Gastkommentar

Gegen den Sachverstand

In der großen Koalition gerät Gesundheitspolitik zum Schauplatz politischer Machtkämpfe. Die Bürger sind frustriert und quittieren mit Abstrafung in den Landtagswahlen. Politische Einsicht bringt das trotzdem nicht. Weiterhin berät ausschließlich ein Kreis auserwählter Koalitionäre

Thomas Grünert
Chefredakteur Vincentz
Network Berlin

Deutschland im Sommer 2006. Das ist ein Land, in dem er brodelt, in dem den Bürgern das, was ihnen als Reformen verkauft wird, bis zum Halse steht. Ein Land, das, wie die jüngsten Landtagswahlen zeigen, der Politik seine Quittung für Unfähigkeit und völlig verkannten Umgang mit demokratischer Legitimation geben wird. Es ist aber auch ein Land, in dem es Furcht erregend still ist, das Parlament weitgehend lethargisch schweigt und die Planung der größten Umstrukturierung des Gesundheitswesens seiner Geschichte wenigen Köpfen überlässt, die im Elfenbeinturm Kanzleramt an den Schrauben eines hochsensiblen Instruments drehen, das sie nachweislich nicht beherrschen.

78 Prozent der Bürger – so eine aktuelle Forsa-Umfrage – fordern mittlerweile, dass das „Politbüro“ der Koalition die Hände von Dingen lässt, die man nicht händeln kann. Wie tief die Frustration in Sachen Gesundheitsreform ist, belegen bisher kaum vorstellbare Allianzen. Wenn beispielsweise der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) gemeinsam gegen das Reformprojekt zu Felde ziehen, sollte dies zu denken geben.

Und was ist passiert? Nichts! Das sogenannte „Wettbewerbsförderungsgesetz“ – schon der Name ist blanker Hohn – soll zwar drei Monate später in Kraft treten. Die Entscheidungsabläufe sind jedoch weiterhin so knapp, dass an eine ernst zu nehmende Beteiligung sachverständiger Akteure des Gesundheitssystems kaum zu denken ist. Zugegeben: Die Monate gezielter Informations-Verhinderungspolitik in Kanzleramt und Gesundheitsministerium brachten zumindest in der Technik, Unterlagen zu verschleiern, die Weitergabe durch Aufblähen von Dateigrößen zu erschweren oder durch Codierung doch noch vorhandene Informationskanäle auszuloten, ministeriellen Staatsdienern gewisse handwerkliche Erfahrungen. In der Sache kämpft man aber munter weiter gegen den Sachverstand fast aller Akteure des bisher selbstverwalteten Systems.

Die Zielrichtung wird indes immer klarer. Aus einem System der Selbstverwaltung, der Einbeziehung freiberuflicher Tätigkeit, des marktorientierten Wettbewerbs möchte die Koalition ein Einheitssystem auf kleinstem gemeinsamen Nenner machen. Der Weg dahin: zerschlagen der Lobbystrukturen der Kassen, Verbände, Institutionen und am liebsten auch der Gesundheitsindustrie. Staatliches Diktat der Beitragssätze und durch Dominierung eines hauptamtlichen Bundesausschusses am Ende auch staatliches Diktat der angebotenen Leistungen. Der Bürger bekommt die Gesundheitsleistungen, die der Staat sich leisten kann. Kommt einem irgendwie bekannt vor. Besonders bei Frau Merkel müssten hier eigentlich Jugenderinnerungen wach werden.

Unweigerlich fragt man sich: Warum das Ganze? Dazu einige Thesen. Erstens: Das Management der Gesundheitspolitik und -wirtschaft wird zu einem entscheidenden politischen Machtfaktor. Die Richtungskompetenz in der Gesundheitspolitik ist entscheidend mit der Frage der Gestaltung des Sozialstaats verbunden. Jede der Parteien will und muss zur Machtlegitimation in diesem Gebiet ihre Positionen umsetzen können. Jeder will die Steuerhebel des Systems kontrollieren, um ab der nächsten Wahl seine Vorstellungen klarer umsetzen zu können.

Zweitens: Die Politik vertraut nicht den Mechanismen des Marktes. Wohl wissend, dass dieser sich aufgrund EU-Angleichung auf Dauer sowieso verselbständigen wird, versucht man so lange wie möglich, das Ruder durch nationale Regulierung zu halten. Wettbewerb steht drauf, ist aber nicht drin. Man schimpft auf Zwei-Klassen- Medizin, obwohl die längst Realität ist und traut sich nicht, die Basis für die solidarische Grundversorgung zu definieren.

Drittens: Den meistens Politikern fehlt einfach die Kompetenz, das Gebilde Gesundheitswesen von Grund auf zu reformieren. Man wird weiter an Symptomen herumkurieren, Finanzierungslücken notdürftig schließen, um bald wieder von vorne anzufangen. Auf die Idee, mündigen Bürgern mehr Verantwortung für die eigene Gesundheitsversorgung zu geben, kommt man nicht. Dabei wäre der Bürger durchaus bereit, mehr in seine Gesundheit zu investieren, wenn er Herr des Verfahrens bleibt. Das belegen alle Umfragen. Nur die Einsicht, die fällt den Politikern schwer.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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