Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
dreißig Jahre lang blieb es streng gehütetes Geheimnis: Die im November 1970 in Weimar durchgeführte Besichtigung, Ausbettung, Mazeration und Wiedereinbettung der sterblichen Überreste Johann Wolfgang von Goethes wurden – wohl aus Respekt vor dem Leumund eines der größten Deutschen – der Öffentlichkeit vorenthalten.
Der zu DDR-Zeiten gefasste Entschluss der Stiftung „Weimarer Klassik“, die vor Ort gemachten Bilder nicht zu publizieren, verwundert aus heutiger Sicht. Von Goethes Zahnstatus, der auf lebenslang starke Zahnschmerzen und Folgeschäden schließen lässt, bietet Bestätigung für so manche Spekulation der einschlägigen Biografen dieses Genius.
Der Zahnarzt und Historiker Dr. Werner Neuhauser wurde jetzt autorisiert, die 1970 in der Weimarer Fürstengruft gemachten Fotos zu veröffentlichen. Das Ergebnis sehen sie – exklusiv für die Zahnärztlichen Mitteilungen – in der Titelgeschichte dieser Ausgabe.
Wer sich mit Dichtern und Wahrheit, ob aus Profession oder Interesse, befasst hat, weiß um die schon zu Lebzeiten der Klassiker widersprüchlichen Aussagen ihrer Zeitgenossen. Bewunderer wie Kritiker kamen zu durchaus divergierenden Urteilen über die äußere Erscheinung des älteren von Goethe. Ob es die Tagesform des Dichterfürsten oder tatsächlich das unterschiedliche Maß an Verblendung war, dem auch die Mitmenschen von Goethes unterlagen, sei dahin gestellt. Sicher ist, so der Schluss des Autoren Dr. Neuhauser, dass Goethe wegen der Folgeschäden seiner Zahnerkrankungen im Alltag massiv zu leiden hatte.
Der Versuch damaliger Zeitgenossen, eine derartig psychisch-physikalische „Passform“ für die Nachwelt zu schaffen, ist für prominente Persönlichkeiten im heutigen, multimedial ausgestalteten Informationszeitalter wohl kaum noch realistisch. Aber auch die Überlieferungen und damaligen Betrachtungen zum Genie von Goethe boten genügend Anzeichen dafür, dass nicht die überlieferten Gemälde mit dem Konterfei des Dichters der Wahrheit letzter Schluss waren.
Von Goethes Selbsteinschätzung, er habe „vom Vater die Statur, ..., vom Mütterchen die Frohnatur ...“, erscheint uns aus heutiger Sicht und durch die von Dr. Neuhauser präsentierten Beweise jedenfalls in einem ganz anderen Licht. Von Goethes späte Leidenschaft für die 19-jährige Ulrike von Levetzow, der er neun Jahre vor seinem Tod als Rekonvaleszent einer Herzbeutelentzündung in Marienbad einen Heiratsantrag gemacht hatte (sie gab ihm einen Korb), lässt aus heutiger Sicht unter Kenntnis des Krankheitsbildes des alten von Goethe jedenfalls immer weniger Raum für Fantasien oder Spekulationen.
Wahrscheinlich ist, dass die Beweise, die Dr. Neuhauser erstmals publiziert, manche Aspekte um die Forschung über einen der größten deutschen Dichter hinterfragbar machen. Und die zm freuen sich, für dieses ihr sonst weitgehend artfremde Feld einmal einen kleinen Beitrag leisten zu können.
Mit freundlichem Gruß
Egbert Maibach-Nagelzm-Chefredakteur