Erst Wissen, dann Wollen
Klaus Heinemann
Freier Journalist
Die Siegerpose in Sektlaune von SPD-Frontfrau Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt war in gleicher Weise deplaziert wie der Glückwunsch der Kanzlerin; die Tatsache, dass „nur“ knapp über 50 Koalitionsabgeordnete gegen die Gesundheitsreform gestimmt haben oder sich der Stimme enthielten, spiegelt bei weitem nicht die reale Befindlichkeit der MdB. Hätten jene die Große Koalition stützenden Parlamentarier frei von Weisungen entscheiden können, also nur ihrem Gewissen unterworfen, wie es die Verfassung vorschreibt, so wäre keine Mehrheit zustande gekommen. Doch die überwiegend bedingungslose Kettung der beruflichen Existenz an die Partei und ihr Wohlwollen verhindern zunehmend eben jene freien Entscheidungen. Das wiederum führt zu einer schleichenden Entparlamentarisierung. Wie kommt eigentlich ein Bundestagsabgeordneter mit seinem Gewissen zurecht, wenn er zwar öffentlich einräumt, starke Bedenken gegen den Gesetzentwurf zu haben, ihm aber dennoch zustimmen will? Umso größer die Hochachtung vor dem Mut jener halben Hundertschaft.
Gesetzgebung, so schreibt der Verfassungsrechtler Paul Kirchhoff der Politischen Klasse ins Stammbuch, ist zunächst Wissen und erst dann Wollen. Also: Wussten die Handelnden um das, was sie wollten? Wohl kaum. Das Machwerk ist rechtlich unhaltbar, stellen die Eingriffe in die PKV letztlich doch eine verfassungswidrige Enteignung dar. Es ist zudem nahezu unverständlich, muss zur Kategorie jener Gesetze gezählt werden, die immer unleserlicher werden, folglich zur Entdemokratisierung beitragen. Auf diese Weise führt die Politik einen Zustand herbei, in dem die demokratische Gesellschaft von immer stärkeren Zweifeln befallen wird, ob die politischen Entscheidungen noch dem Gemeinwohl verpflichtet sind, oder letztlich doch nur ideologischen Vorgaben folgen.
Politik à la Berlin bedeutet heute nur noch das Wollen. Dabei kommt das Bemühen um das Wissen beziehungsweise den Wissenstransfer in konkrete Gesetzgebung zunehmend zu kurz. So ist zum Beispiel seit vielen Jahren das, was als demografische Zeitbombe bezeichnet wird, hinlänglich bekannt. Die auf dem ominösen Generationenvertrag ruhenden Sozialsysteme stehen vor dem Zusammenbruch, da in Deutschland seit Beginn der 70er-Jahre zehn Millionen Kinder zu wenig geboren worden sind. Zugleich verzeichnen wir seit den 80er-Jahren eine Zuwanderung von inzwischen 15 Millionen Menschen. Allerdings eine Zuwanderung überwiegend in die Arbeitslosigkeit, während Jahr für Jahr rund 145 000 hoch qualifizierte junge Menschen – darunter jeder siebte promovierte Jungakademiker und jeder dritte Nachwuchsmediziner – das Land verlassen. Das Wissen um diese explosive Entwicklung, die sich durch die steigende Lebenserwartung breiter Jahrgänge dramatisch zuspitzt, ist weit verbreitet, eine adäquate Reaktion der Politik steht indes aus. Es jagt zwar eine sogenannte Reform die andere, aber weder Renten-, noch Kranken- oder Pflegeversicherung sind wirklich zukunftsfest gemacht worden. Im Gegenteil: Die politischen Reparaturvorhaben generieren lediglich höhere Belastungen für die Versicherten bei schrumpfenden Leistungen („kalte Enteignung“) und gleichzeitiger Verstaatlichung bisheriger freier Berufsausübung der Leistungserbringer sowie Entmachtung der Selbstverwaltungskörperschaften. Das bloße Wollen ist auf den nächsten Wahltermin fokussiert, den es möglichst unbeschadet zu erreichen gilt.
In seiner nach wie vor aktuellen Analyse über „Größe und Niedergang Roms“ ist Montesquieu bereits 1734 zu dem Schluss gekommen, dass der Zersetzungsprozess begann, als der Staat den Bürgern Transferleistungen ohne eigene Anstrengung versprach. Von da an war Fleiß verpönt, die Familie ein Auslaufmodell, folglich keine Erziehung, keine Persönlichkeitsentwicklung und letztlich keine Freiheit. Daraus gilt es zu lernen!
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