“. [7] Damit soll den Studierenden ein neues didaktisches Lernkonzept vorgestellt und dessen Anwendungsgrundlagen geübt werden [8-12].

In zusätzlichen Vorlesungen werden aktuelle Fragestellungen aufgegriffen. Auch erhalten die Studierenden im Verlauf der zweijährigen Lehrveranstaltung eine Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten, insbesondere zur Literaturrecherche, um ihnen bereits frühzeitig Informationsquellen außerhalb der klassischen Lehre (Vorlesungen, Lehrbücher) zu erschließen.

Begleitender Evaluationsbogen

Die Lehrveranstaltung wird jeweils zu Beginn und zum Abschluss mittels eines speziellen Evaluationsbogens von den Studierenden ausgewertet. Die Zielrichtung der Evaluationsmaßnahme ist praxisorientiert, das heißt die Bewertung des Projekts als solches steht im Vordergrund. Die Ergebnisse dieser Evaluationen ermutigen dazu, den persönlichen Kontakt zwischen Studierenden und Patienten in der vorklinischen Ausbildung beizubehalten und weiter auszubauen. Die Studierenden halten es für wichtig, bereits frühzeitig reale „Patientenwirklichkeiten“ kennen zu lernen. Im Folgenden sind einige Zitate aus den Abschlussarbeiten genannt:

„Der „Frühe Patientenkontakt“ ist ein gutes Projekt, welches eventuelle Berührungsängste schon in der Anfangsphase des Studiums verringert“, „Uns hat es sehr gut gefallen, bereits im ersten Studienjahr direkt mit dem Patienten konfrontiert zu sein.“ „Durch die Patientenbesuche konnten wir das in den Vorlesungen und Seminaren zum „Frühen Patientenkontakt“ Erlernte (Psychologie, Gesprächsführung, Krankheitsbilder) anwenden und Berührungsängste im Umgang mit dem Patienten abbauen.“

Motivationsschub für das Studium

Es ist von verschiedenen Seiten immer wieder angezweifelt worden, ob es gerade dem Zahnmediziner, dessen Studium sehr dicht mit Praktika und Kursen belegt ist, gelingt, psychosoziale und biologisch-medizinische Aspekte zusätzlich zu implementieren, ohne dass die Qualität des Studiums leidet. Unser Eindruck ist, dass gerade die medizinische Ausrichtung des „Frühen Patientenkontakts“ in den ersten vier Semestern ein wichtiges Gegengewicht zu den dentaltechnologisch und werkstoffkundlich ausgerichteten Praktika sein kann und dass der Studierende viel besser motiviert ist, weil er frühzeitig verstehen lernt, wem die Zahnmedizin mit den technologischen Möglichkeiten dient. Entscheidender Bestandteil des „Frühen Patientenkontakts“ ist die interdisziplinäre Vernetzung mit medizinischen Fächern; hier insbesondere mit dem Fach der Medizinischen Psychologie. Erst hierdurch wird diese bislang ungewöhnliche Ausbildungseinheit mit dem notwendigen Background und Fundament untersetzt, die über die rein oralmedizinischen Gesichtspunkte hinausgehend, allgemeine Erkrankungen und die sozialpsychologische Dimension begreifbar machen. Die Ergebnisse zeigen, dass es gelungen ist, medizinische Aspekte vermehrt zu integrieren.

Nach den Erfahrungen, die bislang in Greifswald über vier Jahre gemacht wurden, hat sich dieses Verfahren im Studium der Zahnmedizin bewährt. Es wird eine bessere Motivation der Studierenden erreicht, weil sie frühzeitig den Bezug zum Patienten erhalten.

Diesen Trend bestätigt auch eine erste retrospektive Evaluation aus den klinischen Semestern. Die wesentliche Fragestellung dieser Evaluation bezog sich darauf, ob sich die Studierenden durch die Teilnahme am „Frühen Patientenkontakt“ besser auf die Patientenkontakte im klinischen Studienabschnitt vorbereitet fühlten.

Dr. Anja RatzmannPoliklinik für KieferorthopädieAbteilung für Zahnmedizinische Propädeutik /Community DentistryErnst-Moritz-Arndt-Universität GreifswaldRotgerberstraße 8, 17487 Greifswaldanja.ratzmann@unigreifswald.de

Prof. Dr. Bernd KordaßAbteilung für Zahnmedizinische Propädeutik /Community DentistryErnst-Moritz-Arndt-Universität GreifswaldRotgerberstraße 8, 17487 Greifswald

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